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Allgemeine Zeitung, Nr. 39, 26. September 1914.

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Allgemeine Zeitung 26. September 1914.
[Spaltenumbruch] einen großes Aufsehen erregenden Artikel des englischen Politikers
Ponsonby, der Mitglied des Unterhauses ist, zur Kenntnis zu
nehmen, den die englische Zeitschrift "The Nation" veröffentlicht.
Er ist eine schwere Anklage und besteht aus einer in Katechismus-
form zusammengestellten Gegenüberstellung von dreizehn kurzen
Fragen und Antworten. Ponsonby schreibt:

"Wenn wir, die wir glauben, daß viele verhängnisvolle Feh-
ler begangen worden sind, uns noch weiter in Schweigen hüllen
würden, so würden diese Fehler nie öffentlich festgestellt werden,
und die Hoffnung auf eine zukünftige Aufklärung wäre vernichtet."
Er stellt dann folgende Fragen, durch deren Beantwortung er seine
und seiner Meinungsgenossen Anschauungen klar und bestimmt
ausdrückt:

1. Beweist nicht die in unserem Weißbuch niedergelegte Korre-
spondenz über die Ursachen des Krieges klar, daß unsere ganze
frühere Politik uns starke Verpflichtungen auferlegte und uns in
ein sehr wirres Netz verwickelte, das wir uns selbst geknüpft haben?
-- Ja.
2. Ist es richtig oder auch nur vernünftig, hinter dem Rücken
einer Nation bindende Abmachungen mit einer anderen Nation zu
treffen? -- Nein.
3. Hat unsere Regierung ausdrücklich erklärt, daß wir im
Kriegsfall vollständig frei und ohne jede Verpflichtung wären? --
Ja.
4. Hätten wir Frankreich den Krieg erklärt, wenn Frankreich
es notwendig gefunden hätte, aus Rücksicht auf seine Sicherheit ein
französisches Heer über die belgische Grenze zu schicken? -- Nein.
5. Hat Deutschland von vornherein gewußt, daß wir verpflich-
tet waren, Frankreich zu unterstützen, und hat Deutschland den
Krieg mit uns gewollt? -- Nein.
6. Wäre nicht Deutschlands Haltung ganz anders gewesen,
wenn wir von Anfang an unsere Absichten offen und klar darge-
legt hätten? -- Ja.
7. Ist es nicht in erster Reihe ein Angriff der slawischen Rasse,
also Rußlands, den Deutschland fürchtete? -- Ja.
8. Bedeutet nicht unsere Unterstützung Rußlands eine Kräfti-
gung der russischen Autokratie und des Militarismus und damit
auch eine Störung der Entwicklung des russischen Volkes? -- Ja.
9. Würde nicht Rußlands Kriegsglück weitere Ländererwer-
bungen Rußlands mit sich bringen und wäre das nicht ein großes
Unglück? -- Ja.
10. Ist es möglich oder wünschenswert, daß das Deutsche Reich
vernichtet und sein natürliches Aufblühen für immer gehemmt
wird? -- Nein.
11. Ist es wahrscheinlich, daß Deutschland für die Zukunft ein
untätiger und untergeordneter Staat würde, wenn es all seine
Kolonien verlöre? -- Nein.
12. Herrschte beim Ausbruch des Krieges in dem britischen
Volk irgendwelche feindliche Stimmung Deutschland gegenüber?
-- Nein.
13. Haben wir Ursache zu der Annahme, daß das offizielle Eng-
land bereits seit längerer Zeit eine antideutsche Politik getrieben
hat? -- Ja.


Ein offener Brief.

Der kaiserlich deutsche Gesandte a. D. Graf v. Leyden hat an
Sir Frank Lascelles einen Brief gerichtet, von dem er der Bayr.
Staatsztg. nachstehende deutsche Uebersetzung zur Verfügung stellt:


Lieber Lascelles!1)

Es ist erst zwei Jahre her, daß wir uns beide der Hoffnung
hingaben, innerhalb der Grenzen unserer persönlichen Verantwort-
lichkeit es ermöglicht zu haben, zur Herstellung besserer Beziehun-
gen zwischen unseren Brüdern beizutragen. Wir hatten dabei die
Unterstützung hervorragender Vertreter der wissenschaftlichen, lite-
rarischen, politischen und kommerziellen Kreise gefunden, alles Män-
[Spaltenumbruch] ner von liberalen und ernsten Ueberzeugungen, Deutsche und Eng-
länder. Eine merkwürdige Tatsache: als wir vor noch wenigen
Monaten zusammen über die Ratsamkeit einer erneuten Versamm-
lung dieser Elemente berieten, kamen wir dahin überein, daß bei
der friedlichen Gestaltung der Dinge solche Beschlüsse auf den Herbst
zu vertagen wären.

Die Ereignisse verliefen schneller, wir besinden uns inmitten
eines selbstmörderischen Krieges.

Wenn ich versuche, diesen Brief in Ihre Hände gelangen zu
lassen, so geschieht dies aus zwei Gründen:

Erstens weil ich sogar jetzt noch annehme, daß für uns beide
kein Grund besteht, an unserer gegenseitigen Ehrlichkeit zu zweifeln.

Zweitens weil Sie einer von den Engländern sind, die sich
eine gründliche Kenntnis deutscher Zustände verschafft und das Ver-
trauen unserer regierenden Kreise genossen haben. Ich würde es
daher für eine Anmaßung meinerseits halten, wollte ich es unter-
nehmen, Sie mit falscher Information zu versehen.

Auch gebe ich Ihnen wahrscheinlich keine unerwartete Kunde,
wenn ich Ihnen mitteile, daß England zurzeit die in Deutschland
vorhaßteste Nation ist. Und dies bis zu einem solchen Grade, daß
viele zu vergessen scheinen, daß der verruchte Krieg, der um uns
rast, seinen eigentlichen Ursprung aus panslawistischer und russischer
Herausforderung herleitet.

Aber, das Volk dieses Landes ist nun einmal von der unaus-
löschlichen und instinktiven Ueberzeugung erfaßt, daß England so-
wohl Rußland als Frankreich seit Jahren angestachelt habe, daß
England sich von Motiven der Eifersucht und des Neides leiten
lasse und daß sein Hauptzweck, indem es uns den Krieg erklärt
habe, unsere Vernichtung sei, sogar wenn dieselbe nur unter Ein-
setzung einer Kosakenherrschaft in Zentraleuropa zu erreichen sein
sollte.

Während nun im Volke in solcher Weise argumentiert wird,
sind die höher gebildeten Kreise der Ueberzeugung, daß nicht nur
die Verletzung der belgischen Neutralität durch Frankreich in Eng-
land kein Gefühl der Erbitterung ausgelöst haben würde, sondern
daß -- Belgien beiseite gelassen -- die Neutralität von Großbritan-
nien selbst unter keinen Umständen während des Verlaufes des
Krieges aufrecht erhalten worden wäre.

Sie werfen Sir Edward Grey vor, in seinen letzten offiziellen
Mitteilungen kein Wort mehr von der schauderhaften Mordtat von
Serajewo oder von der russischen Mobilisierung erwähnt zu haben,
welch letztere uns einfach zum Kriege gezwungen hat, wollten wir
nicht mit offenen Augen in unser Verderben rennen.

Diese gebildeten Kreise sind endlich der Meinung, daß nur das
kriegerische Eingreifen Ihrer Regierung dem Kampf einen wirklich
europäischen Charakter verliehen habe, während wir auf unserer
Seite seit Jahren gezwungen waren, die Eventualität des Zusam-
menstehens mit Oesterreich-Ungarn im Kampfe mit Rußland und
Frankreich ins Auge zu fassen.

Ich glaube Ihnen garantieren zu können, daß dies in wenigen
Worten die Gefühle der deutschen Nation widergibt, welche geeinigt
steht wie ein Mann, zu den schwersten Opfern bereit, zugleich von
Schmerz und innerer Empörung darüber bewegt ist, daß sie sich von
denen verraten sieht, die sie, in einem gewissen Sinne wenigstens,
leider wie ihr eigenes Fleisch und Blut anzusehen pflegte. Denn, was
immer unsere gelegentlichen Differenzen gewesen sein mögen, die
Mehrzahl der Deutschen hat sich England nie als Rußlands Ge-
nossen und Japans Spießgesellen in solcher Uebeltat vorzustellen
vermocht.

Was die Engländer getan haben, werden sie mit ihrem eigenen
Gewissen oder mit dem zu vereinbaren haben, was ihre gegen-
wärtigen Staatsmänner in zynischer Weise als ihre "Interessen"
bezeichnen. Interessen, welche jedenfalls plötzlich in totalen Gegen-
satz zu den politischen Traditionen Ihres Landes geraten sind. Wäh-
rend andrerseits, wenn alle Bande gemeinsamer Kultur, Geschichte
und Zivilisation Erwägungen momentanen Vorteils geopfert wer-
den sollen, das internationale Leben Europas zu einer Monstrosität
verkehrt werden wird.

Ich möchte die Schatten Lord Salisburys und Disraelis
sprechen hören.

Ihr ergebener
Leyden.
1) Sir Frank Lascelles, bis vor einigen Jahren britischer Botschafter in Berlin,
präsidierte im Jahre 1912 einer Konferenz, welche von englischer Seite zur Her-
stellung besserer Beziehungen angeregt worden war.

Allgemeine Zeitung 26. September 1914.
[Spaltenumbruch] einen großes Aufſehen erregenden Artikel des engliſchen Politikers
Ponſonby, der Mitglied des Unterhauſes iſt, zur Kenntnis zu
nehmen, den die engliſche Zeitſchrift „The Nation“ veröffentlicht.
Er iſt eine ſchwere Anklage und beſteht aus einer in Katechismus-
form zuſammengeſtellten Gegenüberſtellung von dreizehn kurzen
Fragen und Antworten. Ponſonby ſchreibt:

„Wenn wir, die wir glauben, daß viele verhängnisvolle Feh-
ler begangen worden ſind, uns noch weiter in Schweigen hüllen
würden, ſo würden dieſe Fehler nie öffentlich feſtgeſtellt werden,
und die Hoffnung auf eine zukünftige Aufklärung wäre vernichtet.“
Er ſtellt dann folgende Fragen, durch deren Beantwortung er ſeine
und ſeiner Meinungsgenoſſen Anſchauungen klar und beſtimmt
ausdrückt:

1. Beweiſt nicht die in unſerem Weißbuch niedergelegte Korre-
ſpondenz über die Urſachen des Krieges klar, daß unſere ganze
frühere Politik uns ſtarke Verpflichtungen auferlegte und uns in
ein ſehr wirres Netz verwickelte, das wir uns ſelbſt geknüpft haben?
— Ja.
2. Iſt es richtig oder auch nur vernünftig, hinter dem Rücken
einer Nation bindende Abmachungen mit einer anderen Nation zu
treffen? — Nein.
3. Hat unſere Regierung ausdrücklich erklärt, daß wir im
Kriegsfall vollſtändig frei und ohne jede Verpflichtung wären? —
Ja.
4. Hätten wir Frankreich den Krieg erklärt, wenn Frankreich
es notwendig gefunden hätte, aus Rückſicht auf ſeine Sicherheit ein
franzöſiſches Heer über die belgiſche Grenze zu ſchicken? — Nein.
5. Hat Deutſchland von vornherein gewußt, daß wir verpflich-
tet waren, Frankreich zu unterſtützen, und hat Deutſchland den
Krieg mit uns gewollt? — Nein.
6. Wäre nicht Deutſchlands Haltung ganz anders geweſen,
wenn wir von Anfang an unſere Abſichten offen und klar darge-
legt hätten? — Ja.
7. Iſt es nicht in erſter Reihe ein Angriff der ſlawiſchen Raſſe,
alſo Rußlands, den Deutſchland fürchtete? — Ja.
8. Bedeutet nicht unſere Unterſtützung Rußlands eine Kräfti-
gung der ruſſiſchen Autokratie und des Militarismus und damit
auch eine Störung der Entwicklung des ruſſiſchen Volkes? — Ja.
9. Würde nicht Rußlands Kriegsglück weitere Ländererwer-
bungen Rußlands mit ſich bringen und wäre das nicht ein großes
Unglück? — Ja.
10. Iſt es möglich oder wünſchenswert, daß das Deutſche Reich
vernichtet und ſein natürliches Aufblühen für immer gehemmt
wird? — Nein.
11. Iſt es wahrſcheinlich, daß Deutſchland für die Zukunft ein
untätiger und untergeordneter Staat würde, wenn es all ſeine
Kolonien verlöre? — Nein.
12. Herrſchte beim Ausbruch des Krieges in dem britiſchen
Volk irgendwelche feindliche Stimmung Deutſchland gegenüber?
— Nein.
13. Haben wir Urſache zu der Annahme, daß das offizielle Eng-
land bereits ſeit längerer Zeit eine antideutſche Politik getrieben
hat? — Ja.


Ein offener Brief.

Der kaiſerlich deutſche Geſandte a. D. Graf v. Leyden hat an
Sir Frank Lascelles einen Brief gerichtet, von dem er der Bayr.
Staatsztg. nachſtehende deutſche Ueberſetzung zur Verfügung ſtellt:


Lieber Lascelles!1)

Es iſt erſt zwei Jahre her, daß wir uns beide der Hoffnung
hingaben, innerhalb der Grenzen unſerer perſönlichen Verantwort-
lichkeit es ermöglicht zu haben, zur Herſtellung beſſerer Beziehun-
gen zwiſchen unſeren Brüdern beizutragen. Wir hatten dabei die
Unterſtützung hervorragender Vertreter der wiſſenſchaftlichen, lite-
rariſchen, politiſchen und kommerziellen Kreiſe gefunden, alles Män-
[Spaltenumbruch] ner von liberalen und ernſten Ueberzeugungen, Deutſche und Eng-
länder. Eine merkwürdige Tatſache: als wir vor noch wenigen
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lung dieſer Elemente berieten, kamen wir dahin überein, daß bei
der friedlichen Geſtaltung der Dinge ſolche Beſchlüſſe auf den Herbſt
zu vertagen wären.

Die Ereigniſſe verliefen ſchneller, wir beſinden uns inmitten
eines ſelbſtmörderiſchen Krieges.

Wenn ich verſuche, dieſen Brief in Ihre Hände gelangen zu
laſſen, ſo geſchieht dies aus zwei Gründen:

Erſtens weil ich ſogar jetzt noch annehme, daß für uns beide
kein Grund beſteht, an unſerer gegenſeitigen Ehrlichkeit zu zweifeln.

Zweitens weil Sie einer von den Engländern ſind, die ſich
eine gründliche Kenntnis deutſcher Zuſtände verſchafft und das Ver-
trauen unſerer regierenden Kreiſe genoſſen haben. Ich würde es
daher für eine Anmaßung meinerſeits halten, wollte ich es unter-
nehmen, Sie mit falſcher Information zu verſehen.

Auch gebe ich Ihnen wahrſcheinlich keine unerwartete Kunde,
wenn ich Ihnen mitteile, daß England zurzeit die in Deutſchland
vorhaßteſte Nation iſt. Und dies bis zu einem ſolchen Grade, daß
viele zu vergeſſen ſcheinen, daß der verruchte Krieg, der um uns
raſt, ſeinen eigentlichen Urſprung aus panſlawiſtiſcher und ruſſiſcher
Herausforderung herleitet.

Aber, das Volk dieſes Landes iſt nun einmal von der unaus-
löſchlichen und inſtinktiven Ueberzeugung erfaßt, daß England ſo-
wohl Rußland als Frankreich ſeit Jahren angeſtachelt habe, daß
England ſich von Motiven der Eiferſucht und des Neides leiten
laſſe und daß ſein Hauptzweck, indem es uns den Krieg erklärt
habe, unſere Vernichtung ſei, ſogar wenn dieſelbe nur unter Ein-
ſetzung einer Koſakenherrſchaft in Zentraleuropa zu erreichen ſein
ſollte.

Während nun im Volke in ſolcher Weiſe argumentiert wird,
ſind die höher gebildeten Kreiſe der Ueberzeugung, daß nicht nur
die Verletzung der belgiſchen Neutralität durch Frankreich in Eng-
land kein Gefühl der Erbitterung ausgelöſt haben würde, ſondern
daß — Belgien beiſeite gelaſſen — die Neutralität von Großbritan-
nien ſelbſt unter keinen Umſtänden während des Verlaufes des
Krieges aufrecht erhalten worden wäre.

Sie werfen Sir Edward Grey vor, in ſeinen letzten offiziellen
Mitteilungen kein Wort mehr von der ſchauderhaften Mordtat von
Serajewo oder von der ruſſiſchen Mobiliſierung erwähnt zu haben,
welch letztere uns einfach zum Kriege gezwungen hat, wollten wir
nicht mit offenen Augen in unſer Verderben rennen.

Dieſe gebildeten Kreiſe ſind endlich der Meinung, daß nur das
kriegeriſche Eingreifen Ihrer Regierung dem Kampf einen wirklich
europäiſchen Charakter verliehen habe, während wir auf unſerer
Seite ſeit Jahren gezwungen waren, die Eventualität des Zuſam-
menſtehens mit Oeſterreich-Ungarn im Kampfe mit Rußland und
Frankreich ins Auge zu faſſen.

Ich glaube Ihnen garantieren zu können, daß dies in wenigen
Worten die Gefühle der deutſchen Nation widergibt, welche geeinigt
ſteht wie ein Mann, zu den ſchwerſten Opfern bereit, zugleich von
Schmerz und innerer Empörung darüber bewegt iſt, daß ſie ſich von
denen verraten ſieht, die ſie, in einem gewiſſen Sinne wenigſtens,
leider wie ihr eigenes Fleiſch und Blut anzuſehen pflegte. Denn, was
immer unſere gelegentlichen Differenzen geweſen ſein mögen, die
Mehrzahl der Deutſchen hat ſich England nie als Rußlands Ge-
noſſen und Japans Spießgeſellen in ſolcher Uebeltat vorzuſtellen
vermocht.

Was die Engländer getan haben, werden ſie mit ihrem eigenen
Gewiſſen oder mit dem zu vereinbaren haben, was ihre gegen-
wärtigen Staatsmänner in zyniſcher Weiſe als ihre „Intereſſen“
bezeichnen. Intereſſen, welche jedenfalls plötzlich in totalen Gegen-
ſatz zu den politiſchen Traditionen Ihres Landes geraten ſind. Wäh-
rend andrerſeits, wenn alle Bande gemeinſamer Kultur, Geſchichte
und Ziviliſation Erwägungen momentanen Vorteils geopfert wer-
den ſollen, das internationale Leben Europas zu einer Monſtroſität
verkehrt werden wird.

Ich möchte die Schatten Lord Salisburys und Disraelis
ſprechen hören.

Ihr ergebener
Leyden.
1) Sir Frank Lascelles, bis vor einigen Jahren britiſcher Botſchafter in Berlin,
präſidierte im Jahre 1912 einer Konferenz, welche von engliſcher Seite zur Her-
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[578/0004] Allgemeine Zeitung 26. September 1914. einen großes Aufſehen erregenden Artikel des engliſchen Politikers Ponſonby, der Mitglied des Unterhauſes iſt, zur Kenntnis zu nehmen, den die engliſche Zeitſchrift „The Nation“ veröffentlicht. Er iſt eine ſchwere Anklage und beſteht aus einer in Katechismus- form zuſammengeſtellten Gegenüberſtellung von dreizehn kurzen Fragen und Antworten. Ponſonby ſchreibt: „Wenn wir, die wir glauben, daß viele verhängnisvolle Feh- ler begangen worden ſind, uns noch weiter in Schweigen hüllen würden, ſo würden dieſe Fehler nie öffentlich feſtgeſtellt werden, und die Hoffnung auf eine zukünftige Aufklärung wäre vernichtet.“ Er ſtellt dann folgende Fragen, durch deren Beantwortung er ſeine und ſeiner Meinungsgenoſſen Anſchauungen klar und beſtimmt ausdrückt: 1. Beweiſt nicht die in unſerem Weißbuch niedergelegte Korre- ſpondenz über die Urſachen des Krieges klar, daß unſere ganze frühere Politik uns ſtarke Verpflichtungen auferlegte und uns in ein ſehr wirres Netz verwickelte, das wir uns ſelbſt geknüpft haben? — Ja. 2. Iſt es richtig oder auch nur vernünftig, hinter dem Rücken einer Nation bindende Abmachungen mit einer anderen Nation zu treffen? — Nein. 3. Hat unſere Regierung ausdrücklich erklärt, daß wir im Kriegsfall vollſtändig frei und ohne jede Verpflichtung wären? — Ja. 4. Hätten wir Frankreich den Krieg erklärt, wenn Frankreich es notwendig gefunden hätte, aus Rückſicht auf ſeine Sicherheit ein franzöſiſches Heer über die belgiſche Grenze zu ſchicken? — Nein. 5. Hat Deutſchland von vornherein gewußt, daß wir verpflich- tet waren, Frankreich zu unterſtützen, und hat Deutſchland den Krieg mit uns gewollt? — Nein. 6. Wäre nicht Deutſchlands Haltung ganz anders geweſen, wenn wir von Anfang an unſere Abſichten offen und klar darge- legt hätten? — Ja. 7. Iſt es nicht in erſter Reihe ein Angriff der ſlawiſchen Raſſe, alſo Rußlands, den Deutſchland fürchtete? — Ja. 8. Bedeutet nicht unſere Unterſtützung Rußlands eine Kräfti- gung der ruſſiſchen Autokratie und des Militarismus und damit auch eine Störung der Entwicklung des ruſſiſchen Volkes? — Ja. 9. Würde nicht Rußlands Kriegsglück weitere Ländererwer- bungen Rußlands mit ſich bringen und wäre das nicht ein großes Unglück? — Ja. 10. Iſt es möglich oder wünſchenswert, daß das Deutſche Reich vernichtet und ſein natürliches Aufblühen für immer gehemmt wird? — Nein. 11. Iſt es wahrſcheinlich, daß Deutſchland für die Zukunft ein untätiger und untergeordneter Staat würde, wenn es all ſeine Kolonien verlöre? — Nein. 12. Herrſchte beim Ausbruch des Krieges in dem britiſchen Volk irgendwelche feindliche Stimmung Deutſchland gegenüber? — Nein. 13. Haben wir Urſache zu der Annahme, daß das offizielle Eng- land bereits ſeit längerer Zeit eine antideutſche Politik getrieben hat? — Ja. Ein offener Brief. Der kaiſerlich deutſche Geſandte a. D. Graf v. Leyden hat an Sir Frank Lascelles einen Brief gerichtet, von dem er der Bayr. Staatsztg. nachſtehende deutſche Ueberſetzung zur Verfügung ſtellt: München, den 12. September 1914. Lieber Lascelles! 1) Es iſt erſt zwei Jahre her, daß wir uns beide der Hoffnung hingaben, innerhalb der Grenzen unſerer perſönlichen Verantwort- lichkeit es ermöglicht zu haben, zur Herſtellung beſſerer Beziehun- gen zwiſchen unſeren Brüdern beizutragen. Wir hatten dabei die Unterſtützung hervorragender Vertreter der wiſſenſchaftlichen, lite- rariſchen, politiſchen und kommerziellen Kreiſe gefunden, alles Män- ner von liberalen und ernſten Ueberzeugungen, Deutſche und Eng- länder. Eine merkwürdige Tatſache: als wir vor noch wenigen Monaten zuſammen über die Ratſamkeit einer erneuten Verſamm- lung dieſer Elemente berieten, kamen wir dahin überein, daß bei der friedlichen Geſtaltung der Dinge ſolche Beſchlüſſe auf den Herbſt zu vertagen wären. Die Ereigniſſe verliefen ſchneller, wir beſinden uns inmitten eines ſelbſtmörderiſchen Krieges. Wenn ich verſuche, dieſen Brief in Ihre Hände gelangen zu laſſen, ſo geſchieht dies aus zwei Gründen: Erſtens weil ich ſogar jetzt noch annehme, daß für uns beide kein Grund beſteht, an unſerer gegenſeitigen Ehrlichkeit zu zweifeln. Zweitens weil Sie einer von den Engländern ſind, die ſich eine gründliche Kenntnis deutſcher Zuſtände verſchafft und das Ver- trauen unſerer regierenden Kreiſe genoſſen haben. Ich würde es daher für eine Anmaßung meinerſeits halten, wollte ich es unter- nehmen, Sie mit falſcher Information zu verſehen. Auch gebe ich Ihnen wahrſcheinlich keine unerwartete Kunde, wenn ich Ihnen mitteile, daß England zurzeit die in Deutſchland vorhaßteſte Nation iſt. Und dies bis zu einem ſolchen Grade, daß viele zu vergeſſen ſcheinen, daß der verruchte Krieg, der um uns raſt, ſeinen eigentlichen Urſprung aus panſlawiſtiſcher und ruſſiſcher Herausforderung herleitet. Aber, das Volk dieſes Landes iſt nun einmal von der unaus- löſchlichen und inſtinktiven Ueberzeugung erfaßt, daß England ſo- wohl Rußland als Frankreich ſeit Jahren angeſtachelt habe, daß England ſich von Motiven der Eiferſucht und des Neides leiten laſſe und daß ſein Hauptzweck, indem es uns den Krieg erklärt habe, unſere Vernichtung ſei, ſogar wenn dieſelbe nur unter Ein- ſetzung einer Koſakenherrſchaft in Zentraleuropa zu erreichen ſein ſollte. Während nun im Volke in ſolcher Weiſe argumentiert wird, ſind die höher gebildeten Kreiſe der Ueberzeugung, daß nicht nur die Verletzung der belgiſchen Neutralität durch Frankreich in Eng- land kein Gefühl der Erbitterung ausgelöſt haben würde, ſondern daß — Belgien beiſeite gelaſſen — die Neutralität von Großbritan- nien ſelbſt unter keinen Umſtänden während des Verlaufes des Krieges aufrecht erhalten worden wäre. Sie werfen Sir Edward Grey vor, in ſeinen letzten offiziellen Mitteilungen kein Wort mehr von der ſchauderhaften Mordtat von Serajewo oder von der ruſſiſchen Mobiliſierung erwähnt zu haben, welch letztere uns einfach zum Kriege gezwungen hat, wollten wir nicht mit offenen Augen in unſer Verderben rennen. Dieſe gebildeten Kreiſe ſind endlich der Meinung, daß nur das kriegeriſche Eingreifen Ihrer Regierung dem Kampf einen wirklich europäiſchen Charakter verliehen habe, während wir auf unſerer Seite ſeit Jahren gezwungen waren, die Eventualität des Zuſam- menſtehens mit Oeſterreich-Ungarn im Kampfe mit Rußland und Frankreich ins Auge zu faſſen. Ich glaube Ihnen garantieren zu können, daß dies in wenigen Worten die Gefühle der deutſchen Nation widergibt, welche geeinigt ſteht wie ein Mann, zu den ſchwerſten Opfern bereit, zugleich von Schmerz und innerer Empörung darüber bewegt iſt, daß ſie ſich von denen verraten ſieht, die ſie, in einem gewiſſen Sinne wenigſtens, leider wie ihr eigenes Fleiſch und Blut anzuſehen pflegte. Denn, was immer unſere gelegentlichen Differenzen geweſen ſein mögen, die Mehrzahl der Deutſchen hat ſich England nie als Rußlands Ge- noſſen und Japans Spießgeſellen in ſolcher Uebeltat vorzuſtellen vermocht. Was die Engländer getan haben, werden ſie mit ihrem eigenen Gewiſſen oder mit dem zu vereinbaren haben, was ihre gegen- wärtigen Staatsmänner in zyniſcher Weiſe als ihre „Intereſſen“ bezeichnen. Intereſſen, welche jedenfalls plötzlich in totalen Gegen- ſatz zu den politiſchen Traditionen Ihres Landes geraten ſind. Wäh- rend andrerſeits, wenn alle Bande gemeinſamer Kultur, Geſchichte und Ziviliſation Erwägungen momentanen Vorteils geopfert wer- den ſollen, das internationale Leben Europas zu einer Monſtroſität verkehrt werden wird. Ich möchte die Schatten Lord Salisburys und Disraelis ſprechen hören. Ihr ergebener Leyden. 1) Sir Frank Lascelles, bis vor einigen Jahren britiſcher Botſchafter in Berlin, präſidierte im Jahre 1912 einer Konferenz, welche von engliſcher Seite zur Her- ſtellung beſſerer Beziehungen angeregt worden war.

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen, Susanne Haaf: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-04-08T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 39, 26. September 1914, S. 578. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine39_1914/4>, abgerufen am 24.11.2024.