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Allgemeine Zeitung, Nr. 87, 30. März 1900.

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München, Freitag Allgemeine Zeitung 30. März 1900. Nr. 87.
[Spaltenumbruch]

aber zwischen den agrarischen und den industriellen Kreisen
können nur dazu beitragen, denen, die dem Auslande
gegenüber das Interesse der Gesammtheit des deutschen
Volkes unter Innehaltung einer wohlerwogenen Durch-
schnittslinie vertreten, ihre Aufgabe zu erschweren.

Sitzung des preußischen Abgeordnetenhaufes.

Auf der Tagesordnung steht die
Interpellation Baensch-Schmidtlein u. Genossen.
Kultusminister Studt erklärt sich zur sofortigen Beantwortung
bereit.

Abg. Baensch-Schmidtlein (freikons.) begründet seine
Interpellation und ersucht den Minister, noch in diesem Jahre
eine Vorlage einzubringen, die eine gerechte Vertheilung der
Schullasten herbeiführt.

Der Kultusminister verliest eine Erklärung, welche
darin gipfelt, daß die Regierung für diesen Zweck in den
nächsten Etat 10,000,000 M. einstellen werde. Um eine durch-
greifende gesetzgeberische Reform durchzuführen, müsse fest-
gestellt werden, was die Gemeinden überhaupt für öffentliche
Zwecke aufwenden. Abg. Dr. v. Heydebrand (kons.) er-
klärt eine Statistik für völlig überflüssig. An dem bisherigen
Charakter der Schule dürfe nichts geändert werden. Vor
allem darf nicht etwa eine Staatsschule daraus werden.

Abg. Seydel (nat.-lib.) bemerkt, eine Reform des Schul-
vorstandes müsse verlangt werden. Abg. Dr. Porsch (Centr.)
erkennt die Mißstände an und verlangt eine Berücksichtigung
der konfessionellen Minderheiten. Vor allem müsse festgelegt
werden, daß die Schule für alle Zeit einen konfessionellen
Charakter zu tragen habe. Abg. Graf v. Kanitz (kons.) führt
aus, die Schule sei eine Veraustaltung, aber nicht eine Ein-
richtung des Staates. Abg. Friedberg (nat.-lib.) erklärt,
es sei wunderbar, daß das Ministerium auf einen einmüthig
geäußerten Wunsch des Hauses so wenig Rücksicht nehme.
Die Abgg. Frhr. v. Zedlitz und Graf zu Limburg-
Stirum
sprechen den dringenden Wunsch aus, daß schon die
nächste Session eine Vorlage über die Schulunterhaltungs-
pflicht bringe. Ein allgemeines Schulgesetz brauche man jetzt
nicht. Der Kultusminister erklärt, auf jeden Fall sei eine
eingehende Statistik nothwendig. Den christlich-konfessionellen
Charakter werde die Volksschule wahren. Er freue sich, daß
in dieser Beziehung eine solche Einmüthigkeit zutage getreten
sei. Nach weiteren Bemerkungen der Abgg. Kopsch und
Rickert schließt die Besprechung. Es folgt die zweite
Berathung des Gesetzentwurfs betr. die Polizei-
verwaltung der Stadtkreise Charlottenburg,
Schöneberg und Rixdorf.
Abg. Dr. Arendt (freikonf.)
erinnert an die Aeußerung Bebels im Reichstage, daß die
Untersuchung über die Verstümmelung der Statuen in der
Siegesallee eingestellt worden sei, nachdem die Polizei er-
kannt habe, daß die Thäter den besitzenden Klassen angehören.
Minister v. Rheinbaben bezeichnet den Vorwurf Bebels
als unerhört. Es sei auch nicht der Schatten eines Beweises
dafür erbracht; mancherlei spreche sogar dagegen. Die Be-
schädigungen seien wahrscheinlich durch einen Hammer herbei-
geführt, also nicht im Uebermuth durch einen Stockschlag. Es
scheint also eine mit Vorbedacht vollführte That. -- Der
Gesetzentwurf wird darauf nach kurzer Erörterung au-
genommen. Nächste Sitzung
morgen, 11 Uhr. Tages-
ordnung: Kleinere Vorlagen, Petitionen. Schluß 3 Uhr.

Oesterreich-Ungarn.
Vom Wiener Gemeinderath.

* Die Wiener Gemeindeverhältnisse gestalten sich nach der
Inkraftsetzung des neuen Gemeindestatuts und der neuen
Wahlordnung recht unerquicklich. Der Gemeinderath ist
infolge des unwiderruflichen Austritts von 35 fortschritt-
lichen Mitgliedern
auf eine automatische Bewilligungs-
maschine der HH. Lueger, Strobach u. s. w. herabgesunken,
dabei ist kaum die zu einer gültigen Abstimmung erforderliche
Mitgliederzahl aufzutreiben. Mit zweifelhafter Rechtsbeständig-
keit wurde gestern gleich die schwebende Schuld im Be-
trage von 12,000,000 Kronen bewilligt. Vorgestern wurde
der Voranschlag für die zweite Hochquellenleitung für
Wien kurzerhand votirt, ein Unternehmen, das bis 100,000,000
Kronen und mehr zu verschlingen droht. Die Liberalen
arbeiten nun, in der Hoffnung, daß dadurch ein Wandel in
der üblen Situation geschafft werde, auf Neuwahlen hin
und die Regierung wird sich möglicherweise zur Auflösung
des jetzigen Gemeinderaths entschließen müssen.

[Spaltenumbruch]
Der Kohlenarbeiter-Strike.

* Die Beendigung des Strikes in den Kohlenbergwerken
wird, wie von vornherein nicht anders zu erwarten war,
hier und da noch durch mancherlei Zwischenfälle gestört. Die-
selben rühren insbesondere von Racheakten an Strike-
brechern
her; so hatte eine Attacke auf einen Strikebrecher
in Dux einen Konflikt der schon wieder in Arbeit befind-
lichen Häuer mit der Werkleitung zur Folge, der mit einem
neuen Ausstand der Häuer endigte. Es war die sonderbare
Forderung an die Werkleitung gestellt worden, sämmtlichen
Arbeitern zu kündigen, die während des allgemeinen Strikes
gearbeitet hatten. Die Bedrohung der Arbeitswilligen ist auch
in Kladno die Ursache der noch immer nicht günstigen
Situation; es sind hier noch etwa 68 Proz. der Arbeiter im
Ausstand. Zur Schicht kommende Bergleute wurden mit
Revolvern angefallen und an Arbeiterhäusern wurden Brand-
legungen ausgeführt. Doch wird nun wohl bald auch an
diesem Orte Ruhe und normaler Arbeitsbetrieb eintreten. Im
Mährisch-Ostrauer Revier, wo der Strike seinerzeit den
relativ größten Umfang angenommen hatte und am hart-
näckigsten durchgeführt wurde, ist derselbe jetzt fast vollständig
beigelegt. Es fehlten auf der Mittwoch-Frühschicht im West-
revier noch etwa 1100 Gruben- und 700 Tagarbeiter, im
Ostrevier Niemand; die längste Zeit aber strikten hier 25,000
Mann und mehr. Die Kohlenförderung soll jetzt sogar un-
gewöhnlich stark sein, da die Arbeiter sich alle Mühe geben,
die Lohnverluste einzubringen.

Deutsch-Radikale und Deutsch-Liberale in Tirol.

Eine dieser Tage von der
deutsch-radikalen Richtung Tirols ("Deutscher Wähler-
verein") ausgegangene Kundgebung, worin die dentsche Ge-
meinbürgschaft, besonders wegen ihres Verhaltens auf der
Verständigungskonferenz, aufs schärsste angegriffen wurde,
veranlaßte den "Deutsch-liberalen Verein" zu einer
Gegenkundgebung, um die Haltung der Gemeinbürgschaft zu
vertheidigen und zu rechtfertigen und die radikalen Insulten
zurückzuweisen. Reichstagsabgeordneter Dr. v. Grabmayr
(liberaler Großgrundbesitz) ging zwecks Begründung dieses
Abwehrmanifestes des Deutsch-liberalen Vereins in dessen
gestriger Generalversammlung ausführlich auf die allgemeine
politische Lage ein und lieferte dabei schätzenswerthe Beiträge
zur Beurtheilung der aktuellsten Fragen. Was unsern Ein-
tritt in die Verständigungskouferenz vor Festlegung der
deutschen Staatssprache anbetrifft, sagte Grabmayr, so
sehe auch ich es als eine Nothwendigkeit für Oesterreich an, daß es
eine Staatssprache habe, und zwar die deutsche. Aber ich bin
überzeugt, daß in dieser Form die Einführung der deutschen
Staatssprache unter den heutigen Verhältnissen nicht möglich ist.
In jenen Zeiten, wo die Deutschen eine Zweidrittelmajorität
im Reichsrath hatten, da wäre es an der Zeit gewesen, die
deutsche Staatssprache einzuführen. Daß die deutschen
Abgeordneten dies damals unterlassen haben,

ist der größte Vorwurf, den man ihnen machen
muß.
Was die große Verfassungspartei damals hatte machen
können, können wir heute -- nicht mehr machen. Unter
425 Abgeordneten sind 198 Deutsche und unter diesen leider
eine nicht geringe Zahl "Auchdeutsche", auf die wir nicht
rechnen können. Das Gesetz der Zahl müssen wir gelten
lassen. Wie wollen wir eine solche Forderung durchsetzen?
Sollen wir den Staatsstreich verlangen? Das kann ich nicht.
Die deutsche Staatssprache in vollem Umfang können wir
nicht durchsetzen. Das wurde auch beim Entwurf des Pfingst-
programms, wobei entschieden nationale Männer wie Dr.
Lemisch mitwirkten, wohl erwogen. Es wurde damals be-
schlossen, sich mit der deutschen Vermittelungssprache
zu begnügen. Das ist nur ein formeller Unterschied. Mehr
können wir nicht erreichen, als daß das Geltungsgebiet der
deutschen Sprache in dem Umfang festgelegt wird, in dem
sie heutzutage besteht. Daß wir ihr Gebiete erobern, die sie
heute nicht hat, ist unmöglich. Ich bedaure, daß das
Ministerium Koerber es in diesem Punkt an der Klarheit
hat missen lassen, die wir von ihm fordern können.
Wenn wir uns fragen, was der grundlegende Unterschied
zwischen der politischen Haltung der Schönerer-Gruppe
und der deutschen Gemeinbürgschaftspartei ist, so
besteht dieser darin, daß letztere den aufrichtigen Willen hat,
wenn möglich den Frieden und eine Verständigung zustande
zu bringen, unter der unerläßlichen Voraussetzung, daß unser
nationaler Besitzstand gesichert wird. Wir wollen Frieden
und Verständigung, sonst geht dieses Reich zugrunde. Wir
[Spaltenumbruch] von der deutschen Gemeinbürgschaft aber wollen die Kata-
strophe aufhalten und sind bereit, gewisse Konzessionen zu
machen, solange diese nicht an die Lebensbedin-
gungen unfres Volkes tasten.
Dr. v. Grabmayr be-
sprach sodann die Stellung zum Ministerium Koerber und
sagte: Durch den Sturz Clary's wurde uns ein Schlag ver-
setzt. Clary war wieder einmal ein deutscher Mann, offen
und wahr. Dem Ministerium Koerber stehen wir kühler
gegenüber. Redner bezeichnet den Ministerpräsidenten als
ungemein geschickten Mann, als eine feine Blüthe des öster-
reichischen Bureaukratismus. National ist er gar nicht. Für
ihn gibt es nur das Interesse, das Staatsschiff wieder heraus-
zulotsen. Daß Koerber irgend einen entscheidenden Schritt
in Betreff des schwebenden nationalen Streites unternimmt,
ohne sich der Zustimmung der Deutschen versichert zu haben,
brauchen wir nicht zu fürchten. Wenn der Absolutismus
käme, würde er keiner Partei zum Wohle gereichen.

Großbritannien.
Spanien, England und Frankreich in Marokko.

England ermuthigt Spanien
nach Kräften, der drohenden französischen Vorwärts-
bewegung
gegen Marokko entgegenzuarbeiten und die
spanischen Interessen im maurischen Reich zu wahren. Der
Premierminister Sennor Silvela gab neulich die Erklärung
ab, daß die spanische Gesandtschaft unter Ojeda -- die für
den Sultan sehr werthvolle Geschenke mitnimmt --
den Zweck habe, gewisse frühere Abmachungen neuerdings zu
erörtern, Anordnungen für genügende Wasserzuleitung in den
zu Spanien gehörigen befestigten Plätzen zu treffen, genaue
Gebietsabgrenzungen zu vereinbaren und ein definitives Ueber-
einkommen mit Bezug auf Santa Cruz de Mar Pequenna ab-
zuschließen. Silvela fügte hinzu, daß die spanische Regierung
bei ihren Verhandlungen mit dem Sultan eine Ueberein-
stimmung mit den übrigen Mächten herzustellen suche. In
Anknüpfung hieran spricht die "Epoca" die Befürchtung aus,
daß über kurz oder lang eine ehrgeizige Macht -- soll natürlich
heißen Frankreich -- einen Umsturz herbeizuführen suchen
wird, und daß Spanien nicht imstande sei, Widerstand zu
leisten, wenn nicht die übrigen Mächte sein Vorgehen unter-
stützten. Daß sich eine Uebereinstimmung "aller übrigen
Mächte" herstellen ließe, ist wohl sehr unwahrscheinlich. Natürlich
hat England das größte Interesse, im gegenwärtigen Augen-
blick das Aufrollen der marokkanischen Frage zu verhindern.
Und es heißt, kein Geheimuiß verrathen, daß die britische
Politik das Ziel im Auge hat, ihre Aufmerksamkeit, sobald es
gelungen ist, Südafrika vollständig unter britische Botmäßig-
keit zu bringen, auf Marokko und Abessyuien zu richten.
Die Schlüssel zur britischen Weltherrschaft liegen an den
beiden Enden des Mittelmeers, und die Engländer können
nie sicher sein, daß ihnen diese Schlüssel nicht entrissen werden,
solange sie nicht auch die marokkanische Seite der Straße von
Gibraltar in ihrer Gewalt haben, und solange der Regus
von Abessynien in der Lage ist, ihre Herrschaft am Nil vom
Süden her zu bedrohen. Die Franzosen wissen aber sehr
wohl, daß England sich die Lösung dieser beiden Fragen auf-
sparen möchte, bis es wieder vollständig freie Hände hat --,
und ihr Bestreben, sich gerade jetzt in Marokko und Abessynien
entscheidende Vortheile zu sichern, ist daher sehr begreiflich.
Ob die Umstände und die Machtverhältnisse die Ausführung
der französischen Pläne gestatten, ist vielleicht fraglich. Der
Wille, einen Schlag zu führen, ist jedenfalls vor-
handen.
Das beweisen die mysteriösen Truppenbewegungen,
die seit einiger Zeit bei Oran, dicht an der marokkanischen
Grenze, stattsinden.

Frankreich.
Die Ordensmanie.

Ueber französische Minister-
krisen,
besonders wenn sie nicht eingetreten sind, sondern
nur eventuell hätten eintreten können, zu schreiben, lohnt sich
nicht. Wie die Republik hier etikettirt ist, ob Waldeck oder
Ribot, kann uns ungeheuer gleichgültig sein; es ist das für
uns, um ein französisches Sprichwort von dem "bonnet
blane on blane bonnet"
frei ins Deutsche zu übersetzen, Jacke
wie Weste. Waldeck stützt sich ein bischen mehr auf die
Linke, leuguet das aber, und Ribot, sein muthmaßlicher
Erbe, würde sich ein bischen mehr an die Rechte anlehnen,
aber auch nur heimlich. Im übrigen wird im Innern weiter
gewurstelt und nach außen weiter an dem Revanchefaden ge-



[Spaltenumbruch]

sie nach vorliegenden Briefen, Poststücken, Begleitadressen,
Zertifikaten und dergleichen. Nichts da, als unterm Amts-
tisch ein Kistchen Käse, das die Postmeisterin vergessen und
als Fußschemel benutzt zu haben scheint. Flink befördert
Lina diesen Duftspender hinaus in den Flur und öffnet
dann sämmtliche Fenster. Ein weiteres Geschäft ist die
Entfernung der Fruchtvorräthe und so weiter aus der
Kanzlei, wobei das Postfräulein die Gegenstände schlank-
weg in die nächstbeste Stube verbringt. Das erzeugte natür-
lich Lärm, und dieser lockte wieder die Bäuerin herbei, die
den Vorgang zu ahnen schien und lebhaft protestirte. Lina
aber forderte vor allem Einlösung des Bons, widrigen-
falls das Manko im Protokoll vermerkt werden müßte.
Das stopfte der halbblinden Postmeisterin sofort den
Mund, doch that sie dergleichen, als müsse jemand anders
solchen Zettel in die Geldtasche gelegt haben. Die Leute
seien ja so schlecht heutzutage. Das Postfräulein bestand
aber auf sofortiger Baareinlösung, da der Zettel die Unter-
schrift "Postmeisterin" trage, und seufzend holte die deposse-
dirte Postmeisterin die Fünfguldennote herbei, hoch be-
theuernd, nun nichts mehr von der Malefizpost wissen zu
wollen.

"Das ischt auch nicht nöthig!" versicherte Lina und
fragte, ob sie in dem Bett dort nächtigen solle.

"Freilich, ischt wohl ein feines Bett, lauter echte
Hühnerfedern und so viel gut schwer!"

Lina bat um frisches Linnen, kam aber übel an, denn
die Bäuerin schwor, daß Niemand drin gelegen habe als
die Zeit her, so etliche Monate, der Pintscher. Mit der
Wäsche müsse gespart werden, weil die Seife so viel theuer
sei. Die Unterredung endete gleichwohl damit, das sich die
sparsame Postmeisterin zur Herausgabe eines frischen
Linnen bequemte.

Und nun fing das Postfräulein zu amtiren an, indem
es die Formulare ordnete, Tinte ins Fäßchen goß und dann
das im Hausflur befindliche Briefkästchen entleerte. Viel
ist nicht darin, bloß eine Korrespondenzkarte, die einige
Tage beschaulicher Ruhe im Kasten genossen zu haben
scheint, denn der Absender hat ein Datum vor drei Tagen
hinten angesetzt. Und der Inhalt der Karte lautet: "Her
Gaskomissär kumens gleich, ich hab die Maul- und Klauen-
[Spaltenumbruch] seuche, womit ich zeichne Georg Augenthaler, Einödbauer
im Hartberg."

Belustigt legte Lina diese ergötzliche Karte ins Aus-
laufsfach.

So kommt der Schluß der Amtszeit, die sechste
Stunde, heran, wovon sich die Expeditorin durch einen
Blick auf ihre Taschenuhr überzeugt. Schon will Lina
schließen, da werden schwere Tritte im Flur laut, und ein
Bauer flucht draußen. Es klopft, und auf das "Herein!"
geht die Thür auf, durch welche ein Bergbauer eine Ziege
schiebt.

Erstaunt ruft das Fräulein: "Ja, was soll denn das
heißen? Hier ischt doch kein Stall!"

"Ischt da die Post?"

"Ja, hier ischt die Postkanzlei. Was wollen Sie denn
mit der Geiß in der Post?"

"Frag nicht so dumm! Aufgeben will ich die Geiß und
per Post fortschicken, weißt, dem Jackelbauern in St. Niko-
laus. Da hast es und mach's pressant!"

Das Postfräulein ist starr vor Erstaunen. Der Kaiser-
lich Königlichen Post zuzumuthen, eine lebende Ziege zu
befördern, das ist noch nicht vorgekommen. Endlich faßt
sich die Expeditorin so weit, um dem Bauern begreiflich
machen zu können, daß die Post dergleichen überhaupt
nicht befördere.

"So, nicht? Das wär' was ganz Neues. Zu was bist
denn du da auf der Post?"

"Jedenfalls nicht zum Geißenhüten! Entfernen Sie sich
mit Ihrer Ziege!"

"Ich rath dir im guten: gleich verschickst mir die Geiß!
Auf ein Sechserl Trinkgeld soll's mir nicht ankommen."

"Ich muß laut Vorschrift die Annahme verweigern."

"Kreuzsakra! Mögen thust nicht und zu herrisch bischt,
das Viech anzugreifen. Ich beschwer' mich! So eine herri-
sche Trampin gehört nicht auf die Post!" Wüthend schob
der Bauer seine Ziege aus der Kanzlei und schimpfte,
was das Zeug hielt.

Lina lächelte; der Dienstanfang versprach niedlich zu
werden.

Ein Stündchen widmete das Fräulein nun dem Aus-
kramen des Handgepäcks, dann ward es zum Abendessen
[Spaltenumbruch] gerufen. Die Postfräuleins haben nämlich in entlegenen
Orten meist Kost und Quartier beim Inhaber der Post-
meisterei und werden mit zehn bis fünfzehn Gulden baar
für den Postdienst entschädigt.

Daß Lina mit dem alten Knecht und den zwei Dirnen
am selben Tisch essen mußte und die grobe Gesindekost vor-
gesetzt bekam, das war eine weitere Beigabe zu den An-
nehmlichkeiten im Leben eines Postfräuleins im Gebirg.

Der Abend aber gehörte Lina, und nach sorgfältigem
Verschluß der Kanzlei ward ein Spaziergang den See ent-
lang gemacht zur Erquickung der einsamen Seele.

(Fortsetzung folgt.)



G. Jean Jacques Rousseau's Kinder.

Mrs. Mac-
donald, eine Schottin, hat sich in den Kopf gesetzt, aus ihrem
verehrten Rousseau einen Heiligen zu machen. Das Unter-
faugen ist schwierig. Und wenn es ihr auch gelänge, ihn
von gewissen kleinen Sünden rein zu waschen, würde sie da-
durch den Ruhm seines Namens wesentlich erhöhen? Wäre
es nicht schade, wenn ihm sein Privatleben nicht den Stoff
zu seinen Confessions geliefert hätte? Mrs. Macdonald will
dem Leben ihres Rousseau durchaus dieselbe Sittenstrenge und
Reinheit andichten, wie sie einem presbyterianischen schottischen
Pastor zukommt. Sie beschäftigt sich in einem Artikel der
"Revue des Revues" mit den fünf Kindern Jean Jacques',
die er nach seinem eigenen Geständnisse ins Findelhaus ge-
bracht hat, und stellt die Behauptung auf: Rousseau hat
überhaupt kein Kind gehabt. So hat also Therese Levasseur
fünfmal mit ihm Komödie gespielt und ihn zum Vater ihrer
Kinder gestempelt, deren Vater er in Wirklichkeit nicht war.
Das ist höchst unwahrscheinlich: selbst ein Genie kann nicht
bis zu diesem Grade achtlos und zerstreut sein. Auch bringt
Mrs. Macdonald keine stichhaltigen Beweise bei, sondern nur
unbestimmte Vermuthungen. Uebrigens wäre Rousseau's sitt-
liches Verschulden damit gar nicht aus der Welt geschafft
oder auch nur gemildert: der moralische Akt, der seine Schuld
bildet, bliebe bestehen, nämlich die Unterbringung der Kinder
im Findelhaufe.



München, Freitag Allgemeine Zeitung 30. März 1900. Nr. 87.
[Spaltenumbruch]

aber zwiſchen den agrariſchen und den induſtriellen Kreiſen
können nur dazu beitragen, denen, die dem Auslande
gegenüber das Intereſſe der Geſammtheit des deutſchen
Volkes unter Innehaltung einer wohlerwogenen Durch-
ſchnittslinie vertreten, ihre Aufgabe zu erſchweren.

Sitzung des preußiſchen Abgeordnetenhaufes.

Auf der Tagesordnung ſteht die
Interpellation Baenſch-Schmidtlein u. Genoſſen.
Kultusminiſter Studt erklärt ſich zur ſofortigen Beantwortung
bereit.

Abg. Baenſch-Schmidtlein (freikonſ.) begründet ſeine
Interpellation und erſucht den Miniſter, noch in dieſem Jahre
eine Vorlage einzubringen, die eine gerechte Vertheilung der
Schullaſten herbeiführt.

Der Kultusminiſter verliest eine Erklärung, welche
darin gipfelt, daß die Regierung für dieſen Zweck in den
nächſten Etat 10,000,000 M. einſtellen werde. Um eine durch-
greifende geſetzgeberiſche Reform durchzuführen, müſſe feſt-
geſtellt werden, was die Gemeinden überhaupt für öffentliche
Zwecke aufwenden. Abg. Dr. v. Heydebrand (konſ.) er-
klärt eine Statiſtik für völlig überflüſſig. An dem bisherigen
Charakter der Schule dürfe nichts geändert werden. Vor
allem darf nicht etwa eine Staatsſchule daraus werden.

Abg. Seydel (nat.-lib.) bemerkt, eine Reform des Schul-
vorſtandes müſſe verlangt werden. Abg. Dr. Porſch (Centr.)
erkennt die Mißſtände an und verlangt eine Berückſichtigung
der konfeſſionellen Minderheiten. Vor allem müſſe feſtgelegt
werden, daß die Schule für alle Zeit einen konfeſſionellen
Charakter zu tragen habe. Abg. Graf v. Kanitz (konſ.) führt
aus, die Schule ſei eine Verauſtaltung, aber nicht eine Ein-
richtung des Staates. Abg. Friedberg (nat.-lib.) erklärt,
es ſei wunderbar, daß das Miniſterium auf einen einmüthig
geäußerten Wunſch des Hauſes ſo wenig Rückſicht nehme.
Die Abgg. Frhr. v. Zedlitz und Graf zu Limburg-
Stirum
ſprechen den dringenden Wunſch aus, daß ſchon die
nächſte Seſſion eine Vorlage über die Schulunterhaltungs-
pflicht bringe. Ein allgemeines Schulgeſetz brauche man jetzt
nicht. Der Kultusminiſter erklärt, auf jeden Fall ſei eine
eingehende Statiſtik nothwendig. Den chriſtlich-konfeſſionellen
Charakter werde die Volksſchule wahren. Er freue ſich, daß
in dieſer Beziehung eine ſolche Einmüthigkeit zutage getreten
ſei. Nach weiteren Bemerkungen der Abgg. Kopſch und
Rickert ſchließt die Beſprechung. Es folgt die zweite
Berathung des Geſetzentwurfs betr. die Polizei-
verwaltung der Stadtkreiſe Charlottenburg,
Schöneberg und Rixdorf.
Abg. Dr. Arendt (freikonf.)
erinnert an die Aeußerung Bebels im Reichstage, daß die
Unterſuchung über die Verſtümmelung der Statuen in der
Siegesallee eingeſtellt worden ſei, nachdem die Polizei er-
kannt habe, daß die Thäter den beſitzenden Klaſſen angehören.
Miniſter v. Rheinbaben bezeichnet den Vorwurf Bebels
als unerhört. Es ſei auch nicht der Schatten eines Beweiſes
dafür erbracht; mancherlei ſpreche ſogar dagegen. Die Be-
ſchädigungen ſeien wahrſcheinlich durch einen Hammer herbei-
geführt, alſo nicht im Uebermuth durch einen Stockſchlag. Es
ſcheint alſo eine mit Vorbedacht vollführte That. — Der
Geſetzentwurf wird darauf nach kurzer Erörterung au-
genommen. Nächſte Sitzung
morgen, 11 Uhr. Tages-
ordnung: Kleinere Vorlagen, Petitionen. Schluß 3 Uhr.

Oeſterreich-Ungarn.
Vom Wiener Gemeinderath.

* Die Wiener Gemeindeverhältniſſe geſtalten ſich nach der
Inkraftſetzung des neuen Gemeindeſtatuts und der neuen
Wahlordnung recht unerquicklich. Der Gemeinderath iſt
infolge des unwiderruflichen Austritts von 35 fortſchritt-
lichen Mitgliedern
auf eine automatiſche Bewilligungs-
maſchine der HH. Lueger, Strobach u. ſ. w. herabgeſunken,
dabei iſt kaum die zu einer gültigen Abſtimmung erforderliche
Mitgliederzahl aufzutreiben. Mit zweifelhafter Rechtsbeſtändig-
keit wurde geſtern gleich die ſchwebende Schuld im Be-
trage von 12,000,000 Kronen bewilligt. Vorgeſtern wurde
der Voranſchlag für die zweite Hochquellenleitung für
Wien kurzerhand votirt, ein Unternehmen, das bis 100,000,000
Kronen und mehr zu verſchlingen droht. Die Liberalen
arbeiten nun, in der Hoffnung, daß dadurch ein Wandel in
der üblen Situation geſchafft werde, auf Neuwahlen hin
und die Regierung wird ſich möglicherweiſe zur Auflöſung
des jetzigen Gemeinderaths entſchließen müſſen.

[Spaltenumbruch]
Der Kohlenarbeiter-Strike.

* Die Beendigung des Strikes in den Kohlenbergwerken
wird, wie von vornherein nicht anders zu erwarten war,
hier und da noch durch mancherlei Zwiſchenfälle geſtört. Die-
ſelben rühren insbeſondere von Racheakten an Strike-
brechern
her; ſo hatte eine Attacke auf einen Strikebrecher
in Dux einen Konflikt der ſchon wieder in Arbeit befind-
lichen Häuer mit der Werkleitung zur Folge, der mit einem
neuen Ausſtand der Häuer endigte. Es war die ſonderbare
Forderung an die Werkleitung geſtellt worden, ſämmtlichen
Arbeitern zu kündigen, die während des allgemeinen Strikes
gearbeitet hatten. Die Bedrohung der Arbeitswilligen iſt auch
in Kladno die Urſache der noch immer nicht günſtigen
Situation; es ſind hier noch etwa 68 Proz. der Arbeiter im
Ausſtand. Zur Schicht kommende Bergleute wurden mit
Revolvern angefallen und an Arbeiterhäuſern wurden Brand-
legungen ausgeführt. Doch wird nun wohl bald auch an
dieſem Orte Ruhe und normaler Arbeitsbetrieb eintreten. Im
Mähriſch-Oſtrauer Revier, wo der Strike ſeinerzeit den
relativ größten Umfang angenommen hatte und am hart-
näckigſten durchgeführt wurde, iſt derſelbe jetzt faſt vollſtändig
beigelegt. Es fehlten auf der Mittwoch-Frühſchicht im Weſt-
revier noch etwa 1100 Gruben- und 700 Tagarbeiter, im
Oſtrevier Niemand; die längſte Zeit aber ſtrikten hier 25,000
Mann und mehr. Die Kohlenförderung ſoll jetzt ſogar un-
gewöhnlich ſtark ſein, da die Arbeiter ſich alle Mühe geben,
die Lohnverluſte einzubringen.

Deutſch-Radikale und Deutſch-Liberale in Tirol.

Eine dieſer Tage von der
deutſch-radikalen Richtung Tirols („Deutſcher Wähler-
verein“) ausgegangene Kundgebung, worin die dentſche Ge-
meinbürgſchaft, beſonders wegen ihres Verhaltens auf der
Verſtändigungskonferenz, aufs ſchärſſte angegriffen wurde,
veranlaßte den „Deutſch-liberalen Verein“ zu einer
Gegenkundgebung, um die Haltung der Gemeinbürgſchaft zu
vertheidigen und zu rechtfertigen und die radikalen Inſulten
zurückzuweiſen. Reichstagsabgeordneter Dr. v. Grabmayr
(liberaler Großgrundbeſitz) ging zwecks Begründung dieſes
Abwehrmanifeſtes des Deutſch-liberalen Vereins in deſſen
geſtriger Generalverſammlung ausführlich auf die allgemeine
politiſche Lage ein und lieferte dabei ſchätzenswerthe Beiträge
zur Beurtheilung der aktuellſten Fragen. Was unſern Ein-
tritt in die Verſtändigungskouferenz vor Feſtlegung der
deutſchen Staatsſprache anbetrifft, ſagte Grabmayr, ſo
ſehe auch ich es als eine Nothwendigkeit für Oeſterreich an, daß es
eine Staatsſprache habe, und zwar die deutſche. Aber ich bin
überzeugt, daß in dieſer Form die Einführung der deutſchen
Staatsſprache unter den heutigen Verhältniſſen nicht möglich iſt.
In jenen Zeiten, wo die Deutſchen eine Zweidrittelmajorität
im Reichsrath hatten, da wäre es an der Zeit geweſen, die
deutſche Staatsſprache einzuführen. Daß die deutſchen
Abgeordneten dies damals unterlaſſen haben,

iſt der größte Vorwurf, den man ihnen machen
muß.
Was die große Verfaſſungspartei damals hatte machen
können, können wir heute — nicht mehr machen. Unter
425 Abgeordneten ſind 198 Deutſche und unter dieſen leider
eine nicht geringe Zahl „Auchdeutſche“, auf die wir nicht
rechnen können. Das Geſetz der Zahl müſſen wir gelten
laſſen. Wie wollen wir eine ſolche Forderung durchſetzen?
Sollen wir den Staatsſtreich verlangen? Das kann ich nicht.
Die deutſche Staatsſprache in vollem Umfang können wir
nicht durchſetzen. Das wurde auch beim Entwurf des Pfingſt-
programms, wobei entſchieden nationale Männer wie Dr.
Lemiſch mitwirkten, wohl erwogen. Es wurde damals be-
ſchloſſen, ſich mit der deutſchen Vermittelungsſprache
zu begnügen. Das iſt nur ein formeller Unterſchied. Mehr
können wir nicht erreichen, als daß das Geltungsgebiet der
deutſchen Sprache in dem Umfang feſtgelegt wird, in dem
ſie heutzutage beſteht. Daß wir ihr Gebiete erobern, die ſie
heute nicht hat, iſt unmöglich. Ich bedaure, daß das
Miniſterium Koerber es in dieſem Punkt an der Klarheit
hat miſſen laſſen, die wir von ihm fordern können.
Wenn wir uns fragen, was der grundlegende Unterſchied
zwiſchen der politiſchen Haltung der Schönerer-Gruppe
und der deutſchen Gemeinbürgſchaftspartei iſt, ſo
beſteht dieſer darin, daß letztere den aufrichtigen Willen hat,
wenn möglich den Frieden und eine Verſtändigung zuſtande
zu bringen, unter der unerläßlichen Vorausſetzung, daß unſer
nationaler Beſitzſtand geſichert wird. Wir wollen Frieden
und Verſtändigung, ſonſt geht dieſes Reich zugrunde. Wir
[Spaltenumbruch] von der deutſchen Gemeinbürgſchaft aber wollen die Kata-
ſtrophe aufhalten und ſind bereit, gewiſſe Konzeſſionen zu
machen, ſolange dieſe nicht an die Lebensbedin-
gungen unfres Volkes taſten.
Dr. v. Grabmayr be-
ſprach ſodann die Stellung zum Miniſterium Koerber und
ſagte: Durch den Sturz Clary’s wurde uns ein Schlag ver-
ſetzt. Clary war wieder einmal ein deutſcher Mann, offen
und wahr. Dem Miniſterium Koerber ſtehen wir kühler
gegenüber. Redner bezeichnet den Miniſterpräſidenten als
ungemein geſchickten Mann, als eine feine Blüthe des öſter-
reichiſchen Bureaukratismus. National iſt er gar nicht. Für
ihn gibt es nur das Intereſſe, das Staatsſchiff wieder heraus-
zulotſen. Daß Koerber irgend einen entſcheidenden Schritt
in Betreff des ſchwebenden nationalen Streites unternimmt,
ohne ſich der Zuſtimmung der Deutſchen verſichert zu haben,
brauchen wir nicht zu fürchten. Wenn der Abſolutismus
käme, würde er keiner Partei zum Wohle gereichen.

Großbritannien.
Spanien, England und Frankreich in Marokko.

England ermuthigt Spanien
nach Kräften, der drohenden franzöſiſchen Vorwärts-
bewegung
gegen Marokko entgegenzuarbeiten und die
ſpaniſchen Intereſſen im mauriſchen Reich zu wahren. Der
Premierminiſter Señor Silvela gab neulich die Erklärung
ab, daß die ſpaniſche Geſandtſchaft unter Ojeda — die für
den Sultan ſehr werthvolle Geſchenke mitnimmt —
den Zweck habe, gewiſſe frühere Abmachungen neuerdings zu
erörtern, Anordnungen für genügende Waſſerzuleitung in den
zu Spanien gehörigen befeſtigten Plätzen zu treffen, genaue
Gebietsabgrenzungen zu vereinbaren und ein definitives Ueber-
einkommen mit Bezug auf Santa Cruz de Mar Pequeña ab-
zuſchließen. Silvela fügte hinzu, daß die ſpaniſche Regierung
bei ihren Verhandlungen mit dem Sultan eine Ueberein-
ſtimmung mit den übrigen Mächten herzuſtellen ſuche. In
Anknüpfung hieran ſpricht die „Epoca“ die Befürchtung aus,
daß über kurz oder lang eine ehrgeizige Macht — ſoll natürlich
heißen Frankreich — einen Umſturz herbeizuführen ſuchen
wird, und daß Spanien nicht imſtande ſei, Widerſtand zu
leiſten, wenn nicht die übrigen Mächte ſein Vorgehen unter-
ſtützten. Daß ſich eine Uebereinſtimmung „aller übrigen
Mächte“ herſtellen ließe, iſt wohl ſehr unwahrſcheinlich. Natürlich
hat England das größte Intereſſe, im gegenwärtigen Augen-
blick das Aufrollen der marokkaniſchen Frage zu verhindern.
Und es heißt, kein Geheimuiß verrathen, daß die britiſche
Politik das Ziel im Auge hat, ihre Aufmerkſamkeit, ſobald es
gelungen iſt, Südafrika vollſtändig unter britiſche Botmäßig-
keit zu bringen, auf Marokko und Abeſſyuien zu richten.
Die Schlüſſel zur britiſchen Weltherrſchaft liegen an den
beiden Enden des Mittelmeers, und die Engländer können
nie ſicher ſein, daß ihnen dieſe Schlüſſel nicht entriſſen werden,
ſolange ſie nicht auch die marokkaniſche Seite der Straße von
Gibraltar in ihrer Gewalt haben, und ſolange der Regus
von Abeſſynien in der Lage iſt, ihre Herrſchaft am Nil vom
Süden her zu bedrohen. Die Franzoſen wiſſen aber ſehr
wohl, daß England ſich die Löſung dieſer beiden Fragen auf-
ſparen möchte, bis es wieder vollſtändig freie Hände hat —,
und ihr Beſtreben, ſich gerade jetzt in Marokko und Abeſſynien
entſcheidende Vortheile zu ſichern, iſt daher ſehr begreiflich.
Ob die Umſtände und die Machtverhältniſſe die Ausführung
der franzöſiſchen Pläne geſtatten, iſt vielleicht fraglich. Der
Wille, einen Schlag zu führen, iſt jedenfalls vor-
handen.
Das beweiſen die myſteriöſen Truppenbewegungen,
die ſeit einiger Zeit bei Oran, dicht an der marokkaniſchen
Grenze, ſtattſinden.

Frankreich.
Die Ordensmanie.

Ueber franzöſiſche Miniſter-
kriſen,
beſonders wenn ſie nicht eingetreten ſind, ſondern
nur eventuell hätten eintreten können, zu ſchreiben, lohnt ſich
nicht. Wie die Republik hier etikettirt iſt, ob Waldeck oder
Ribot, kann uns ungeheuer gleichgültig ſein; es iſt das für
uns, um ein franzöſiſches Sprichwort von dem „bonnet
blane on blane bonnet“
frei ins Deutſche zu überſetzen, Jacke
wie Weſte. Waldeck ſtützt ſich ein bischen mehr auf die
Linke, leuguet das aber, und Ribot, ſein muthmaßlicher
Erbe, würde ſich ein bischen mehr an die Rechte anlehnen,
aber auch nur heimlich. Im übrigen wird im Innern weiter
gewurſtelt und nach außen weiter an dem Revanchefaden ge-



[Spaltenumbruch]

ſie nach vorliegenden Briefen, Poſtſtücken, Begleitadreſſen,
Zertifikaten und dergleichen. Nichts da, als unterm Amts-
tiſch ein Kiſtchen Käſe, das die Poſtmeiſterin vergeſſen und
als Fußſchemel benutzt zu haben ſcheint. Flink befördert
Lina dieſen Duftſpender hinaus in den Flur und öffnet
dann ſämmtliche Fenſter. Ein weiteres Geſchäft iſt die
Entfernung der Fruchtvorräthe und ſo weiter aus der
Kanzlei, wobei das Poſtfräulein die Gegenſtände ſchlank-
weg in die nächſtbeſte Stube verbringt. Das erzeugte natür-
lich Lärm, und dieſer lockte wieder die Bäuerin herbei, die
den Vorgang zu ahnen ſchien und lebhaft proteſtirte. Lina
aber forderte vor allem Einlöſung des Bons, widrigen-
falls das Manko im Protokoll vermerkt werden müßte.
Das ſtopfte der halbblinden Poſtmeiſterin ſofort den
Mund, doch that ſie dergleichen, als müſſe jemand anders
ſolchen Zettel in die Geldtaſche gelegt haben. Die Leute
ſeien ja ſo ſchlecht heutzutage. Das Poſtfräulein beſtand
aber auf ſofortiger Baareinlöſung, da der Zettel die Unter-
ſchrift „Poſtmeiſterin“ trage, und ſeufzend holte die depoſſe-
dirte Poſtmeiſterin die Fünfguldennote herbei, hoch be-
theuernd, nun nichts mehr von der Malefizpoſt wiſſen zu
wollen.

„Das iſcht auch nicht nöthig!“ verſicherte Lina und
fragte, ob ſie in dem Bett dort nächtigen ſolle.

„Freilich, iſcht wohl ein feines Bett, lauter echte
Hühnerfedern und ſo viel gut ſchwer!“

Lina bat um friſches Linnen, kam aber übel an, denn
die Bäuerin ſchwor, daß Niemand drin gelegen habe als
die Zeit her, ſo etliche Monate, der Pintſcher. Mit der
Wäſche müſſe geſpart werden, weil die Seife ſo viel theuer
ſei. Die Unterredung endete gleichwohl damit, das ſich die
ſparſame Poſtmeiſterin zur Herausgabe eines friſchen
Linnen bequemte.

Und nun fing das Poſtfräulein zu amtiren an, indem
es die Formulare ordnete, Tinte ins Fäßchen goß und dann
das im Hausflur befindliche Briefkäſtchen entleerte. Viel
iſt nicht darin, bloß eine Korreſpondenzkarte, die einige
Tage beſchaulicher Ruhe im Kaſten genoſſen zu haben
ſcheint, denn der Abſender hat ein Datum vor drei Tagen
hinten angeſetzt. Und der Inhalt der Karte lautet: „Her
Gaskomiſſär kumens gleich, ich hab die Maul- und Klauen-
[Spaltenumbruch] ſeuche, womit ich zeichne Georg Augenthaler, Einödbauer
im Hartberg.“

Beluſtigt legte Lina dieſe ergötzliche Karte ins Aus-
laufsfach.

So kommt der Schluß der Amtszeit, die ſechste
Stunde, heran, wovon ſich die Expeditorin durch einen
Blick auf ihre Taſchenuhr überzeugt. Schon will Lina
ſchließen, da werden ſchwere Tritte im Flur laut, und ein
Bauer flucht draußen. Es klopft, und auf das „Herein!“
geht die Thür auf, durch welche ein Bergbauer eine Ziege
ſchiebt.

Erſtaunt ruft das Fräulein: „Ja, was ſoll denn das
heißen? Hier iſcht doch kein Stall!“

„Iſcht da die Poſt?“

„Ja, hier iſcht die Poſtkanzlei. Was wollen Sie denn
mit der Geiß in der Poſt?“

„Frag nicht ſo dumm! Aufgeben will ich die Geiß und
per Poſt fortſchicken, weißt, dem Jackelbauern in St. Niko-
laus. Da haſt es und mach’s preſſant!“

Das Poſtfräulein iſt ſtarr vor Erſtaunen. Der Kaiſer-
lich Königlichen Poſt zuzumuthen, eine lebende Ziege zu
befördern, das iſt noch nicht vorgekommen. Endlich faßt
ſich die Expeditorin ſo weit, um dem Bauern begreiflich
machen zu können, daß die Poſt dergleichen überhaupt
nicht befördere.

„So, nicht? Das wär’ was ganz Neues. Zu was biſt
denn du da auf der Poſt?“

„Jedenfalls nicht zum Geißenhüten! Entfernen Sie ſich
mit Ihrer Ziege!“

„Ich rath dir im guten: gleich verſchickſt mir die Geiß!
Auf ein Sechſerl Trinkgeld ſoll’s mir nicht ankommen.“

„Ich muß laut Vorſchrift die Annahme verweigern.“

„Kreuzſakra! Mögen thuſt nicht und zu herriſch biſcht,
das Viech anzugreifen. Ich beſchwer’ mich! So eine herri-
ſche Trampin gehört nicht auf die Poſt!“ Wüthend ſchob
der Bauer ſeine Ziege aus der Kanzlei und ſchimpfte,
was das Zeug hielt.

Lina lächelte; der Dienſtanfang verſprach niedlich zu
werden.

Ein Stündchen widmete das Fräulein nun dem Aus-
kramen des Handgepäcks, dann ward es zum Abendeſſen
[Spaltenumbruch] gerufen. Die Poſtfräuleins haben nämlich in entlegenen
Orten meiſt Koſt und Quartier beim Inhaber der Poſt-
meiſterei und werden mit zehn bis fünfzehn Gulden baar
für den Poſtdienſt entſchädigt.

Daß Lina mit dem alten Knecht und den zwei Dirnen
am ſelben Tiſch eſſen mußte und die grobe Geſindekoſt vor-
geſetzt bekam, das war eine weitere Beigabe zu den An-
nehmlichkeiten im Leben eines Poſtfräuleins im Gebirg.

Der Abend aber gehörte Lina, und nach ſorgfältigem
Verſchluß der Kanzlei ward ein Spaziergang den See ent-
lang gemacht zur Erquickung der einſamen Seele.

(Fortſetzung folgt.)



G. Jean Jacques Rouſſeau’s Kinder.

Mrs. Mac-
donald, eine Schottin, hat ſich in den Kopf geſetzt, aus ihrem
verehrten Rouſſeau einen Heiligen zu machen. Das Unter-
faugen iſt ſchwierig. Und wenn es ihr auch gelänge, ihn
von gewiſſen kleinen Sünden rein zu waſchen, würde ſie da-
durch den Ruhm ſeines Namens weſentlich erhöhen? Wäre
es nicht ſchade, wenn ihm ſein Privatleben nicht den Stoff
zu ſeinen Confessions geliefert hätte? Mrs. Macdonald will
dem Leben ihres Rouſſeau durchaus dieſelbe Sittenſtrenge und
Reinheit andichten, wie ſie einem presbyterianiſchen ſchottiſchen
Paſtor zukommt. Sie beſchäftigt ſich in einem Artikel der
„Revue des Revues“ mit den fünf Kindern Jean Jacques’,
die er nach ſeinem eigenen Geſtändniſſe ins Findelhaus ge-
bracht hat, und ſtellt die Behauptung auf: Rouſſeau hat
überhaupt kein Kind gehabt. So hat alſo Therèſe Levaſſeur
fünfmal mit ihm Komödie geſpielt und ihn zum Vater ihrer
Kinder geſtempelt, deren Vater er in Wirklichkeit nicht war.
Das iſt höchſt unwahrſcheinlich: ſelbſt ein Genie kann nicht
bis zu dieſem Grade achtlos und zerſtreut ſein. Auch bringt
Mrs. Macdonald keine ſtichhaltigen Beweiſe bei, ſondern nur
unbeſtimmte Vermuthungen. Uebrigens wäre Rouſſeau’s ſitt-
liches Verſchulden damit gar nicht aus der Welt geſchafft
oder auch nur gemildert: der moraliſche Akt, der ſeine Schuld
bildet, bliebe beſtehen, nämlich die Unterbringung der Kinder
im Findelhaufe.



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[2/0002] München, Freitag Allgemeine Zeitung 30. März 1900. Nr. 87. aber zwiſchen den agrariſchen und den induſtriellen Kreiſen können nur dazu beitragen, denen, die dem Auslande gegenüber das Intereſſe der Geſammtheit des deutſchen Volkes unter Innehaltung einer wohlerwogenen Durch- ſchnittslinie vertreten, ihre Aufgabe zu erſchweren. Sitzung des preußiſchen Abgeordnetenhaufes. * Berlin, 29. März.Auf der Tagesordnung ſteht die Interpellation Baenſch-Schmidtlein u. Genoſſen. Kultusminiſter Studt erklärt ſich zur ſofortigen Beantwortung bereit. Abg. Baenſch-Schmidtlein (freikonſ.) begründet ſeine Interpellation und erſucht den Miniſter, noch in dieſem Jahre eine Vorlage einzubringen, die eine gerechte Vertheilung der Schullaſten herbeiführt. Der Kultusminiſter verliest eine Erklärung, welche darin gipfelt, daß die Regierung für dieſen Zweck in den nächſten Etat 10,000,000 M. einſtellen werde. Um eine durch- greifende geſetzgeberiſche Reform durchzuführen, müſſe feſt- geſtellt werden, was die Gemeinden überhaupt für öffentliche Zwecke aufwenden. Abg. Dr. v. Heydebrand (konſ.) er- klärt eine Statiſtik für völlig überflüſſig. An dem bisherigen Charakter der Schule dürfe nichts geändert werden. Vor allem darf nicht etwa eine Staatsſchule daraus werden. Abg. Seydel (nat.-lib.) bemerkt, eine Reform des Schul- vorſtandes müſſe verlangt werden. Abg. Dr. Porſch (Centr.) erkennt die Mißſtände an und verlangt eine Berückſichtigung der konfeſſionellen Minderheiten. Vor allem müſſe feſtgelegt werden, daß die Schule für alle Zeit einen konfeſſionellen Charakter zu tragen habe. Abg. Graf v. Kanitz (konſ.) führt aus, die Schule ſei eine Verauſtaltung, aber nicht eine Ein- richtung des Staates. Abg. Friedberg (nat.-lib.) erklärt, es ſei wunderbar, daß das Miniſterium auf einen einmüthig geäußerten Wunſch des Hauſes ſo wenig Rückſicht nehme. Die Abgg. Frhr. v. Zedlitz und Graf zu Limburg- Stirum ſprechen den dringenden Wunſch aus, daß ſchon die nächſte Seſſion eine Vorlage über die Schulunterhaltungs- pflicht bringe. Ein allgemeines Schulgeſetz brauche man jetzt nicht. Der Kultusminiſter erklärt, auf jeden Fall ſei eine eingehende Statiſtik nothwendig. Den chriſtlich-konfeſſionellen Charakter werde die Volksſchule wahren. Er freue ſich, daß in dieſer Beziehung eine ſolche Einmüthigkeit zutage getreten ſei. Nach weiteren Bemerkungen der Abgg. Kopſch und Rickert ſchließt die Beſprechung. Es folgt die zweite Berathung des Geſetzentwurfs betr. die Polizei- verwaltung der Stadtkreiſe Charlottenburg, Schöneberg und Rixdorf. Abg. Dr. Arendt (freikonf.) erinnert an die Aeußerung Bebels im Reichstage, daß die Unterſuchung über die Verſtümmelung der Statuen in der Siegesallee eingeſtellt worden ſei, nachdem die Polizei er- kannt habe, daß die Thäter den beſitzenden Klaſſen angehören. Miniſter v. Rheinbaben bezeichnet den Vorwurf Bebels als unerhört. Es ſei auch nicht der Schatten eines Beweiſes dafür erbracht; mancherlei ſpreche ſogar dagegen. Die Be- ſchädigungen ſeien wahrſcheinlich durch einen Hammer herbei- geführt, alſo nicht im Uebermuth durch einen Stockſchlag. Es ſcheint alſo eine mit Vorbedacht vollführte That. — Der Geſetzentwurf wird darauf nach kurzer Erörterung au- genommen. Nächſte Sitzung morgen, 11 Uhr. Tages- ordnung: Kleinere Vorlagen, Petitionen. Schluß 3 Uhr. Oeſterreich-Ungarn. Vom Wiener Gemeinderath. * Die Wiener Gemeindeverhältniſſe geſtalten ſich nach der Inkraftſetzung des neuen Gemeindeſtatuts und der neuen Wahlordnung recht unerquicklich. Der Gemeinderath iſt infolge des unwiderruflichen Austritts von 35 fortſchritt- lichen Mitgliedern auf eine automatiſche Bewilligungs- maſchine der HH. Lueger, Strobach u. ſ. w. herabgeſunken, dabei iſt kaum die zu einer gültigen Abſtimmung erforderliche Mitgliederzahl aufzutreiben. Mit zweifelhafter Rechtsbeſtändig- keit wurde geſtern gleich die ſchwebende Schuld im Be- trage von 12,000,000 Kronen bewilligt. Vorgeſtern wurde der Voranſchlag für die zweite Hochquellenleitung für Wien kurzerhand votirt, ein Unternehmen, das bis 100,000,000 Kronen und mehr zu verſchlingen droht. Die Liberalen arbeiten nun, in der Hoffnung, daß dadurch ein Wandel in der üblen Situation geſchafft werde, auf Neuwahlen hin und die Regierung wird ſich möglicherweiſe zur Auflöſung des jetzigen Gemeinderaths entſchließen müſſen. Der Kohlenarbeiter-Strike. * Die Beendigung des Strikes in den Kohlenbergwerken wird, wie von vornherein nicht anders zu erwarten war, hier und da noch durch mancherlei Zwiſchenfälle geſtört. Die- ſelben rühren insbeſondere von Racheakten an Strike- brechern her; ſo hatte eine Attacke auf einen Strikebrecher in Dux einen Konflikt der ſchon wieder in Arbeit befind- lichen Häuer mit der Werkleitung zur Folge, der mit einem neuen Ausſtand der Häuer endigte. Es war die ſonderbare Forderung an die Werkleitung geſtellt worden, ſämmtlichen Arbeitern zu kündigen, die während des allgemeinen Strikes gearbeitet hatten. Die Bedrohung der Arbeitswilligen iſt auch in Kladno die Urſache der noch immer nicht günſtigen Situation; es ſind hier noch etwa 68 Proz. der Arbeiter im Ausſtand. Zur Schicht kommende Bergleute wurden mit Revolvern angefallen und an Arbeiterhäuſern wurden Brand- legungen ausgeführt. Doch wird nun wohl bald auch an dieſem Orte Ruhe und normaler Arbeitsbetrieb eintreten. Im Mähriſch-Oſtrauer Revier, wo der Strike ſeinerzeit den relativ größten Umfang angenommen hatte und am hart- näckigſten durchgeführt wurde, iſt derſelbe jetzt faſt vollſtändig beigelegt. Es fehlten auf der Mittwoch-Frühſchicht im Weſt- revier noch etwa 1100 Gruben- und 700 Tagarbeiter, im Oſtrevier Niemand; die längſte Zeit aber ſtrikten hier 25,000 Mann und mehr. Die Kohlenförderung ſoll jetzt ſogar un- gewöhnlich ſtark ſein, da die Arbeiter ſich alle Mühe geben, die Lohnverluſte einzubringen. Deutſch-Radikale und Deutſch-Liberale in Tirol. z. Innsbruck, 28. März.Eine dieſer Tage von der deutſch-radikalen Richtung Tirols („Deutſcher Wähler- verein“) ausgegangene Kundgebung, worin die dentſche Ge- meinbürgſchaft, beſonders wegen ihres Verhaltens auf der Verſtändigungskonferenz, aufs ſchärſſte angegriffen wurde, veranlaßte den „Deutſch-liberalen Verein“ zu einer Gegenkundgebung, um die Haltung der Gemeinbürgſchaft zu vertheidigen und zu rechtfertigen und die radikalen Inſulten zurückzuweiſen. Reichstagsabgeordneter Dr. v. Grabmayr (liberaler Großgrundbeſitz) ging zwecks Begründung dieſes Abwehrmanifeſtes des Deutſch-liberalen Vereins in deſſen geſtriger Generalverſammlung ausführlich auf die allgemeine politiſche Lage ein und lieferte dabei ſchätzenswerthe Beiträge zur Beurtheilung der aktuellſten Fragen. Was unſern Ein- tritt in die Verſtändigungskouferenz vor Feſtlegung der deutſchen Staatsſprache anbetrifft, ſagte Grabmayr, ſo ſehe auch ich es als eine Nothwendigkeit für Oeſterreich an, daß es eine Staatsſprache habe, und zwar die deutſche. Aber ich bin überzeugt, daß in dieſer Form die Einführung der deutſchen Staatsſprache unter den heutigen Verhältniſſen nicht möglich iſt. In jenen Zeiten, wo die Deutſchen eine Zweidrittelmajorität im Reichsrath hatten, da wäre es an der Zeit geweſen, die deutſche Staatsſprache einzuführen. Daß die deutſchen Abgeordneten dies damals unterlaſſen haben, iſt der größte Vorwurf, den man ihnen machen muß. Was die große Verfaſſungspartei damals hatte machen können, können wir heute — nicht mehr machen. Unter 425 Abgeordneten ſind 198 Deutſche und unter dieſen leider eine nicht geringe Zahl „Auchdeutſche“, auf die wir nicht rechnen können. Das Geſetz der Zahl müſſen wir gelten laſſen. Wie wollen wir eine ſolche Forderung durchſetzen? Sollen wir den Staatsſtreich verlangen? Das kann ich nicht. Die deutſche Staatsſprache in vollem Umfang können wir nicht durchſetzen. Das wurde auch beim Entwurf des Pfingſt- programms, wobei entſchieden nationale Männer wie Dr. Lemiſch mitwirkten, wohl erwogen. Es wurde damals be- ſchloſſen, ſich mit der deutſchen Vermittelungsſprache zu begnügen. Das iſt nur ein formeller Unterſchied. Mehr können wir nicht erreichen, als daß das Geltungsgebiet der deutſchen Sprache in dem Umfang feſtgelegt wird, in dem ſie heutzutage beſteht. Daß wir ihr Gebiete erobern, die ſie heute nicht hat, iſt unmöglich. Ich bedaure, daß das Miniſterium Koerber es in dieſem Punkt an der Klarheit hat miſſen laſſen, die wir von ihm fordern können. Wenn wir uns fragen, was der grundlegende Unterſchied zwiſchen der politiſchen Haltung der Schönerer-Gruppe und der deutſchen Gemeinbürgſchaftspartei iſt, ſo beſteht dieſer darin, daß letztere den aufrichtigen Willen hat, wenn möglich den Frieden und eine Verſtändigung zuſtande zu bringen, unter der unerläßlichen Vorausſetzung, daß unſer nationaler Beſitzſtand geſichert wird. Wir wollen Frieden und Verſtändigung, ſonſt geht dieſes Reich zugrunde. Wir von der deutſchen Gemeinbürgſchaft aber wollen die Kata- ſtrophe aufhalten und ſind bereit, gewiſſe Konzeſſionen zu machen, ſolange dieſe nicht an die Lebensbedin- gungen unfres Volkes taſten. Dr. v. Grabmayr be- ſprach ſodann die Stellung zum Miniſterium Koerber und ſagte: Durch den Sturz Clary’s wurde uns ein Schlag ver- ſetzt. Clary war wieder einmal ein deutſcher Mann, offen und wahr. Dem Miniſterium Koerber ſtehen wir kühler gegenüber. Redner bezeichnet den Miniſterpräſidenten als ungemein geſchickten Mann, als eine feine Blüthe des öſter- reichiſchen Bureaukratismus. National iſt er gar nicht. Für ihn gibt es nur das Intereſſe, das Staatsſchiff wieder heraus- zulotſen. Daß Koerber irgend einen entſcheidenden Schritt in Betreff des ſchwebenden nationalen Streites unternimmt, ohne ſich der Zuſtimmung der Deutſchen verſichert zu haben, brauchen wir nicht zu fürchten. Wenn der Abſolutismus käme, würde er keiner Partei zum Wohle gereichen. Großbritannien. Spanien, England und Frankreich in Marokko. ᵪ. London, 28. März.England ermuthigt Spanien nach Kräften, der drohenden franzöſiſchen Vorwärts- bewegung gegen Marokko entgegenzuarbeiten und die ſpaniſchen Intereſſen im mauriſchen Reich zu wahren. Der Premierminiſter Señor Silvela gab neulich die Erklärung ab, daß die ſpaniſche Geſandtſchaft unter Ojeda — die für den Sultan ſehr werthvolle Geſchenke mitnimmt — den Zweck habe, gewiſſe frühere Abmachungen neuerdings zu erörtern, Anordnungen für genügende Waſſerzuleitung in den zu Spanien gehörigen befeſtigten Plätzen zu treffen, genaue Gebietsabgrenzungen zu vereinbaren und ein definitives Ueber- einkommen mit Bezug auf Santa Cruz de Mar Pequeña ab- zuſchließen. Silvela fügte hinzu, daß die ſpaniſche Regierung bei ihren Verhandlungen mit dem Sultan eine Ueberein- ſtimmung mit den übrigen Mächten herzuſtellen ſuche. In Anknüpfung hieran ſpricht die „Epoca“ die Befürchtung aus, daß über kurz oder lang eine ehrgeizige Macht — ſoll natürlich heißen Frankreich — einen Umſturz herbeizuführen ſuchen wird, und daß Spanien nicht imſtande ſei, Widerſtand zu leiſten, wenn nicht die übrigen Mächte ſein Vorgehen unter- ſtützten. Daß ſich eine Uebereinſtimmung „aller übrigen Mächte“ herſtellen ließe, iſt wohl ſehr unwahrſcheinlich. Natürlich hat England das größte Intereſſe, im gegenwärtigen Augen- blick das Aufrollen der marokkaniſchen Frage zu verhindern. Und es heißt, kein Geheimuiß verrathen, daß die britiſche Politik das Ziel im Auge hat, ihre Aufmerkſamkeit, ſobald es gelungen iſt, Südafrika vollſtändig unter britiſche Botmäßig- keit zu bringen, auf Marokko und Abeſſyuien zu richten. Die Schlüſſel zur britiſchen Weltherrſchaft liegen an den beiden Enden des Mittelmeers, und die Engländer können nie ſicher ſein, daß ihnen dieſe Schlüſſel nicht entriſſen werden, ſolange ſie nicht auch die marokkaniſche Seite der Straße von Gibraltar in ihrer Gewalt haben, und ſolange der Regus von Abeſſynien in der Lage iſt, ihre Herrſchaft am Nil vom Süden her zu bedrohen. Die Franzoſen wiſſen aber ſehr wohl, daß England ſich die Löſung dieſer beiden Fragen auf- ſparen möchte, bis es wieder vollſtändig freie Hände hat —, und ihr Beſtreben, ſich gerade jetzt in Marokko und Abeſſynien entſcheidende Vortheile zu ſichern, iſt daher ſehr begreiflich. Ob die Umſtände und die Machtverhältniſſe die Ausführung der franzöſiſchen Pläne geſtatten, iſt vielleicht fraglich. Der Wille, einen Schlag zu führen, iſt jedenfalls vor- handen. Das beweiſen die myſteriöſen Truppenbewegungen, die ſeit einiger Zeit bei Oran, dicht an der marokkaniſchen Grenze, ſtattſinden. Frankreich. Die Ordensmanie. ᓬ Paris, 27. März.Ueber franzöſiſche Miniſter- kriſen, beſonders wenn ſie nicht eingetreten ſind, ſondern nur eventuell hätten eintreten können, zu ſchreiben, lohnt ſich nicht. Wie die Republik hier etikettirt iſt, ob Waldeck oder Ribot, kann uns ungeheuer gleichgültig ſein; es iſt das für uns, um ein franzöſiſches Sprichwort von dem „bonnet blane on blane bonnet“ frei ins Deutſche zu überſetzen, Jacke wie Weſte. Waldeck ſtützt ſich ein bischen mehr auf die Linke, leuguet das aber, und Ribot, ſein muthmaßlicher Erbe, würde ſich ein bischen mehr an die Rechte anlehnen, aber auch nur heimlich. Im übrigen wird im Innern weiter gewurſtelt und nach außen weiter an dem Revanchefaden ge- ſie nach vorliegenden Briefen, Poſtſtücken, Begleitadreſſen, Zertifikaten und dergleichen. Nichts da, als unterm Amts- tiſch ein Kiſtchen Käſe, das die Poſtmeiſterin vergeſſen und als Fußſchemel benutzt zu haben ſcheint. Flink befördert Lina dieſen Duftſpender hinaus in den Flur und öffnet dann ſämmtliche Fenſter. Ein weiteres Geſchäft iſt die Entfernung der Fruchtvorräthe und ſo weiter aus der Kanzlei, wobei das Poſtfräulein die Gegenſtände ſchlank- weg in die nächſtbeſte Stube verbringt. Das erzeugte natür- lich Lärm, und dieſer lockte wieder die Bäuerin herbei, die den Vorgang zu ahnen ſchien und lebhaft proteſtirte. Lina aber forderte vor allem Einlöſung des Bons, widrigen- falls das Manko im Protokoll vermerkt werden müßte. Das ſtopfte der halbblinden Poſtmeiſterin ſofort den Mund, doch that ſie dergleichen, als müſſe jemand anders ſolchen Zettel in die Geldtaſche gelegt haben. Die Leute ſeien ja ſo ſchlecht heutzutage. Das Poſtfräulein beſtand aber auf ſofortiger Baareinlöſung, da der Zettel die Unter- ſchrift „Poſtmeiſterin“ trage, und ſeufzend holte die depoſſe- dirte Poſtmeiſterin die Fünfguldennote herbei, hoch be- theuernd, nun nichts mehr von der Malefizpoſt wiſſen zu wollen. „Das iſcht auch nicht nöthig!“ verſicherte Lina und fragte, ob ſie in dem Bett dort nächtigen ſolle. „Freilich, iſcht wohl ein feines Bett, lauter echte Hühnerfedern und ſo viel gut ſchwer!“ Lina bat um friſches Linnen, kam aber übel an, denn die Bäuerin ſchwor, daß Niemand drin gelegen habe als die Zeit her, ſo etliche Monate, der Pintſcher. Mit der Wäſche müſſe geſpart werden, weil die Seife ſo viel theuer ſei. Die Unterredung endete gleichwohl damit, das ſich die ſparſame Poſtmeiſterin zur Herausgabe eines friſchen Linnen bequemte. Und nun fing das Poſtfräulein zu amtiren an, indem es die Formulare ordnete, Tinte ins Fäßchen goß und dann das im Hausflur befindliche Briefkäſtchen entleerte. Viel iſt nicht darin, bloß eine Korreſpondenzkarte, die einige Tage beſchaulicher Ruhe im Kaſten genoſſen zu haben ſcheint, denn der Abſender hat ein Datum vor drei Tagen hinten angeſetzt. Und der Inhalt der Karte lautet: „Her Gaskomiſſär kumens gleich, ich hab die Maul- und Klauen- ſeuche, womit ich zeichne Georg Augenthaler, Einödbauer im Hartberg.“ Beluſtigt legte Lina dieſe ergötzliche Karte ins Aus- laufsfach. So kommt der Schluß der Amtszeit, die ſechste Stunde, heran, wovon ſich die Expeditorin durch einen Blick auf ihre Taſchenuhr überzeugt. Schon will Lina ſchließen, da werden ſchwere Tritte im Flur laut, und ein Bauer flucht draußen. Es klopft, und auf das „Herein!“ geht die Thür auf, durch welche ein Bergbauer eine Ziege ſchiebt. Erſtaunt ruft das Fräulein: „Ja, was ſoll denn das heißen? Hier iſcht doch kein Stall!“ „Iſcht da die Poſt?“ „Ja, hier iſcht die Poſtkanzlei. Was wollen Sie denn mit der Geiß in der Poſt?“ „Frag nicht ſo dumm! Aufgeben will ich die Geiß und per Poſt fortſchicken, weißt, dem Jackelbauern in St. Niko- laus. Da haſt es und mach’s preſſant!“ Das Poſtfräulein iſt ſtarr vor Erſtaunen. Der Kaiſer- lich Königlichen Poſt zuzumuthen, eine lebende Ziege zu befördern, das iſt noch nicht vorgekommen. Endlich faßt ſich die Expeditorin ſo weit, um dem Bauern begreiflich machen zu können, daß die Poſt dergleichen überhaupt nicht befördere. „So, nicht? Das wär’ was ganz Neues. Zu was biſt denn du da auf der Poſt?“ „Jedenfalls nicht zum Geißenhüten! Entfernen Sie ſich mit Ihrer Ziege!“ „Ich rath dir im guten: gleich verſchickſt mir die Geiß! Auf ein Sechſerl Trinkgeld ſoll’s mir nicht ankommen.“ „Ich muß laut Vorſchrift die Annahme verweigern.“ „Kreuzſakra! Mögen thuſt nicht und zu herriſch biſcht, das Viech anzugreifen. Ich beſchwer’ mich! So eine herri- ſche Trampin gehört nicht auf die Poſt!“ Wüthend ſchob der Bauer ſeine Ziege aus der Kanzlei und ſchimpfte, was das Zeug hielt. Lina lächelte; der Dienſtanfang verſprach niedlich zu werden. Ein Stündchen widmete das Fräulein nun dem Aus- kramen des Handgepäcks, dann ward es zum Abendeſſen gerufen. Die Poſtfräuleins haben nämlich in entlegenen Orten meiſt Koſt und Quartier beim Inhaber der Poſt- meiſterei und werden mit zehn bis fünfzehn Gulden baar für den Poſtdienſt entſchädigt. Daß Lina mit dem alten Knecht und den zwei Dirnen am ſelben Tiſch eſſen mußte und die grobe Geſindekoſt vor- geſetzt bekam, das war eine weitere Beigabe zu den An- nehmlichkeiten im Leben eines Poſtfräuleins im Gebirg. Der Abend aber gehörte Lina, und nach ſorgfältigem Verſchluß der Kanzlei ward ein Spaziergang den See ent- lang gemacht zur Erquickung der einſamen Seele. (Fortſetzung folgt.) G. Jean Jacques Rouſſeau’s Kinder.Mrs. Mac- donald, eine Schottin, hat ſich in den Kopf geſetzt, aus ihrem verehrten Rouſſeau einen Heiligen zu machen. Das Unter- faugen iſt ſchwierig. Und wenn es ihr auch gelänge, ihn von gewiſſen kleinen Sünden rein zu waſchen, würde ſie da- durch den Ruhm ſeines Namens weſentlich erhöhen? Wäre es nicht ſchade, wenn ihm ſein Privatleben nicht den Stoff zu ſeinen Confessions geliefert hätte? Mrs. Macdonald will dem Leben ihres Rouſſeau durchaus dieſelbe Sittenſtrenge und Reinheit andichten, wie ſie einem presbyterianiſchen ſchottiſchen Paſtor zukommt. Sie beſchäftigt ſich in einem Artikel der „Revue des Revues“ mit den fünf Kindern Jean Jacques’, die er nach ſeinem eigenen Geſtändniſſe ins Findelhaus ge- bracht hat, und ſtellt die Behauptung auf: Rouſſeau hat überhaupt kein Kind gehabt. So hat alſo Therèſe Levaſſeur fünfmal mit ihm Komödie geſpielt und ihn zum Vater ihrer Kinder geſtempelt, deren Vater er in Wirklichkeit nicht war. Das iſt höchſt unwahrſcheinlich: ſelbſt ein Genie kann nicht bis zu dieſem Grade achtlos und zerſtreut ſein. Auch bringt Mrs. Macdonald keine ſtichhaltigen Beweiſe bei, ſondern nur unbeſtimmte Vermuthungen. Uebrigens wäre Rouſſeau’s ſitt- liches Verſchulden damit gar nicht aus der Welt geſchafft oder auch nur gemildert: der moraliſche Akt, der ſeine Schuld bildet, bliebe beſtehen, nämlich die Unterbringung der Kinder im Findelhaufe.

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 87, 30. März 1900, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine87_1900/2>, abgerufen am 16.07.2024.