Allgemeine Zeitung, Nr. 76, 16. März 1848.Nr. 76. [Spaltenumbruch]
Beilage zur Allgemeinen Zeitung. [Spaltenumbruch]
16 März 1848.[Spaltenumbruch]
Die Rationalvertretung im Bunde. II. .. Wer hätte gestern noch gedacht daß Helvetien und Deutschland Nr. 76. [Spaltenumbruch]
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16 März 1848.[Spaltenumbruch]
Die Rationalvertretung im Bunde. II. .. Wer hätte geſtern noch gedacht daß Helvetien und Deutſchland <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0009"/> <div type="jSupplement" n="1"> <floatingText> <front> <titlePage type="heading"> <docTitle> <titlePart type="volume"> <hi rendition="#b">Nr. 76.</hi> </titlePart> <cb/> <titlePart type="main"> <hi rendition="#b">Beilage zur Allgemeinen Zeitung.</hi> </titlePart> </docTitle> <cb/> <docImprint> <docDate> <hi rendition="#b">16 März 1848.</hi> </docDate> </docImprint> </titlePage> </front><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <body> <cb/> <div type="jPoliticalNews" n="2"> <div type="jComment" n="3"> <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#b">Die Rationalvertretung im Bunde.<lb/><hi rendition="#aq">II.</hi></hi> </hi> </head><lb/> <p>.. Wer hätte geſtern noch gedacht daß Helvetien und Deutſchland<lb/> nach einander die Bahn der Reformen in ihren Staatsverfaſſungen wie<lb/> in ihrer Bundesverfaſſung betreten würden? Was dort Anſtoß der Ju-<lb/> liusrevolution war, hat hier die franzöſiſche Februarrevolution bewirkt.<lb/> Die Schweiz leidet an den Widerſprüchen zwiſchen Kantonalſouveränetät<lb/> und Nationalmacht. Unter andern Namen find es dieſelben Uebel wor-<lb/> an Deutſchland krank iſt. Jn beiden Ländern wurde der Staatenbund<lb/> zu ſchwach erfunden, und ſie machen den Uebergang in den Bundesſtaat.<lb/> Der Vereinigten Staaten von Nordamerika, mit mehr Bewußtſeyn der<lb/> Lebensbedingungen einer nationalen Conföderation und mit weiterer Vor-<lb/> ausſicht der politiſchen Nöthigungen, haben vor länger als einem hal-<lb/> ben Jahrhundert ohne ſolchen äußern Druck aus freier Selbſtbeſtim-<lb/> mung denſelben Schritt gethan. Daß wir im ſtaatsphiloſophiſchen<lb/> Deutſchland ihn ſo ſpät thun, und, von den Ereigniſſen überraſcht, uns<lb/> nun geſtehen müſſen die abſolute Unzulänglichkeit von Jnſtitutionen die<lb/> unſern bequemen Optimiſten ſo gern als ein Werk für die Ewigkeit<lb/> galten, daß wir ihn umringt von tauſend Schrecken und Gefahren im<lb/> Sturm thun <hi rendition="#g">müſſen</hi>, wollen wir nicht anders Staaten und Nation<lb/> vor unſern Augen untergehen ſehen, darin liegt freilich etwas demü-<lb/> thigendes, aber auch die gebieteriſche Aufforderung ihn jetzt wenigſtens<lb/> nicht mehr halb, ſondern <hi rendition="#g">ganz</hi> zu thun. Alſo kein Zöpfl’ſches Par-<lb/> lament — wir meinen die Vorſchläge des Hofrath Zöpfl von Heidelberg.<lb/> Das wäre kein Parlament, ſondern einer jener ſtändiſchen Ausſchüſſe<lb/> welche die Parlamente zu Grunde richten, dieſer mit dem Dünkel etwas<lb/> organiſches zu ſeyn, weil er die neunundſechzig Stimmen des Plenum<lb/> der Bundesverſammlung beibehält, die weder politiſche noch volk-<lb/> liche Abtheilungen noch ein Verhältniß der Macht repräſentiren, ſon-<lb/> dern eine willkürliche Souveränetätsfiction von 1815 find. Ein ſolcher<lb/> Ausſchuß, der nicht anders als von Jnſtructionen abhängig gedacht<lb/> werden könnte, hätte alle Schwächen einer ſchweizeriſchen Tagſatzung;<lb/> er möchte anfangs noch ſo populär und patriotiſch zuſammengeſetzt ſeyn,<lb/> würde aber bald ein paſſtves Anhängſel der Geſandtſchaften der ver-<lb/> ſchiedenen Länder werden; wir hätten dann zwei Tagſatzungen, und<lb/> durch den gleichfalls angerathenen Wechſel der oberſten Bundesmagi-<lb/> ſtratur würden wir uns ein republicaniſches Princip aneignen, aber<lb/> ohne die Kraft welche republicaniſche Principien aus der nationalen<lb/> Unmittelbarkeit ſchöpfen. Wahrlich es hieße den Ernſt der Zeit<lb/> ſchlecht verſtehen, fände ſie uns noch auf dem Punkt des leidigen<lb/> Hegemoniezanks und der ſogenannten deutſchen Freiheit, welcher der<lb/> Rangſtreit der Fürſten über das Vaterland ging. Dieſe Freiheit hat<lb/> Polen umgebracht, ſie hat die edelſten ſeiner Söhne ins Eril getrie-<lb/> ben, aber wir haben eine zu hohe Meinung von den Großen Deutſch-<lb/> lands als daß wir glauben könnten daß ſie, in einem Augenblick wo<lb/> die Nation vielleicht bald zu ungeheuren Anſtrengungen berufen iſt<lb/> um ihre Unabhängigkeit zu vertheidigen, nicht bereit ſeyn ſollten alle Ei-<lb/> ferſucht freudigen Muthes auf dem Altar des Vaterlandes zu opfern.<lb/> Welch eine Wiedergeburt Deutſchlands, wenn man es im Angeſicht<lb/> des Abgrundes welcher Fürſten und Völker, die Nation ſelbſt zu ver-<lb/> ſchlingen droht, nicht weiter brächte als einige Formen zu erfinden<lb/> um die unverbeſſerliche Zwietracht zu maskiren. Man täuſche ſich<lb/> nicht. Das iſt ein armer Troſt wenn wir einer franzöſiſchen Re-<lb/> publik die Exiſtenzfähigkeit abſprechen. Wir können die gemeine Lo-<lb/> gik und Erfahrung für uns haben daß eine Volksherrſchaft von<lb/> ſechsunddreißig Millionen ein an ſich unmögliches Staatsexperiment<lb/> ſey, und doch dürfte uns das wenig helfen, ſelbſt wenn die Neu-<lb/> heit der Thatſachen nicht alle Berechnungen unſicher machte. Wir haben<lb/> Adelsrepubliken geſehen, Soldatenrepubliken, Republiken des dritten<lb/> Standes, der Reichen, gemiſchte Republiken. Eine Republik des vierten<lb/> Standes, eine Arbeiter- und Bauernrepublik ſieht die erſtaunte Welt<lb/> zum erſtenmal. Ein Beſtand derſelben auch nur von einigen Jahren<lb/> (und Jahre find im Leben der Nationen wie Augenblicke), wo dann im-<lb/> merhin innere Auflöſung durch Parteien, Militärdictatur, Tyrannei nach-<lb/> kommen möchte, würde bei den überall aus den unterſten Schichten der<lb/> Geſellſchaft auſgährenden Sympathien hinreichen aus dieſer mächtigen<lb/> Organiſation aller populären Jnſtincte und Jntereſſen eine Bewegung<lb/><cb/> hervorbrechen zu laſſen, unwiderſtehlich, ſtark genug das alte Europa aus<lb/> den Angeln zu heben. Aber wir find nicht einmal berechtigt dem neuen<lb/> Frankreich Jdeologie zum Vorwurf zu machen, als ob wir die Praktiſche-<lb/> ren wären, als ob wir wirklich bisher eine Politik des Möglichen befolgt<lb/> hätten. Haben wir doch unſer Haus auf Sand gebaut und merken es<lb/> erſt hintennach; und war es etwa weniger Jdeologie wenn man auf<lb/> einem Syſtem hohler Rechtsfictionen, erkünſtelter Jnterpretationen, der<lb/> Vorenthaltung oder Verkümmerung der theuerſten conſtitutionellen<lb/> Bürgſchaften, oder gar inmitten der unermeßlichen Fortſchritte des<lb/> Zeitalters, der geiſtigen und materiellen Wettkämpfe, auf einem Sy-<lb/> ſtem der Stabilität die Grundſäulen der Ordnung aufrichten wollte?<lb/> War es weniger Jdeologie wenn eine Diplomatie von großer Poſitivität,<lb/> Welterfahrung und Menſchenkenntniß ſich dennoch einbilden konnte in den<lb/> Erziehungstalenten der Geſellſchaft Jeſu den Talisman entdeckt zu haben<lb/> gegen den gefürchteten Zeitgeiſt? War es ein haltbares Bundesſyſtem<lb/> wenn nicht nur die Nation bei Berathung ihrer Jntereſſen keine Stimme<lb/> hatte, nicht nur dieſe Berathung für ſie ein Geheimniß war wie die Be-<lb/> ſchlüſſe der Vorſehung, ſondern wenn im Schoos des Bundes ſelbſt ein<lb/> bald lauter, bald ftiller Krieg, der Krieg des Abſolutismus gegen den<lb/> verſaſſungsmäßigen Rechtsſtaat, die mühſamen volksthümlichen Errun-<lb/> genſchaften immer von neuem in Frage ſtellte und dadurch ein gegen-<lb/> ſeitiges Mißtrauen unterhielt, das ebenſo ſchädlich ſeyn mußte für den<lb/> innern Frieden als für die künftige Waffengenofſenſchaft auf dem Schlacht-<lb/> feld? War es endlich conſtitutionelle Wahrheit wenn man Reactions-<lb/> diener von 1824 noch als Staatslenker von 1848 ſah, und es Regel war<lb/> keine parlamentariſchen Miniſter zu wählen? Wenn man jetzt, nachdem<lb/> die „Charte- verité“ und die „wohlfeile Regierung“ der Juliusdynaſtie, dieſe<lb/> viel bewunderte Muſterwirthſchaft, ein ſo klägliches Ende genommen hat,<lb/> Männer wie Thon-Dittmer, F. Römer, P. Pfitzer, Duvernoy, H. v.<lb/> Gagern beruft, ſo iſt dieß ein Ereigniß das wir als einen erſten Schritt<lb/> zur Befeſtigung des Vertrauens zwiſchen Regierungen und Völkern be-<lb/> grüßen. Die Schlagwörter mit denen man einander verfolgt und ge-<lb/> plagt hat, conſervativ, radical u. dergl., haben jetzt größtentheils ihre<lb/> Bedeutung verloren, da man erkennt daß das conſervativſte Princip,<lb/> wenn auch die Mittel wegen einer Nothlage oft radical find, das der<lb/> Selbſterhaltung, der nationalen Ehre und Selbſtändigkeit iſt, und daß<lb/> man auf den Oppoſitionsbänken ſitzen und doch ein redlicher Freund<lb/> ſeines Landes, ein richtiger Beurtheiler ſeiner Bedürfniſſe und Jntereſſen<lb/> ſeyn kann. Aber dieſe mit Jubel aufgenommenen Anfänge einer parlamen-<lb/> tariſchen Regierung find ſehr unfichere Conceſſionen, ſolange nicht durch<lb/> eine Bundesreform eine dauerhafte Grundlage nach innen und nach außen<lb/> gewonnen iſt. Hätten wir dieſes Werk in einer andern Zeit verſucht, wer<lb/> weiß ob nicht die Guizots ſammt all den Doctrinärs der alten Tradition<lb/> Einrede erhoben hätten ſo gut als gegen die Schweiz, da ja auch unſere<lb/> Eidgenoſſenſchaft eine gewährleiſtete von den Mächten iſt? Heute laſſen<lb/> ſie uns ungeſtört reformiren, ſie müſſen froh ſeyn wenn wir’s thun,<lb/> denn wer wird den Welttheil ſtützen wenn auch Deutſchland wankt?<lb/> Benützen wir den Augenblick der ſich noch nie ſo ſchön dargeboten hat,<lb/> um einmal wieder Maifeld zu halten, aber nicht zu proviſoriſchen Jn-<lb/> ſtitutionen, zu Staatsſchöpfungen wie der Zollverein auf Aufkündigung,<lb/> ſondern zur Gründung einer mächtigen Bundeseinheit. Man kann nicht<lb/> alle fünf oder ſechs Jahre Nationalbegeiſterung predigen, und ſie als-<lb/> bald wieder in Schlaf lullen laſſen, indeß die Nation eben immer nur<lb/> ein geſtaltloſer Begriff, eine „geographiſche Benennung“ bleibt. Erhebe<lb/> ſie ſich denn in ſichtbarer Herrlichkeit, und wähle ein Bundesoberhaupt.<lb/> Und warum nur für die Zeit der Gefahr, warum nicht gleich in der<lb/> populärſten Form für das Verſtändniß des Bauern wie des Fürſten?<lb/> Warum taucht die alte verehrte Majeſtät des kaiſerlichen Namens ſo<lb/> ſchüchtern auf? Doch die Entwicklungen find unaufhaltſam — auf den<lb/> 30 März ladet der Ausſchuß des Heidelberger Vereins zu einer Notabeln-<lb/> Verſammlung nach Frankfurt, um die Grundzüge einer nationalen Par-<lb/> lamentsverfaſſung vorzulegen und zu berathen. 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Nr. 76.
Beilage zur Allgemeinen Zeitung.
16 März 1848.
Die Rationalvertretung im Bunde.
II.
.. Wer hätte geſtern noch gedacht daß Helvetien und Deutſchland
nach einander die Bahn der Reformen in ihren Staatsverfaſſungen wie
in ihrer Bundesverfaſſung betreten würden? Was dort Anſtoß der Ju-
liusrevolution war, hat hier die franzöſiſche Februarrevolution bewirkt.
Die Schweiz leidet an den Widerſprüchen zwiſchen Kantonalſouveränetät
und Nationalmacht. Unter andern Namen find es dieſelben Uebel wor-
an Deutſchland krank iſt. Jn beiden Ländern wurde der Staatenbund
zu ſchwach erfunden, und ſie machen den Uebergang in den Bundesſtaat.
Der Vereinigten Staaten von Nordamerika, mit mehr Bewußtſeyn der
Lebensbedingungen einer nationalen Conföderation und mit weiterer Vor-
ausſicht der politiſchen Nöthigungen, haben vor länger als einem hal-
ben Jahrhundert ohne ſolchen äußern Druck aus freier Selbſtbeſtim-
mung denſelben Schritt gethan. Daß wir im ſtaatsphiloſophiſchen
Deutſchland ihn ſo ſpät thun, und, von den Ereigniſſen überraſcht, uns
nun geſtehen müſſen die abſolute Unzulänglichkeit von Jnſtitutionen die
unſern bequemen Optimiſten ſo gern als ein Werk für die Ewigkeit
galten, daß wir ihn umringt von tauſend Schrecken und Gefahren im
Sturm thun müſſen, wollen wir nicht anders Staaten und Nation
vor unſern Augen untergehen ſehen, darin liegt freilich etwas demü-
thigendes, aber auch die gebieteriſche Aufforderung ihn jetzt wenigſtens
nicht mehr halb, ſondern ganz zu thun. Alſo kein Zöpfl’ſches Par-
lament — wir meinen die Vorſchläge des Hofrath Zöpfl von Heidelberg.
Das wäre kein Parlament, ſondern einer jener ſtändiſchen Ausſchüſſe
welche die Parlamente zu Grunde richten, dieſer mit dem Dünkel etwas
organiſches zu ſeyn, weil er die neunundſechzig Stimmen des Plenum
der Bundesverſammlung beibehält, die weder politiſche noch volk-
liche Abtheilungen noch ein Verhältniß der Macht repräſentiren, ſon-
dern eine willkürliche Souveränetätsfiction von 1815 find. Ein ſolcher
Ausſchuß, der nicht anders als von Jnſtructionen abhängig gedacht
werden könnte, hätte alle Schwächen einer ſchweizeriſchen Tagſatzung;
er möchte anfangs noch ſo populär und patriotiſch zuſammengeſetzt ſeyn,
würde aber bald ein paſſtves Anhängſel der Geſandtſchaften der ver-
ſchiedenen Länder werden; wir hätten dann zwei Tagſatzungen, und
durch den gleichfalls angerathenen Wechſel der oberſten Bundesmagi-
ſtratur würden wir uns ein republicaniſches Princip aneignen, aber
ohne die Kraft welche republicaniſche Principien aus der nationalen
Unmittelbarkeit ſchöpfen. Wahrlich es hieße den Ernſt der Zeit
ſchlecht verſtehen, fände ſie uns noch auf dem Punkt des leidigen
Hegemoniezanks und der ſogenannten deutſchen Freiheit, welcher der
Rangſtreit der Fürſten über das Vaterland ging. Dieſe Freiheit hat
Polen umgebracht, ſie hat die edelſten ſeiner Söhne ins Eril getrie-
ben, aber wir haben eine zu hohe Meinung von den Großen Deutſch-
lands als daß wir glauben könnten daß ſie, in einem Augenblick wo
die Nation vielleicht bald zu ungeheuren Anſtrengungen berufen iſt
um ihre Unabhängigkeit zu vertheidigen, nicht bereit ſeyn ſollten alle Ei-
ferſucht freudigen Muthes auf dem Altar des Vaterlandes zu opfern.
Welch eine Wiedergeburt Deutſchlands, wenn man es im Angeſicht
des Abgrundes welcher Fürſten und Völker, die Nation ſelbſt zu ver-
ſchlingen droht, nicht weiter brächte als einige Formen zu erfinden
um die unverbeſſerliche Zwietracht zu maskiren. Man täuſche ſich
nicht. Das iſt ein armer Troſt wenn wir einer franzöſiſchen Re-
publik die Exiſtenzfähigkeit abſprechen. Wir können die gemeine Lo-
gik und Erfahrung für uns haben daß eine Volksherrſchaft von
ſechsunddreißig Millionen ein an ſich unmögliches Staatsexperiment
ſey, und doch dürfte uns das wenig helfen, ſelbſt wenn die Neu-
heit der Thatſachen nicht alle Berechnungen unſicher machte. Wir haben
Adelsrepubliken geſehen, Soldatenrepubliken, Republiken des dritten
Standes, der Reichen, gemiſchte Republiken. Eine Republik des vierten
Standes, eine Arbeiter- und Bauernrepublik ſieht die erſtaunte Welt
zum erſtenmal. Ein Beſtand derſelben auch nur von einigen Jahren
(und Jahre find im Leben der Nationen wie Augenblicke), wo dann im-
merhin innere Auflöſung durch Parteien, Militärdictatur, Tyrannei nach-
kommen möchte, würde bei den überall aus den unterſten Schichten der
Geſellſchaft auſgährenden Sympathien hinreichen aus dieſer mächtigen
Organiſation aller populären Jnſtincte und Jntereſſen eine Bewegung
hervorbrechen zu laſſen, unwiderſtehlich, ſtark genug das alte Europa aus
den Angeln zu heben. Aber wir find nicht einmal berechtigt dem neuen
Frankreich Jdeologie zum Vorwurf zu machen, als ob wir die Praktiſche-
ren wären, als ob wir wirklich bisher eine Politik des Möglichen befolgt
hätten. Haben wir doch unſer Haus auf Sand gebaut und merken es
erſt hintennach; und war es etwa weniger Jdeologie wenn man auf
einem Syſtem hohler Rechtsfictionen, erkünſtelter Jnterpretationen, der
Vorenthaltung oder Verkümmerung der theuerſten conſtitutionellen
Bürgſchaften, oder gar inmitten der unermeßlichen Fortſchritte des
Zeitalters, der geiſtigen und materiellen Wettkämpfe, auf einem Sy-
ſtem der Stabilität die Grundſäulen der Ordnung aufrichten wollte?
War es weniger Jdeologie wenn eine Diplomatie von großer Poſitivität,
Welterfahrung und Menſchenkenntniß ſich dennoch einbilden konnte in den
Erziehungstalenten der Geſellſchaft Jeſu den Talisman entdeckt zu haben
gegen den gefürchteten Zeitgeiſt? War es ein haltbares Bundesſyſtem
wenn nicht nur die Nation bei Berathung ihrer Jntereſſen keine Stimme
hatte, nicht nur dieſe Berathung für ſie ein Geheimniß war wie die Be-
ſchlüſſe der Vorſehung, ſondern wenn im Schoos des Bundes ſelbſt ein
bald lauter, bald ftiller Krieg, der Krieg des Abſolutismus gegen den
verſaſſungsmäßigen Rechtsſtaat, die mühſamen volksthümlichen Errun-
genſchaften immer von neuem in Frage ſtellte und dadurch ein gegen-
ſeitiges Mißtrauen unterhielt, das ebenſo ſchädlich ſeyn mußte für den
innern Frieden als für die künftige Waffengenofſenſchaft auf dem Schlacht-
feld? War es endlich conſtitutionelle Wahrheit wenn man Reactions-
diener von 1824 noch als Staatslenker von 1848 ſah, und es Regel war
keine parlamentariſchen Miniſter zu wählen? Wenn man jetzt, nachdem
die „Charte- verité“ und die „wohlfeile Regierung“ der Juliusdynaſtie, dieſe
viel bewunderte Muſterwirthſchaft, ein ſo klägliches Ende genommen hat,
Männer wie Thon-Dittmer, F. Römer, P. Pfitzer, Duvernoy, H. v.
Gagern beruft, ſo iſt dieß ein Ereigniß das wir als einen erſten Schritt
zur Befeſtigung des Vertrauens zwiſchen Regierungen und Völkern be-
grüßen. Die Schlagwörter mit denen man einander verfolgt und ge-
plagt hat, conſervativ, radical u. dergl., haben jetzt größtentheils ihre
Bedeutung verloren, da man erkennt daß das conſervativſte Princip,
wenn auch die Mittel wegen einer Nothlage oft radical find, das der
Selbſterhaltung, der nationalen Ehre und Selbſtändigkeit iſt, und daß
man auf den Oppoſitionsbänken ſitzen und doch ein redlicher Freund
ſeines Landes, ein richtiger Beurtheiler ſeiner Bedürfniſſe und Jntereſſen
ſeyn kann. Aber dieſe mit Jubel aufgenommenen Anfänge einer parlamen-
tariſchen Regierung find ſehr unfichere Conceſſionen, ſolange nicht durch
eine Bundesreform eine dauerhafte Grundlage nach innen und nach außen
gewonnen iſt. Hätten wir dieſes Werk in einer andern Zeit verſucht, wer
weiß ob nicht die Guizots ſammt all den Doctrinärs der alten Tradition
Einrede erhoben hätten ſo gut als gegen die Schweiz, da ja auch unſere
Eidgenoſſenſchaft eine gewährleiſtete von den Mächten iſt? Heute laſſen
ſie uns ungeſtört reformiren, ſie müſſen froh ſeyn wenn wir’s thun,
denn wer wird den Welttheil ſtützen wenn auch Deutſchland wankt?
Benützen wir den Augenblick der ſich noch nie ſo ſchön dargeboten hat,
um einmal wieder Maifeld zu halten, aber nicht zu proviſoriſchen Jn-
ſtitutionen, zu Staatsſchöpfungen wie der Zollverein auf Aufkündigung,
ſondern zur Gründung einer mächtigen Bundeseinheit. Man kann nicht
alle fünf oder ſechs Jahre Nationalbegeiſterung predigen, und ſie als-
bald wieder in Schlaf lullen laſſen, indeß die Nation eben immer nur
ein geſtaltloſer Begriff, eine „geographiſche Benennung“ bleibt. Erhebe
ſie ſich denn in ſichtbarer Herrlichkeit, und wähle ein Bundesoberhaupt.
Und warum nur für die Zeit der Gefahr, warum nicht gleich in der
populärſten Form für das Verſtändniß des Bauern wie des Fürſten?
Warum taucht die alte verehrte Majeſtät des kaiſerlichen Namens ſo
ſchüchtern auf? Doch die Entwicklungen find unaufhaltſam — auf den
30 März ladet der Ausſchuß des Heidelberger Vereins zu einer Notabeln-
Verſammlung nach Frankfurt, um die Grundzüge einer nationalen Par-
lamentsverfaſſung vorzulegen und zu berathen. Hoffen wir daß Deutſch-
land ſeine Delegirten auf der vollen Höhe einer Aufgabe finden werde
für deren glückliche Löſung ſie der Mit und Nachwelt verantwortlich
ſind.
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(2022-04-08T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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