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Allgemeine Zeitung, Nr. 87, 27. März 1848.

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[Spaltenumbruch] umgeben die geistig ihnen nicht gleich, politisch nicht über ihnen stan-
den; gegenüber ihnen stand nur der Barbar. Die Idee des Staates
konnte sich daher bei ihnen auf dem der menschlichen Wirkungskraft so
angemessenen Umfang einzelner Stadtgebiete am leichtesten verwirk-
lichen, am vollkommensten entwickeln. Diese Idee des Staates aber,
die Mutter der abstracten Vaterlandsliebe, hat nach ihrer Auferstehung
gegen Ende des Mittelalters unter allen Nationen Europa's ein beson-
ders merkwürdiges Schicksal bei uns Deutschen gehabt. Da es näm-
lich zur Zeit ihres Aufkommens in Deutschland schon zu spät war sich
in der kaiserlichen Gewalt der Gesammtnation zu verkörpern, so ver-
suchte sie sich nur an der Landeshoheit der Reichsfürsten, und ward die
Seele, der Keim der Größe des Territorialwesens. Mit rücksichtsloser
Consequenz und schlecht belohntem Eifer leisteten die Gelehrten und
Staatstheoretiker hierbei große Dienste. Ganz nach dem Muster antiker
Republiken bauten sie ihre abstracte Staatsgewalt auf und dotirten sie
mit allen erdenklichen Rechten, unbekümmert an wen diese Allmacht in
der Wirklichkeit ungetheilt überging, wer sie übte. Doch brauchte die
souveräne Staatsidee noch drei Jahrhunderte bis sie alle historischen
Hindernisse, alle schwerverdaulichen Körper in Reich und Kirche zersetzt,
ausgestoßen und besiegt hatte.

Da die antike Staatsliebe dem deutschen Blut von Grund aus
fremd ist, so schlug der theoretische Patriotismus doch nur in sehr we-
nigen deutschen Staaten Wurzel. Will man in diesen Staaten von
einer preußischen, einer bayerischen Nation reden, so läßt sich der Be-
griff noch allenfalls in einer Definition unterbringen; schwieriger wird
die Sache wenn wir nach einer lippischen und hamburgischen Nation
fragen. Man fühlt wohl, hier darf dem guten Geschmack des Sprach-
gebrauchs keine Gewalt angethan werden. Die Gegensätze solcher Na-
tionalitäten beruhen gar nur auf conventionellen Bestimmungen und
dynastischen Rechten. Sprache, Bildung, Geschichte, Litteratur und
Bundesrecht lassen der Natur gemäß in den Gränzen der deutschen
Staaten keine Unterbrechung einer gemeinsamen größeren Nationalität
erkennen, sondern vielmehr einen Sporn, eine Schule. Unter einer
nur noch scheinbaren äußeren Einheit des Reichs war das Bewußtseyn
deutscher Nationalität langsam entschlummert. Dasselbe zur Reaction
zu erwecken bedurfte es einer schmählichen fremden Unterjochung, einer
für alle Stände und Volksclassen beschämenden Mißhandlung, einer
gemeinsamen Verzweiflung wie sie die Freiheitskriege zeigten. Der
Anstoß war mächtig und nachhaltig. Wenn auch in den darauf fol-
genden 25 Jahren die Lebensthätigkeit sich scheinbar mehr in den con-
stitutionellen Kämpfen im Innern der mittleren und kleineren Staaten
äußerte, so hat doch das Jahr 1840 die Macht der Nationalität in der
Weise dargethan daß künftig nicht wohl eine Regierung ihr zuwider
wird handeln mögen. Also nicht der Unterschied der Stämme, der
Staaten und Regierungen steht der deutschen Nationalität so sehr im
Wege und hindert sie in politischer Bildung voranzuschreiten, als ein
anderer tieferer Grund in den Charakteranlagen der Nation selbst.
Gibt es nicht gewisse Züge welche sich besonders zeigen in der Art wie
sich die Parteien bei uns entgegenstehen, die politischen, die kirchlichen
und die der materiellen Interessen? In der Art wie sie sich besonders
in der Presse und selbst in der Censur bekämpfen? Man sagt zwar mit
Recht daß der Streit überall das Leben bedinge, und oft während der
heftigsten inneren Kämpfe die Thatkraft sich auch nach außen am mäch-
tigsten bewähre. Allein dazu gehört daß die Parteien in einem Staat
doch in einigen wesentlichen Punkten untereinander einig seyen, daß sie
irgendwo einen gemeinsamen Boden anerkennen, daß sie sich gegenseitig
nicht allein das Recht des Daseyns zugestehen, sondern auch den guten
Glauben, die ehrliche Ueberzeugung, und daß sie andere persönliche,
zur Parteisache nicht gehörende Eigenschaften gelten lassen. In allen
diesen Stücken sind wir sehr krank. Die Spaltungen und Risse unseres
geistigen Lebens gehen tief ein, und quer durch Stämme, Staaten und
Gemeinden, ja durch die Nationalität selbst hindurch, und lassen diese
-- während man sie in Worten vergöttert -- in der That oft als Irr-
thum und Lüge erscheinen. Dann schlägt bei vielen, ehrlich gesagt,
das Herz nicht für Brüder gleichen politischen Glaubens in Polen, Ita-
lien und der Schweiz, ja jenseits des Oceans, ganz anders feurig als
für die Brüder im Nachbarhaus, die zwar dasselbe Deutsch reden, aber
ein anderes Staatslexikon lesen? Die Wünsche und Sympathien,
Adressen und Collecten kennen keine Gränzpfähle, und die Schaden-
freude bei gewissen Ereignissen erinnert an jene naive Bauerntochter
die, von den Eltern gegen ihren Willen verheirathet, und von ihrem
[Spaltenumbruch] Manne alsbald geprügelt, oft ausrief: "das gönn' ich meinen Leuten!"
Betrachten wir den Einfluß jener Parteistellungen auf unsere Nationa-
lität noch etwas näher, gewiß so finden wir daß keine Partei in Deutsch-
land mit Bewußtseyn antinational ist. Ohne Zweifel geht auch jetzt
noch am tiefsten durch das Herz des Volkes die Spaltung im Glauben.
In diesem Gefäß der deutschen Einheit ist ein so starker Sprung daß
ein heller Klang daraus wohl schwerlich zu den Ohren der jetzt Leben-
den mehr dringen wird. Was nützt es daß in der protestantischen Welt
so manches katholische Gemüth, in der katholischen so viel protestanti-
scher Verstand zerstreut ist? Wen kann es trösten daß der Grundgedanke
des Christenthums ebenso wie die poetische und sinnbildliche Ausstat-
tung der Phantasten bei ganzen Schichten beider Welten erloschen
scheint? ja daß die vorzugsweise lesenden, schreibenden, redenden und
handelnden Massen sogar den tieferen Glaubensfragen eigentlich fremd
sind? Die Wurzeln beider feindlichen Principien liegen in dem ge-
lockerten Boden, und die letzten Jahre haben bewiesen wie selbst deren
wilde Schößlinge wunderbar auffchießen, wenn sie als Surrogate poli-
tischer Agentien dienen. Solche Versuchungen sind fast zu stark für
uns! Aber dessenungeachtet wollen wir nicht verzweifeln. Die Lehre
kam vielleicht gerade zu rechter Zeit, damit künftig politischer Streit
nur auf politischem Boden geführt werde. In den Reihen der natio-
nalen, vorherrschend protestantischen Bewegung weiß man doch jetzt daß
die katholischen Deutschen, welche aus unvergänglichen Gründen des
Vertrauens und der Liebe zu ihrer Kirche halten, an Zahl und Macht
zu stark sind als daß gegen oder ohne sie von Nationalität die Rede
seyn dürfte. Und wenn auch die katholischen Interessen gegen das bu-
reaukratische Jahrhundert ihre eigenen Kämpfe zu führen haben, zu
denen die protestantischen nicht ganz die Parallele bieten, so ist doch
um so weniger Grund vorhanden diese Stellung zu verrücken oder gar
zu verdächtigen, als sie heute mit dem Interesse keiner weltlichen Macht
mehr zusammenfällt, sondern allein auf der freiwilligen Treue der Be-
völkerungen beruht.

Was die eigentlichen politischen Parteien betrifft -- so ist der
Begriff einer Partei mit anerkannten Häuptern und Preßorganen in
Deutschland zwar gesetzlich bis jetzt nicht zugelassen, und auch bei ver-
änderten Preßverhältnissen hätten die Regierungen wohl unrecht wenn
sie über ihre respectiven Gränzen hinaus das Vorhandenseyn einer pro-
gressistischen Nationalpartei zugestehen wollten, ohne ihr eine conser-
vative Bundespartei entgegensetzen zu können -- aber gegenwärtig sind,
wie gesagt, alle Fractionen der öffentlichen Meinung national, oder
haben wenigstens bis zum Beweis des Gegentheils ein Recht dafür zu
gelten. Schwerer wird der Beweis, weit praktischer die Probe auf dem
Gebiete der materiellen Interessen. Dafür ist die Bewegung hier um
so gesünder und hoffnungsvoller. Und wenn auch zwischen Handels-
freiheit und Schutzsystem, zwischen dem Zollverein und seinen Gegen-
sätzen der Kampf langsam und peinlich scheint, so ist doch der Fortschritt
sicher und wird in Deutschland die Gefahren des Communismus nicht
weniger als die jüdische Geldallmacht überwinden helfen. Hier ist ein
wahrer Prüfstein der Nationalität, und ihr gegenüber wird auf die
Dauer das vornehme Naserümpfen einer kosmopolitischen Freistadt
ebensowenig Glück machen als ein beschränkter Kantönligeist. Es möge
uns offene Mitbewerbung und ehrlicher Kampf auch hier gestattet und
anerkannt werden. Das ganze Thema ist reich und sein Inhaltsver-
zeichniß noch lange nicht erschöpft. Die Gegensätze zu andern Natio-
nalitäten durch die verschiedenen gesellschaftlichen Stände durchgeführt,
deren corporative und individuelle Tugenden, Schwächen und Untugen-
den mit Selbstverläugnung betrachtet, bieten ein neues weites Feld.
Die ersten Gedanken zu diesen Zeilen hatten sich um die Jahreswende
aneinandergereiht; nun mögen sie sich in der Mitte zwischen den Neu-
jahrswünschen und Fastenpredigten ihre Stelle suchen.*)



Aus Wien.

Die großen und erfreulichen Ereignisse
überströmen uns völlig, so daß wir die Zeit zu umfassenden Schilde-
rungen nicht haben und uns auf bloße Erwähnung der Thatsachen be-
schränken müssen. Amnestie allen politischen Gefangenen in Polen und
Lombardei-Venedig. Dieser kaiserliche Act erfüllt die Herzen von
Tausenden mit Freude und Dank. Die hier lebenden Engländer haben

*) Bezeichnet die Tage in denen der Auffatz uns zugekommen.

[Spaltenumbruch] umgeben die geiſtig ihnen nicht gleich, politiſch nicht über ihnen ſtan-
den; gegenüber ihnen ſtand nur der Barbar. Die Idee des Staates
konnte ſich daher bei ihnen auf dem der menſchlichen Wirkungskraft ſo
angemeſſenen Umfang einzelner Stadtgebiete am leichteſten verwirk-
lichen, am vollkommenſten entwickeln. Dieſe Idee des Staates aber,
die Mutter der abſtracten Vaterlandsliebe, hat nach ihrer Auferſtehung
gegen Ende des Mittelalters unter allen Nationen Europa’s ein beſon-
ders merkwürdiges Schickſal bei uns Deutſchen gehabt. Da es näm-
lich zur Zeit ihres Aufkommens in Deutſchland ſchon zu ſpät war ſich
in der kaiſerlichen Gewalt der Geſammtnation zu verkörpern, ſo ver-
ſuchte ſie ſich nur an der Landeshoheit der Reichsfürſten, und ward die
Seele, der Keim der Größe des Territorialweſens. Mit rückſichtsloſer
Conſequenz und ſchlecht belohntem Eifer leiſteten die Gelehrten und
Staatstheoretiker hierbei große Dienſte. Ganz nach dem Muſter antiker
Republiken bauten ſie ihre abſtracte Staatsgewalt auf und dotirten ſie
mit allen erdenklichen Rechten, unbekümmert an wen dieſe Allmacht in
der Wirklichkeit ungetheilt überging, wer ſie übte. Doch brauchte die
ſouveräne Staatsidee noch drei Jahrhunderte bis ſie alle hiſtoriſchen
Hinderniſſe, alle ſchwerverdaulichen Körper in Reich und Kirche zerſetzt,
ausgeſtoßen und beſiegt hatte.

Da die antike Staatsliebe dem deutſchen Blut von Grund aus
fremd iſt, ſo ſchlug der theoretiſche Patriotismus doch nur in ſehr we-
nigen deutſchen Staaten Wurzel. Will man in dieſen Staaten von
einer preußiſchen, einer bayeriſchen Nation reden, ſo läßt ſich der Be-
griff noch allenfalls in einer Definition unterbringen; ſchwieriger wird
die Sache wenn wir nach einer lippiſchen und hamburgiſchen Nation
fragen. Man fühlt wohl, hier darf dem guten Geſchmack des Sprach-
gebrauchs keine Gewalt angethan werden. Die Gegenſätze ſolcher Na-
tionalitäten beruhen gar nur auf conventionellen Beſtimmungen und
dynaſtiſchen Rechten. Sprache, Bildung, Geſchichte, Litteratur und
Bundesrecht laſſen der Natur gemäß in den Gränzen der deutſchen
Staaten keine Unterbrechung einer gemeinſamen größeren Nationalität
erkennen, ſondern vielmehr einen Sporn, eine Schule. Unter einer
nur noch ſcheinbaren äußeren Einheit des Reichs war das Bewußtſeyn
deutſcher Nationalität langſam entſchlummert. Dasſelbe zur Reaction
zu erwecken bedurfte es einer ſchmählichen fremden Unterjochung, einer
für alle Stände und Volksclaſſen beſchämenden Mißhandlung, einer
gemeinſamen Verzweiflung wie ſie die Freiheitskriege zeigten. Der
Anſtoß war mächtig und nachhaltig. Wenn auch in den darauf fol-
genden 25 Jahren die Lebensthätigkeit ſich ſcheinbar mehr in den con-
ſtitutionellen Kämpfen im Innern der mittleren und kleineren Staaten
äußerte, ſo hat doch das Jahr 1840 die Macht der Nationalität in der
Weiſe dargethan daß künftig nicht wohl eine Regierung ihr zuwider
wird handeln mögen. Alſo nicht der Unterſchied der Stämme, der
Staaten und Regierungen ſteht der deutſchen Nationalität ſo ſehr im
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anderer tieferer Grund in den Charakteranlagen der Nation ſelbſt.
Gibt es nicht gewiſſe Züge welche ſich beſonders zeigen in der Art wie
ſich die Parteien bei uns entgegenſtehen, die politiſchen, die kirchlichen
und die der materiellen Intereſſen? In der Art wie ſie ſich beſonders
in der Preſſe und ſelbſt in der Cenſur bekämpfen? Man ſagt zwar mit
Recht daß der Streit überall das Leben bedinge, und oft während der
heftigſten inneren Kämpfe die Thatkraft ſich auch nach außen am mäch-
tigſten bewähre. Allein dazu gehört daß die Parteien in einem Staat
doch in einigen weſentlichen Punkten untereinander einig ſeyen, daß ſie
irgendwo einen gemeinſamen Boden anerkennen, daß ſie ſich gegenſeitig
nicht allein das Recht des Daſeyns zugeſtehen, ſondern auch den guten
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zur Parteiſache nicht gehörende Eigenſchaften gelten laſſen. In allen
dieſen Stücken ſind wir ſehr krank. Die Spaltungen und Riſſe unſeres
geiſtigen Lebens gehen tief ein, und quer durch Stämme, Staaten und
Gemeinden, ja durch die Nationalität ſelbſt hindurch, und laſſen dieſe
— während man ſie in Worten vergöttert — in der That oft als Irr-
thum und Lüge erſcheinen. Dann ſchlägt bei vielen, ehrlich geſagt,
das Herz nicht für Brüder gleichen politiſchen Glaubens in Polen, Ita-
lien und der Schweiz, ja jenſeits des Oceans, ganz anders feurig als
für die Brüder im Nachbarhaus, die zwar dasſelbe Deutſch reden, aber
ein anderes Staatslexikon leſen? Die Wünſche und Sympathien,
Adreſſen und Collecten kennen keine Gränzpfähle, und die Schaden-
freude bei gewiſſen Ereigniſſen erinnert an jene naive Bauerntochter
die, von den Eltern gegen ihren Willen verheirathet, und von ihrem
[Spaltenumbruch] Manne alsbald geprügelt, oft ausrief: „das gönn’ ich meinen Leuten!“
Betrachten wir den Einfluß jener Parteiſtellungen auf unſere Nationa-
lität noch etwas näher, gewiß ſo finden wir daß keine Partei in Deutſch-
land mit Bewußtſeyn antinational iſt. Ohne Zweifel geht auch jetzt
noch am tiefſten durch das Herz des Volkes die Spaltung im Glauben.
In dieſem Gefäß der deutſchen Einheit iſt ein ſo ſtarker Sprung daß
ein heller Klang daraus wohl ſchwerlich zu den Ohren der jetzt Leben-
den mehr dringen wird. Was nützt es daß in der proteſtantiſchen Welt
ſo manches katholiſche Gemüth, in der katholiſchen ſo viel proteſtanti-
ſcher Verſtand zerſtreut iſt? Wen kann es tröſten daß der Grundgedanke
des Chriſtenthums ebenſo wie die poetiſche und ſinnbildliche Ausſtat-
tung der Phantaſten bei ganzen Schichten beider Welten erloſchen
ſcheint? ja daß die vorzugsweiſe leſenden, ſchreibenden, redenden und
handelnden Maſſen ſogar den tieferen Glaubensfragen eigentlich fremd
ſind? Die Wurzeln beider feindlichen Principien liegen in dem ge-
lockerten Boden, und die letzten Jahre haben bewieſen wie ſelbſt deren
wilde Schößlinge wunderbar auffchießen, wenn ſie als Surrogate poli-
tiſcher Agentien dienen. Solche Verſuchungen ſind faſt zu ſtark für
uns! Aber deſſenungeachtet wollen wir nicht verzweifeln. Die Lehre
kam vielleicht gerade zu rechter Zeit, damit künftig politiſcher Streit
nur auf politiſchem Boden geführt werde. In den Reihen der natio-
nalen, vorherrſchend proteſtantiſchen Bewegung weiß man doch jetzt daß
die katholiſchen Deutſchen, welche aus unvergänglichen Gründen des
Vertrauens und der Liebe zu ihrer Kirche halten, an Zahl und Macht
zu ſtark ſind als daß gegen oder ohne ſie von Nationalität die Rede
ſeyn dürfte. Und wenn auch die katholiſchen Intereſſen gegen das bu-
reaukratiſche Jahrhundert ihre eigenen Kämpfe zu führen haben, zu
denen die proteſtantiſchen nicht ganz die Parallele bieten, ſo iſt doch
um ſo weniger Grund vorhanden dieſe Stellung zu verrücken oder gar
zu verdächtigen, als ſie heute mit dem Intereſſe keiner weltlichen Macht
mehr zuſammenfällt, ſondern allein auf der freiwilligen Treue der Be-
völkerungen beruht.

Was die eigentlichen politiſchen Parteien betrifft — ſo iſt der
Begriff einer Partei mit anerkannten Häuptern und Preßorganen in
Deutſchland zwar geſetzlich bis jetzt nicht zugelaſſen, und auch bei ver-
änderten Preßverhältniſſen hätten die Regierungen wohl unrecht wenn
ſie über ihre reſpectiven Gränzen hinaus das Vorhandenſeyn einer pro-
greſſiſtiſchen Nationalpartei zugeſtehen wollten, ohne ihr eine conſer-
vative Bundespartei entgegenſetzen zu können — aber gegenwärtig ſind,
wie geſagt, alle Fractionen der öffentlichen Meinung national, oder
haben wenigſtens bis zum Beweis des Gegentheils ein Recht dafür zu
gelten. Schwerer wird der Beweis, weit praktiſcher die Probe auf dem
Gebiete der materiellen Intereſſen. Dafür iſt die Bewegung hier um
ſo geſünder und hoffnungsvoller. Und wenn auch zwiſchen Handels-
freiheit und Schutzſyſtem, zwiſchen dem Zollverein und ſeinen Gegen-
ſätzen der Kampf langſam und peinlich ſcheint, ſo iſt doch der Fortſchritt
ſicher und wird in Deutſchland die Gefahren des Communismus nicht
weniger als die jüdiſche Geldallmacht überwinden helfen. Hier iſt ein
wahrer Prüfſtein der Nationalität, und ihr gegenüber wird auf die
Dauer das vornehme Naſerümpfen einer kosmopolitiſchen Freiſtadt
ebenſowenig Glück machen als ein beſchränkter Kantönligeiſt. Es möge
uns offene Mitbewerbung und ehrlicher Kampf auch hier geſtattet und
anerkannt werden. Das ganze Thema iſt reich und ſein Inhaltsver-
zeichniß noch lange nicht erſchöpft. Die Gegenſätze zu andern Natio-
nalitäten durch die verſchiedenen geſellſchaftlichen Stände durchgeführt,
deren corporative und individuelle Tugenden, Schwächen und Untugen-
den mit Selbſtverläugnung betrachtet, bieten ein neues weites Feld.
Die erſten Gedanken zu dieſen Zeilen hatten ſich um die Jahreswende
aneinandergereiht; nun mögen ſie ſich in der Mitte zwiſchen den Neu-
jahrswünſchen und Faſtenpredigten ihre Stelle ſuchen.*)



Aus Wien.

Die großen und erfreulichen Ereigniſſe
überſtrömen uns völlig, ſo daß wir die Zeit zu umfaſſenden Schilde-
rungen nicht haben und uns auf bloße Erwähnung der Thatſachen be-
ſchränken müſſen. Amneſtie allen politiſchen Gefangenen in Polen und
Lombardei-Venedig. Dieſer kaiſerliche Act erfüllt die Herzen von
Tauſenden mit Freude und Dank. Die hier lebenden Engländer haben

*) Bezeichnet die Tage in denen der Auffatz uns zugekommen.
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[1386/0010] umgeben die geiſtig ihnen nicht gleich, politiſch nicht über ihnen ſtan- den; gegenüber ihnen ſtand nur der Barbar. Die Idee des Staates konnte ſich daher bei ihnen auf dem der menſchlichen Wirkungskraft ſo angemeſſenen Umfang einzelner Stadtgebiete am leichteſten verwirk- lichen, am vollkommenſten entwickeln. Dieſe Idee des Staates aber, die Mutter der abſtracten Vaterlandsliebe, hat nach ihrer Auferſtehung gegen Ende des Mittelalters unter allen Nationen Europa’s ein beſon- ders merkwürdiges Schickſal bei uns Deutſchen gehabt. Da es näm- lich zur Zeit ihres Aufkommens in Deutſchland ſchon zu ſpät war ſich in der kaiſerlichen Gewalt der Geſammtnation zu verkörpern, ſo ver- ſuchte ſie ſich nur an der Landeshoheit der Reichsfürſten, und ward die Seele, der Keim der Größe des Territorialweſens. Mit rückſichtsloſer Conſequenz und ſchlecht belohntem Eifer leiſteten die Gelehrten und Staatstheoretiker hierbei große Dienſte. Ganz nach dem Muſter antiker Republiken bauten ſie ihre abſtracte Staatsgewalt auf und dotirten ſie mit allen erdenklichen Rechten, unbekümmert an wen dieſe Allmacht in der Wirklichkeit ungetheilt überging, wer ſie übte. Doch brauchte die ſouveräne Staatsidee noch drei Jahrhunderte bis ſie alle hiſtoriſchen Hinderniſſe, alle ſchwerverdaulichen Körper in Reich und Kirche zerſetzt, ausgeſtoßen und beſiegt hatte. Da die antike Staatsliebe dem deutſchen Blut von Grund aus fremd iſt, ſo ſchlug der theoretiſche Patriotismus doch nur in ſehr we- nigen deutſchen Staaten Wurzel. Will man in dieſen Staaten von einer preußiſchen, einer bayeriſchen Nation reden, ſo läßt ſich der Be- griff noch allenfalls in einer Definition unterbringen; ſchwieriger wird die Sache wenn wir nach einer lippiſchen und hamburgiſchen Nation fragen. Man fühlt wohl, hier darf dem guten Geſchmack des Sprach- gebrauchs keine Gewalt angethan werden. Die Gegenſätze ſolcher Na- tionalitäten beruhen gar nur auf conventionellen Beſtimmungen und dynaſtiſchen Rechten. Sprache, Bildung, Geſchichte, Litteratur und Bundesrecht laſſen der Natur gemäß in den Gränzen der deutſchen Staaten keine Unterbrechung einer gemeinſamen größeren Nationalität erkennen, ſondern vielmehr einen Sporn, eine Schule. Unter einer nur noch ſcheinbaren äußeren Einheit des Reichs war das Bewußtſeyn deutſcher Nationalität langſam entſchlummert. Dasſelbe zur Reaction zu erwecken bedurfte es einer ſchmählichen fremden Unterjochung, einer für alle Stände und Volksclaſſen beſchämenden Mißhandlung, einer gemeinſamen Verzweiflung wie ſie die Freiheitskriege zeigten. Der Anſtoß war mächtig und nachhaltig. Wenn auch in den darauf fol- genden 25 Jahren die Lebensthätigkeit ſich ſcheinbar mehr in den con- ſtitutionellen Kämpfen im Innern der mittleren und kleineren Staaten äußerte, ſo hat doch das Jahr 1840 die Macht der Nationalität in der Weiſe dargethan daß künftig nicht wohl eine Regierung ihr zuwider wird handeln mögen. Alſo nicht der Unterſchied der Stämme, der Staaten und Regierungen ſteht der deutſchen Nationalität ſo ſehr im Wege und hindert ſie in politiſcher Bildung voranzuſchreiten, als ein anderer tieferer Grund in den Charakteranlagen der Nation ſelbſt. Gibt es nicht gewiſſe Züge welche ſich beſonders zeigen in der Art wie ſich die Parteien bei uns entgegenſtehen, die politiſchen, die kirchlichen und die der materiellen Intereſſen? In der Art wie ſie ſich beſonders in der Preſſe und ſelbſt in der Cenſur bekämpfen? Man ſagt zwar mit Recht daß der Streit überall das Leben bedinge, und oft während der heftigſten inneren Kämpfe die Thatkraft ſich auch nach außen am mäch- tigſten bewähre. Allein dazu gehört daß die Parteien in einem Staat doch in einigen weſentlichen Punkten untereinander einig ſeyen, daß ſie irgendwo einen gemeinſamen Boden anerkennen, daß ſie ſich gegenſeitig nicht allein das Recht des Daſeyns zugeſtehen, ſondern auch den guten Glauben, die ehrliche Ueberzeugung, und daß ſie andere perſönliche, zur Parteiſache nicht gehörende Eigenſchaften gelten laſſen. In allen dieſen Stücken ſind wir ſehr krank. Die Spaltungen und Riſſe unſeres geiſtigen Lebens gehen tief ein, und quer durch Stämme, Staaten und Gemeinden, ja durch die Nationalität ſelbſt hindurch, und laſſen dieſe — während man ſie in Worten vergöttert — in der That oft als Irr- thum und Lüge erſcheinen. Dann ſchlägt bei vielen, ehrlich geſagt, das Herz nicht für Brüder gleichen politiſchen Glaubens in Polen, Ita- lien und der Schweiz, ja jenſeits des Oceans, ganz anders feurig als für die Brüder im Nachbarhaus, die zwar dasſelbe Deutſch reden, aber ein anderes Staatslexikon leſen? Die Wünſche und Sympathien, Adreſſen und Collecten kennen keine Gränzpfähle, und die Schaden- freude bei gewiſſen Ereigniſſen erinnert an jene naive Bauerntochter die, von den Eltern gegen ihren Willen verheirathet, und von ihrem Manne alsbald geprügelt, oft ausrief: „das gönn’ ich meinen Leuten!“ Betrachten wir den Einfluß jener Parteiſtellungen auf unſere Nationa- lität noch etwas näher, gewiß ſo finden wir daß keine Partei in Deutſch- land mit Bewußtſeyn antinational iſt. Ohne Zweifel geht auch jetzt noch am tiefſten durch das Herz des Volkes die Spaltung im Glauben. In dieſem Gefäß der deutſchen Einheit iſt ein ſo ſtarker Sprung daß ein heller Klang daraus wohl ſchwerlich zu den Ohren der jetzt Leben- den mehr dringen wird. Was nützt es daß in der proteſtantiſchen Welt ſo manches katholiſche Gemüth, in der katholiſchen ſo viel proteſtanti- ſcher Verſtand zerſtreut iſt? Wen kann es tröſten daß der Grundgedanke des Chriſtenthums ebenſo wie die poetiſche und ſinnbildliche Ausſtat- tung der Phantaſten bei ganzen Schichten beider Welten erloſchen ſcheint? ja daß die vorzugsweiſe leſenden, ſchreibenden, redenden und handelnden Maſſen ſogar den tieferen Glaubensfragen eigentlich fremd ſind? Die Wurzeln beider feindlichen Principien liegen in dem ge- lockerten Boden, und die letzten Jahre haben bewieſen wie ſelbſt deren wilde Schößlinge wunderbar auffchießen, wenn ſie als Surrogate poli- tiſcher Agentien dienen. Solche Verſuchungen ſind faſt zu ſtark für uns! Aber deſſenungeachtet wollen wir nicht verzweifeln. Die Lehre kam vielleicht gerade zu rechter Zeit, damit künftig politiſcher Streit nur auf politiſchem Boden geführt werde. In den Reihen der natio- nalen, vorherrſchend proteſtantiſchen Bewegung weiß man doch jetzt daß die katholiſchen Deutſchen, welche aus unvergänglichen Gründen des Vertrauens und der Liebe zu ihrer Kirche halten, an Zahl und Macht zu ſtark ſind als daß gegen oder ohne ſie von Nationalität die Rede ſeyn dürfte. Und wenn auch die katholiſchen Intereſſen gegen das bu- reaukratiſche Jahrhundert ihre eigenen Kämpfe zu führen haben, zu denen die proteſtantiſchen nicht ganz die Parallele bieten, ſo iſt doch um ſo weniger Grund vorhanden dieſe Stellung zu verrücken oder gar zu verdächtigen, als ſie heute mit dem Intereſſe keiner weltlichen Macht mehr zuſammenfällt, ſondern allein auf der freiwilligen Treue der Be- völkerungen beruht. Was die eigentlichen politiſchen Parteien betrifft — ſo iſt der Begriff einer Partei mit anerkannten Häuptern und Preßorganen in Deutſchland zwar geſetzlich bis jetzt nicht zugelaſſen, und auch bei ver- änderten Preßverhältniſſen hätten die Regierungen wohl unrecht wenn ſie über ihre reſpectiven Gränzen hinaus das Vorhandenſeyn einer pro- greſſiſtiſchen Nationalpartei zugeſtehen wollten, ohne ihr eine conſer- vative Bundespartei entgegenſetzen zu können — aber gegenwärtig ſind, wie geſagt, alle Fractionen der öffentlichen Meinung national, oder haben wenigſtens bis zum Beweis des Gegentheils ein Recht dafür zu gelten. Schwerer wird der Beweis, weit praktiſcher die Probe auf dem Gebiete der materiellen Intereſſen. Dafür iſt die Bewegung hier um ſo geſünder und hoffnungsvoller. Und wenn auch zwiſchen Handels- freiheit und Schutzſyſtem, zwiſchen dem Zollverein und ſeinen Gegen- ſätzen der Kampf langſam und peinlich ſcheint, ſo iſt doch der Fortſchritt ſicher und wird in Deutſchland die Gefahren des Communismus nicht weniger als die jüdiſche Geldallmacht überwinden helfen. Hier iſt ein wahrer Prüfſtein der Nationalität, und ihr gegenüber wird auf die Dauer das vornehme Naſerümpfen einer kosmopolitiſchen Freiſtadt ebenſowenig Glück machen als ein beſchränkter Kantönligeiſt. Es möge uns offene Mitbewerbung und ehrlicher Kampf auch hier geſtattet und anerkannt werden. Das ganze Thema iſt reich und ſein Inhaltsver- zeichniß noch lange nicht erſchöpft. Die Gegenſätze zu andern Natio- nalitäten durch die verſchiedenen geſellſchaftlichen Stände durchgeführt, deren corporative und individuelle Tugenden, Schwächen und Untugen- den mit Selbſtverläugnung betrachtet, bieten ein neues weites Feld. Die erſten Gedanken zu dieſen Zeilen hatten ſich um die Jahreswende aneinandergereiht; nun mögen ſie ſich in der Mitte zwiſchen den Neu- jahrswünſchen und Faſtenpredigten ihre Stelle ſuchen. *) Aus Wien. ♃ Wien, 22 März. Die großen und erfreulichen Ereigniſſe überſtrömen uns völlig, ſo daß wir die Zeit zu umfaſſenden Schilde- rungen nicht haben und uns auf bloße Erwähnung der Thatſachen be- ſchränken müſſen. Amneſtie allen politiſchen Gefangenen in Polen und Lombardei-Venedig. Dieſer kaiſerliche Act erfüllt die Herzen von Tauſenden mit Freude und Dank. Die hier lebenden Engländer haben *) Bezeichnet die Tage in denen der Auffatz uns zugekommen.

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-04-08T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 87, 27. März 1848, S. 1386. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine87_1848/10>, abgerufen am 25.11.2024.