Allgemeine Zeitung, Nr. 43, 24. Oktober 1914.Seite 626. Allgemeine Zeitung 24. Oktober 1914. [Spaltenumbruch] II. III. VI. VII. VIII. Anlage. Seite 626. Allgemeine Zeitung 24. Oktober 1914. [Spaltenumbruch] II. III. VI. VII. VIII. Anlage. <TEI> <text> <body> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div n="2"> <div type="jArticle" n="3"> <pb facs="#f0010" n="626"/> <fw place="top" type="header">Seite 626. <hi rendition="#b">Allgemeine Zeitung</hi> 24. Oktober 1914.</fw><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <cb/> <cit> <quote><hi rendition="#c"><hi rendition="#aq">II.</hi></hi><lb/><hi rendition="#et">.... Mai 1914.</hi><lb/> Ueber die politiſchen Ergebniſſe des Beſuches des Königs von<lb/> England in Paris erfahre ich, daß zwiſchen Sir Edward Grey und<lb/> Herrn Doumergue eine Reihe politiſcher Fragen erörtert worden<lb/> iſt. Außerdem iſt franzöſiſcherſeits die Anregung erfolgt, die be-<lb/> ſtehenden beſonderen militärpolitiſchen Abmachungen zwiſchen<lb/> Frankreich und England durch analoge Abmachungen zwiſchen Eng-<lb/> land und Rußland zu ergänzen. Sir Edward Grey hat den Ge-<lb/> danken ſympathiſch aufgenommen, ſich aber außerſtande erklärt,<lb/> ohne Befragen des engliſchen Kabinetts irgend eine Bindung zu<lb/> übernehmen. Der Empfang der engliſchen Gäſte durch die fran-<lb/> zöſiſche Regierung ſowie die Pariſer Bevölkerung ſoll den Miniſter<lb/> in hohem Grade beeindruckt haben. Es iſt zu befürchten, daß der<lb/> engliſche Staatsmann, der zum erſten Male in amtlicher Eigenſchaft<lb/> im Auslande geweilt und, wie behauptet wird, überhaupt zum erſten<lb/> Male den engliſchen Boden verlaſſen hat, franzöſiſchen Einflüſſen<lb/> in Zukunft noch in höherem Grade unterliegen wird, als das bis-<lb/> her ſchon der Fall war.</quote> </cit><lb/> <cit> <quote><hi rendition="#c"><hi rendition="#aq">III.</hi></hi><lb/><hi rendition="#et">.... Juni 1914.</hi><lb/> Die Nachricht, daß franzöſiſcherſeits anläßlich des Beſuches des<lb/> Königs von England in Paris militäriſche Abmachungen zwiſchen<lb/> England und Rußland angeregt worden ſind, wird mir beſtätigt.<lb/> Ueber die Vorgeſchichte erfahre ich zuverläſſig, daß die Anregung<lb/> auf Herrn Iswolski zurückgeht. Der Gedanke des Botſchafters war<lb/> es geweſen, die erwartete Feſtſtimmung der Tage von Paris zu<lb/> einer Umwandlung der Tripelentente in ein Bündnis nach Analogie<lb/> des Dreibundes auszunutzen. Wenn man ſich ſchließlich in Paris<lb/> und Petersburg mit weniger begnügt hat, ſo ſcheint dafür die Er-<lb/> wägung maßgebend geweſen zu ſein, daß in England ein großer<lb/> Teil der öffentlichen Meinung dem Abſchluß förmlicher Bündnis-<lb/> verträge mit anderen Mächten durchaus ablehnend gegenüberſteht.<lb/> Angeſichts dieſer Tatſache hat man ſich trotz der zahlreichen Beweiſe<lb/> für den gänzlichen Mangel an Widerſtandskraft der engliſchen<lb/> Politik gegen Einflüſſe der Entente — ich darf an die Gefolgſchaft<lb/> erinnern, die noch jüngſt Rußland in der Frage der deutſchen<lb/> Militärmiſſion in der Türkei von England erfahren hat — offenbar<lb/> geſcheut, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Es iſt vielmehr die<lb/> Taktik langſamen ſchrittweiſen Vorgehens beſchloſſen worden. Sir<lb/> Edward Grey hat die franzöſiſch-ruſſiſche Anregung im engliſchen<lb/> Miniſterrat warm vertreten, und das Kabinett hat ſich ſeinem<lb/> Votum angeſchloſſen. Es iſt beſchloſſen worden, in erſter Linie<lb/> ein Marine-Abkommen ins Auge zu faſſen und die Verhandlungen<lb/> in London zwiſchen der engliſchen Admiralität und dem ruſſiſchen<lb/> Militärattach<hi rendition="#aq">é</hi> ſtattfinden zu laſſen.<lb/> Die Befriedigung der ruſſiſchen und franzöſiſchen Diplomatie<lb/> über dieſe erneute Ueberrumpelung der engliſchen Politiker iſt groß.<lb/> Man hält den Abſchluß eines formellen Bündnisvertrages nur noch<lb/> für eine Frage der Zeit. Um dies Ergebnis zu beſchleunigen, würde<lb/> man in Petersburg ſogar zu gewiſſen Scheinkonzeſſionen an Eng-<lb/> land in der perſiſchen Frage bereit ſein. Die zwiſchen den beiden<lb/> Mächten in dieſer Hinſicht in letzter Zeit aufgetauchten Meinungs-<lb/> verſchiedenheiten haben noch keine Erledigung gefunden. 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Juni 1914.</hi><lb/> Im Unterhauſe wurde von miniſterieller Seite an die Regie-<lb/> rung die Anfrage gerichtet, ob Großbritannien und Rußland jüngſt<lb/> ein Marine-Abkommen abgeſchloſſen hätten, und ob Verhandlungen<lb/> zwecks Abſchluß einer ſolchen Vereinbarung unlängſt zwiſchen den<lb/> beiden Ländern ſtattgefunden hätten oder gegenwärtig im Gange<lb/> ſeien.<lb/> Sir Edward Grey nahm in ſeiner Antwort Bezug auf ähnliche<lb/> im Vorjahre an die Regierung gerichtete Anfragen. Der Premier-<lb/> miniſter habe damals, ſo fuhr Sir Edward fort, geantwortet, es<lb/> beſtünden für den Fall des Ausbruches eines Krieges zwiſchen<lb/> europäiſchen Mächten keine unveröffentlichten Vereinbarungen, die<lb/> die freie Entſchließung der Regierung oder des Parlaments darüber,<lb/> ob Großbritannien an einem Kriege teilnehmen ſolle oder nicht,<lb/> einengen oder hemmen würden. Dieſe Antwort ſei heute ebenſo<lb/> zutreffend wie vor einem Jahre. Es ſeien ſeither keine Verhand-<lb/> lungen mit irgend einer Macht abgeſchloſſen worden, die die frag-<lb/> liche Erklärung weniger zutreffend machen würden; keine derartigen<lb/> Verhandlungen ſeien im Gange, und es ſei auch, ſoweit er urteilen<lb/> könne, nicht wahrſcheinlich, daß in ſolche eingetreten werden würde,<lb/> wenn aber irgend ein Abkommen abgeſchloſſen werden ſollte, das<lb/> eine Zurücknahme oder eine Abänderung der erwähnten letztjährigen<lb/> Erklärung des Premierminiſters nötig machen ſollte, ſo müßte das-<lb/> ſelbe ſeiner Anſicht nach, und das würde auch wohl der Fall ſein,<lb/> dem Parlament vorgelegt werden.<lb/> Die engliſche Preſſe enthält ſich in ihrer großen Mehrzahl jeg-<lb/> licher Bemerkungen zu der Erklärung des Miniſters.<lb/> Nur die beiden radikalen Blätter Daily News und Mancheſter<lb/> Guardian äußern ſich in kurzen Leitartikeln. Die erſtgenannte<lb/><cb/> Zeitung begrüßt die Worte Sir Edward Greys mit Genugtuung<lb/> und meint, ſie ſeien klar genug, um jeden Zweifel zu zerſtreuen.<lb/> England ſei nicht im Schlepptau irgend eines anderen Landes. Es<lb/> ſei nicht der Vaſall Rußlands, nicht der Verbündete Frankreichs und<lb/> nicht der Feind Deutſchlands. Die Erklärung ſei eine heilſame<lb/> Lektion für diejenigen engliſchen Preſſeleute, die glauben machen<lb/> wollten, daß es eine „Tripelentente“ gebe, die dem Dreibund<lb/> weſensgleich ſei.<lb/> Der Mancheſter Guardian hingegen iſt durch die Erklärung des<lb/> Miniſters nicht befriedigt. Er bemängelt ihre gewundene Form<lb/> und ſucht nachzuweiſen, daß ſie Auslegungen zulaſſe, die das Vor-<lb/> handenſein gewiſſer, vielleicht bedingter Verabredungen der gerücht-<lb/> weiſe verlautbarten Art nicht durchaus ausſchlöſſen.<lb/> Die Erklärungen Sir Edward Greys entſprechen einer ver-<lb/> traulichen Aeußerung einer Perſönlichkeit aus der nächſten Um-<lb/> gebung des Miniſters:<lb/> „Er könne aufs ausdrücklichſte und beſtimmteſte verſichern, daß<lb/> keinerlei Abmachungen militäriſcher oder maritimer Natur zwiſchen<lb/> England und Frankreich beſtünden, obwohl der Wunſch nach ſolchen<lb/> auf franzöſiſcher Seite wiederholt kundgegeben worden ſei. Was<lb/> das engliſche Kabinett Frankreich abgeſchlagen habe, werde es<lb/> Rußland nicht gewähren. Es ſei keine Flottenkonvention mit Ruß-<lb/> land geſchloſſen worden, und es werde auch keine geſchloſſen<lb/> werden.“</quote> </cit><lb/> <cit> <quote><hi rendition="#c"><hi rendition="#aq">VI.</hi></hi><lb/><hi rendition="#et">.... Juni 1914.</hi><lb/> Sir Edward Grey hat offenbar das Bedürfnis empfunden, den<lb/> Ausführungen des Mancheſter Guardian über ſeine Interpellations-<lb/> beantwortung in Sachen der angeblichen engliſch-ruſſiſchen Flotten-<lb/> entente ſogleich nachdrücklich entgegenzutreten. Die Weſtminſter<lb/> Gazette bringt an leitender Stelle aus der Feder Mr. Spenders, der<lb/> bekanntlich zu den intimſten politiſchen Freunden Sir Edward Greys<lb/> gehört, ein Dementi, das an Beſtimmtheit nichts zu wünſchen übrig<lb/> läßt. Es iſt darin geſagt: Es beſteht kein Flottenabkommen und<lb/> es ſchweben keine Verhandlungen über ein Flottenabkommen zwi-<lb/> ſchen Großbritannien und Rußland.<lb/> Niemand, der den Charakter und die Methoden Sir Edward<lb/> Greys kenne, werde auch nur einen Augenblick annehmen, daß die<lb/> von ihm abgegebene Erklärung bezwecke, die Wahrheit zu ver-<lb/> ſchleiern.</quote> </cit><lb/> <cit> <quote><hi rendition="#c"><hi rendition="#aq">VII.</hi></hi><lb/><hi rendition="#et">.... Juni 1914.</hi><lb/> Daß die Erklärung Sir Edward Greys im engliſchen Unter-<lb/> hauſe über das ruſſiſch-engliſche Marine-Abkommen von der öffent-<lb/> lichen Meinung in England ſo bereitwillig akzeptiert worden iſt, hat<lb/> hier und in Petersburg große Erleichterung hervorgerufen. Die<lb/> Drahtzieher der Aktion hatten ſchon befürchtet, daß der ſchöne<lb/> Traum des neuen Dreibundes ausgeträumt ſein könne. Es fällt<lb/> mir übrigens ſchwer, daran zu glauben, daß es dem Mancheſter<lb/> Guardian allein beſchieden geweſen ſein ſollte, den Trick zu durch-<lb/> ſchauen, deſſen ſich Sir Edward Grey bediente, indem er die Frage,<lb/> ob Verhandlungen über ein Marine-Abkommen mit Rußland<lb/> ſchwebten oder im Gange ſeien, nicht beantwortete, ſondern die ihm<lb/> gar nicht geſtellte Frage verneinte, ob England bindende Verpflich-<lb/> tungen bezüglich der Beteiligung an einem europäiſchen Kriege ein-<lb/> gegangen ſei. Ich neige vielmehr der Anſicht zu, daß die engliſche<lb/> Preſſe in dieſem Falle wieder einmal einen Beweis für ihre be-<lb/> kannte Diſziplin in Behandlung von Fragen der auswärtigen<lb/> Politik gegeben und, ſei es auf ein <hi rendition="#aq">mot d’ordre</hi> hin, ſei es aus<lb/> politiſchem Inſtinkt, geſchwiegen hat. Welchen Kritiken und welchen<lb/> Bemängelungen ſeitens der deutſchen Volksvertreter und der deut-<lb/> ſchen Preſſe würde nicht die Kaiſerliche Regierung ausgeſetzt ſein,<lb/> welches Geſchrei über unſere auswärtige Politik und unſere Diplo-<lb/> maten würde ſich nicht erheben, wenn eine ähnliche Erklärung vor<lb/> dem Reichstag abgegeben würde! In dem parlamentariſchen Eng-<lb/> land ſchweigt jedermann, wenn ein Miniſter in ſo offenkundiger<lb/> Weiſe die eigene Partei, die Volksvertretung und die öffentliche<lb/> Meinung des ganzen Landes irrezuführen ſucht. Was bringt nicht<lb/> England alles ſeiner Germanophobie zum Opfer.</quote> </cit><lb/> <cit> <quote><hi rendition="#c"><hi rendition="#aq">VIII.</hi></hi><lb/><hi rendition="#et">.... 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Auch Herr Sſaſonow treibe zuſehends mehr in das Fahr-<lb/> waſſer der ruſſiſchen Kriegspartei.</quote> </cit><lb/> <cit> <quote><hi rendition="#c">Anlage.</hi><lb/><hi rendition="#et">St. Petersburg, den 13./26. Mai 1914.</hi><lb/> Von der Erwägung ausgehend, daß eine Vereinbarung zwi-<lb/> ſchen Rußland und England erwünſcht ſei über das Zuſammen-<lb/></quote> </cit> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [626/0010]
Seite 626. Allgemeine Zeitung 24. Oktober 1914.
II.
.... Mai 1914.
Ueber die politiſchen Ergebniſſe des Beſuches des Königs von
England in Paris erfahre ich, daß zwiſchen Sir Edward Grey und
Herrn Doumergue eine Reihe politiſcher Fragen erörtert worden
iſt. Außerdem iſt franzöſiſcherſeits die Anregung erfolgt, die be-
ſtehenden beſonderen militärpolitiſchen Abmachungen zwiſchen
Frankreich und England durch analoge Abmachungen zwiſchen Eng-
land und Rußland zu ergänzen. Sir Edward Grey hat den Ge-
danken ſympathiſch aufgenommen, ſich aber außerſtande erklärt,
ohne Befragen des engliſchen Kabinetts irgend eine Bindung zu
übernehmen. Der Empfang der engliſchen Gäſte durch die fran-
zöſiſche Regierung ſowie die Pariſer Bevölkerung ſoll den Miniſter
in hohem Grade beeindruckt haben. Es iſt zu befürchten, daß der
engliſche Staatsmann, der zum erſten Male in amtlicher Eigenſchaft
im Auslande geweilt und, wie behauptet wird, überhaupt zum erſten
Male den engliſchen Boden verlaſſen hat, franzöſiſchen Einflüſſen
in Zukunft noch in höherem Grade unterliegen wird, als das bis-
her ſchon der Fall war.
III.
.... Juni 1914.
Die Nachricht, daß franzöſiſcherſeits anläßlich des Beſuches des
Königs von England in Paris militäriſche Abmachungen zwiſchen
England und Rußland angeregt worden ſind, wird mir beſtätigt.
Ueber die Vorgeſchichte erfahre ich zuverläſſig, daß die Anregung
auf Herrn Iswolski zurückgeht. Der Gedanke des Botſchafters war
es geweſen, die erwartete Feſtſtimmung der Tage von Paris zu
einer Umwandlung der Tripelentente in ein Bündnis nach Analogie
des Dreibundes auszunutzen. Wenn man ſich ſchließlich in Paris
und Petersburg mit weniger begnügt hat, ſo ſcheint dafür die Er-
wägung maßgebend geweſen zu ſein, daß in England ein großer
Teil der öffentlichen Meinung dem Abſchluß förmlicher Bündnis-
verträge mit anderen Mächten durchaus ablehnend gegenüberſteht.
Angeſichts dieſer Tatſache hat man ſich trotz der zahlreichen Beweiſe
für den gänzlichen Mangel an Widerſtandskraft der engliſchen
Politik gegen Einflüſſe der Entente — ich darf an die Gefolgſchaft
erinnern, die noch jüngſt Rußland in der Frage der deutſchen
Militärmiſſion in der Türkei von England erfahren hat — offenbar
geſcheut, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Es iſt vielmehr die
Taktik langſamen ſchrittweiſen Vorgehens beſchloſſen worden. Sir
Edward Grey hat die franzöſiſch-ruſſiſche Anregung im engliſchen
Miniſterrat warm vertreten, und das Kabinett hat ſich ſeinem
Votum angeſchloſſen. Es iſt beſchloſſen worden, in erſter Linie
ein Marine-Abkommen ins Auge zu faſſen und die Verhandlungen
in London zwiſchen der engliſchen Admiralität und dem ruſſiſchen
Militärattaché ſtattfinden zu laſſen.
Die Befriedigung der ruſſiſchen und franzöſiſchen Diplomatie
über dieſe erneute Ueberrumpelung der engliſchen Politiker iſt groß.
Man hält den Abſchluß eines formellen Bündnisvertrages nur noch
für eine Frage der Zeit. Um dies Ergebnis zu beſchleunigen, würde
man in Petersburg ſogar zu gewiſſen Scheinkonzeſſionen an Eng-
land in der perſiſchen Frage bereit ſein. Die zwiſchen den beiden
Mächten in dieſer Hinſicht in letzter Zeit aufgetauchten Meinungs-
verſchiedenheiten haben noch keine Erledigung gefunden. Ruſſiſcher-
ſeits arbeitet man vorläufig mit beruhigenden Verſicherungen wegen
der Beſorgniſſe, die in England im Hinblick auf die Zukunft Indiens
in neuerer Zeit weder hervorgetreten ſind.
.... Juni 1914.
Man iſt in Petersburg und London ſehr beunruhigt wegen der
franzöſiſchen Indiskretionen über die ruſſiſch-engliſche Marine-
konvention. Sir Edward Grey befürchtet Anfragen im Parlament.
Der Marineattaché Kapitän Wolkow, der einige Tage in Peters-
burg geweſen iſt, vermutlich um Inſtruktionen für die Verhand-
lungen in Empfang zu nehmen, iſt nach London zurückgekehrt. Die
Verhandlungen haben bereits begonnen.
.... Juni 1914.
Im Unterhauſe wurde von miniſterieller Seite an die Regie-
rung die Anfrage gerichtet, ob Großbritannien und Rußland jüngſt
ein Marine-Abkommen abgeſchloſſen hätten, und ob Verhandlungen
zwecks Abſchluß einer ſolchen Vereinbarung unlängſt zwiſchen den
beiden Ländern ſtattgefunden hätten oder gegenwärtig im Gange
ſeien.
Sir Edward Grey nahm in ſeiner Antwort Bezug auf ähnliche
im Vorjahre an die Regierung gerichtete Anfragen. Der Premier-
miniſter habe damals, ſo fuhr Sir Edward fort, geantwortet, es
beſtünden für den Fall des Ausbruches eines Krieges zwiſchen
europäiſchen Mächten keine unveröffentlichten Vereinbarungen, die
die freie Entſchließung der Regierung oder des Parlaments darüber,
ob Großbritannien an einem Kriege teilnehmen ſolle oder nicht,
einengen oder hemmen würden. Dieſe Antwort ſei heute ebenſo
zutreffend wie vor einem Jahre. Es ſeien ſeither keine Verhand-
lungen mit irgend einer Macht abgeſchloſſen worden, die die frag-
liche Erklärung weniger zutreffend machen würden; keine derartigen
Verhandlungen ſeien im Gange, und es ſei auch, ſoweit er urteilen
könne, nicht wahrſcheinlich, daß in ſolche eingetreten werden würde,
wenn aber irgend ein Abkommen abgeſchloſſen werden ſollte, das
eine Zurücknahme oder eine Abänderung der erwähnten letztjährigen
Erklärung des Premierminiſters nötig machen ſollte, ſo müßte das-
ſelbe ſeiner Anſicht nach, und das würde auch wohl der Fall ſein,
dem Parlament vorgelegt werden.
Die engliſche Preſſe enthält ſich in ihrer großen Mehrzahl jeg-
licher Bemerkungen zu der Erklärung des Miniſters.
Nur die beiden radikalen Blätter Daily News und Mancheſter
Guardian äußern ſich in kurzen Leitartikeln. Die erſtgenannte
Zeitung begrüßt die Worte Sir Edward Greys mit Genugtuung
und meint, ſie ſeien klar genug, um jeden Zweifel zu zerſtreuen.
England ſei nicht im Schlepptau irgend eines anderen Landes. Es
ſei nicht der Vaſall Rußlands, nicht der Verbündete Frankreichs und
nicht der Feind Deutſchlands. Die Erklärung ſei eine heilſame
Lektion für diejenigen engliſchen Preſſeleute, die glauben machen
wollten, daß es eine „Tripelentente“ gebe, die dem Dreibund
weſensgleich ſei.
Der Mancheſter Guardian hingegen iſt durch die Erklärung des
Miniſters nicht befriedigt. Er bemängelt ihre gewundene Form
und ſucht nachzuweiſen, daß ſie Auslegungen zulaſſe, die das Vor-
handenſein gewiſſer, vielleicht bedingter Verabredungen der gerücht-
weiſe verlautbarten Art nicht durchaus ausſchlöſſen.
Die Erklärungen Sir Edward Greys entſprechen einer ver-
traulichen Aeußerung einer Perſönlichkeit aus der nächſten Um-
gebung des Miniſters:
„Er könne aufs ausdrücklichſte und beſtimmteſte verſichern, daß
keinerlei Abmachungen militäriſcher oder maritimer Natur zwiſchen
England und Frankreich beſtünden, obwohl der Wunſch nach ſolchen
auf franzöſiſcher Seite wiederholt kundgegeben worden ſei. Was
das engliſche Kabinett Frankreich abgeſchlagen habe, werde es
Rußland nicht gewähren. Es ſei keine Flottenkonvention mit Ruß-
land geſchloſſen worden, und es werde auch keine geſchloſſen
werden.“
VI.
.... Juni 1914.
Sir Edward Grey hat offenbar das Bedürfnis empfunden, den
Ausführungen des Mancheſter Guardian über ſeine Interpellations-
beantwortung in Sachen der angeblichen engliſch-ruſſiſchen Flotten-
entente ſogleich nachdrücklich entgegenzutreten. Die Weſtminſter
Gazette bringt an leitender Stelle aus der Feder Mr. Spenders, der
bekanntlich zu den intimſten politiſchen Freunden Sir Edward Greys
gehört, ein Dementi, das an Beſtimmtheit nichts zu wünſchen übrig
läßt. Es iſt darin geſagt: Es beſteht kein Flottenabkommen und
es ſchweben keine Verhandlungen über ein Flottenabkommen zwi-
ſchen Großbritannien und Rußland.
Niemand, der den Charakter und die Methoden Sir Edward
Greys kenne, werde auch nur einen Augenblick annehmen, daß die
von ihm abgegebene Erklärung bezwecke, die Wahrheit zu ver-
ſchleiern.
VII.
.... Juni 1914.
Daß die Erklärung Sir Edward Greys im engliſchen Unter-
hauſe über das ruſſiſch-engliſche Marine-Abkommen von der öffent-
lichen Meinung in England ſo bereitwillig akzeptiert worden iſt, hat
hier und in Petersburg große Erleichterung hervorgerufen. Die
Drahtzieher der Aktion hatten ſchon befürchtet, daß der ſchöne
Traum des neuen Dreibundes ausgeträumt ſein könne. Es fällt
mir übrigens ſchwer, daran zu glauben, daß es dem Mancheſter
Guardian allein beſchieden geweſen ſein ſollte, den Trick zu durch-
ſchauen, deſſen ſich Sir Edward Grey bediente, indem er die Frage,
ob Verhandlungen über ein Marine-Abkommen mit Rußland
ſchwebten oder im Gange ſeien, nicht beantwortete, ſondern die ihm
gar nicht geſtellte Frage verneinte, ob England bindende Verpflich-
tungen bezüglich der Beteiligung an einem europäiſchen Kriege ein-
gegangen ſei. Ich neige vielmehr der Anſicht zu, daß die engliſche
Preſſe in dieſem Falle wieder einmal einen Beweis für ihre be-
kannte Diſziplin in Behandlung von Fragen der auswärtigen
Politik gegeben und, ſei es auf ein mot d’ordre hin, ſei es aus
politiſchem Inſtinkt, geſchwiegen hat. Welchen Kritiken und welchen
Bemängelungen ſeitens der deutſchen Volksvertreter und der deut-
ſchen Preſſe würde nicht die Kaiſerliche Regierung ausgeſetzt ſein,
welches Geſchrei über unſere auswärtige Politik und unſere Diplo-
maten würde ſich nicht erheben, wenn eine ähnliche Erklärung vor
dem Reichstag abgegeben würde! In dem parlamentariſchen Eng-
land ſchweigt jedermann, wenn ein Miniſter in ſo offenkundiger
Weiſe die eigene Partei, die Volksvertretung und die öffentliche
Meinung des ganzen Landes irrezuführen ſucht. Was bringt nicht
England alles ſeiner Germanophobie zum Opfer.
VIII.
.... Juni 1914.
Von einer Stelle, die ſich die alten Sympathien für Deutſch-
land bewahrt hat, iſt mir mit der Bitte um ſtrengſte Geheimhal-
tung die gehorſamſt beigefügte Aufzeichnung über eine Konferenz
zugegangen, die am 26. Mai ds. Js. beim Chef des ruſſiſchen
Marineſtabes ſtattgefunden hat und in der die Grundlagen für die
Verhandlungen über das ruſſiſch-engliſche Marine-Abkommen feſt-
geſtellt worden ſind. Zu welchem Ergebnis die Verhandlungen bis
jetzt geführt haben, wußte mein Gewährsmann noch nicht, äußerte
aber ſehr ernſte Beſorgniſſe über die Förderung, die der ruſſiſche
Nationalismus erfahren werde, wenn das Abkommen tatſächlich
zuſtande komme. Sei man des Mitgehens Englands erſt gewiß,
ſo würden die bekannten panſlawiſtiſchen Hetzer nicht zögern, die
erſte ſich bietende Gelegenheit zu benutzen, um es zum Kriege zu
bringen. Auch Herr Sſaſonow treibe zuſehends mehr in das Fahr-
waſſer der ruſſiſchen Kriegspartei.
Anlage.
St. Petersburg, den 13./26. Mai 1914.
Von der Erwägung ausgehend, daß eine Vereinbarung zwi-
ſchen Rußland und England erwünſcht ſei über das Zuſammen-
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(2023-04-27T12:00:00Z)
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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
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