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Allgemeine Zeitung, Nr. 39, 8. Februar 1850.

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Beilage zu Nr. 39 der Allg. Zeitung.
8 Februar 1850.


Uebersicht.

Die materielle Noth der unteren Volksclassen und ihre Ursachen. --
München. (Das bayerische Medicinalwesen und die ärztliche Commission.
Deutsche Musik. Ueber die Reform der Militärjustiz.) -- Wien. (In-
struction für den österreichischen Gesandten in Athen. Die Verfassung
von Böhmen. Ueberschwemmung. Leichte Erkrankung des Kaisers.)



Die materielle Noth der unteren Volksclassen und ihre
Ursachen.

"Die unteren Classen der Bevölkerung als ein eigener polizeilich
bevormundeter Stand", so bezeichnet Hr. v. Holzschuher den Standpunkt
von welchem aus er seine Untersuchung anstellt, "sind erst ein Begriff der
Neuzeit, eine Folge der unverhältnißmäßig gestiegenen Bevölkerung und
der ungleichen Vertheilung des Vermögens, ganz besonders aber des
Systems der Production im Großen." Die Sache selbst bringt es mit sich
daß der Rückblick auf die Zustände des Alterthums und des Mittelalters,
durch welchen der Verfasser die geschichtliche Seite seiner Behauptung
nachzuweisen sucht, nur ein sehr flüchtiger seyn kann, und wir verweilen
deßhalb nicht bei den dadurch gewonnenen Ergebnissen, wiewohl wir von
jeher starke Bedenken gehegt gegen den allen unsern volkswirthschaftlichen
Schriftstellern sehr geläufigen Satz: daß die früheren Jahrhunderte über-
haupt kein Proletariat im heutigen Sinne des Worts gehabt haben.
Gewiß ist daß der Staat sich bis auf die jüngsten Zeiten um die Noth der
Besitzlosen kaum anderweitig bekümmert als durch die Anstellung von
Bettelvögten, den Bau von Zuchthäusern und die Errichtung von Galgen.
Wenn sich der Staat die Armuth des großen Haufens in unsern Tagen
mehr zu Herzen nimmt, so geschieht es weil allerdings die Noth größer
geworden, demnächst aber auch, und vielleicht hauptsächlich weil sie gelernt
hat sich furchtbar zu machen.

Die nächste Fürsorge des Staats zur Abwehr der von dem Proleta-
riat aus drohenden Gefahr hat darin bestanden daß er dasselbe, wie oben
gesagt, unter "polizeiliche Bevormundung" gestellt; die Mittel der Ab-
hülfe des Uebels selbst werden demnächst in zweiter Reihe zur Anwendung
kommen, vorausgesetzt daß man, was allerdings ziemlich zweifelhaft ist,
über die Wahl derselben mit sich einig werden sollte.

Daß es schwierig ist die Ursachen der Verarmung im einzelnen auf-
zusinden, und noch viel schwieriger dieselben aufzuheben, sind wir weit
entfernt in den mindesten Zweifel zu ziehen. Wäre mit frommen Wün-
schen und löblichen Vorsätzen zu helfen, wir würden über den Pauperis-
mus und seine Gefahren längst hinaus seyn. Aber die Lösung des Pro-
blems verlangt tiefe Einsicht in den innern Bau des gesellschaftlichen
Mechanismus, sie verlangt Muth, sie verlangt Selbstverläugnung und
Aufopferungsfähigkeit -- lauter Eigenschaften an welchen in unsern
Tagen und in unserm Lande bei denen welche dessen Geschicke in Händen
haben, kein Ueberfluß zu finden ist.

Darum gefällt uns an dem Buche des Hrn. v. Holzschuher vor allen
Dingen die rücksichtslos freimüthige Sprache mit welcher er die Sünden
der Vergangenheit und der Gegenwart aufdeckt -- die Sünden der Gesetz-
gebung, die Sünden der Regierungen und die Sünden der durch das
Glück begünstigten Stände. Da der Verfasser zunächst immer aus seinen
Erfahrungen als bayerischer Staatsbürger und Beamter schöpft, so haben
seine Beispiele, seine Warnungen, seine Vorschläge für Bayern einen
besondern und unmittelbaren Werth; indessen versteht es sich ganz von
selbst daß die Anwendbarkeit derselben nach allen Seiten über den Bereich
des genannten Staates hinausreicht. Unter andern bayerischen Einrich-
tungen zu volkswirthschaftlichen Zwecken, von denen Hr. v. Holzschuher
mit Tadel, ja sogar mit Geringschätzung spricht, nennen wir die statisti-
schen "Rechenschaftsberichte" welche von dem Ministerium Wallerstein ein-
geführt oder doch auf die Höhe ihrer gegenwärtigen Uebertriebenheit ge-
bracht sind. Welche unsägliche Schreiberei um von drei zu drei Jahren
den Bestand an Pferden, Kühen, Hühnern, Enten, Gänsen etc. in jedem
Dorfe, in jedem Amt und in jedem Kreise tabellarisch aufzunehmen, um
zu ermitteln wie viele Fuhren Dünger, wie viele Garben Stroh, wie
viele Bündel Heu das Königreich Bayern besitzt! Natürlich sind solche
Tafeln ebenso wenig zuverlässig als sie irgendeinen praktischen Nutzen ge-
währen. Dennoch, und wiewohl man sich seit Jahren allgemein von der
Zwecklosigkeit jener Arbeiten überzeugt, die wahrscheinlich außer dem
Corrector keinen einzigen Leser im ganzen Lande haben, fährt man fort
[Spaltenumbruch] die Zeit und Mühe der Verwaltungsbeamten daran zu verschwenden,
denn die Maschine ist einmal in Gang gesetzt, und sie aufzuhalten würde
auch eine Neuerung seyn.

Hr. v. Holzschuher ist übrigens weit davon entfernt die Bedeutung
der Statistik für jede Art der gesellschaftlichen Speculation zu verkennen,
damit aber die Ergebnisse derselben brauchbar seyen, verlangt er vor allem
andern daß sie den Händen der Verwaltungsbeamten entzogen werde,
welche nur zu oft ein unmittelbares Interesse dabei haben ihre Resultate
zu verfälschen, und daß man ein besonderes Organ dafür schaffe -- einen
Körper in dessen Zusammensetzung eine hinreichende Gewähr der Aufrich-
tigkeit liege. Ortsvorsteher, Richter, Advocaten, Aerzte, Fabricanten
und gebildete Landwirthe hält der Verfasser für vorzugsweise geeignet zur
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die Aufgabe zuweist vermittelnd zwischen Regierung und Volk aufzutreten,
Klagen, Beschwerden und Anträge zu sammeln die sich auf einzelne Miß-
stände oder auf allgemeine Wahrnehmungen auf dem Gebiete der Volks-
wirthschaft beziehen. Dieser Gedanke scheint uns sehr fruchtbar zu seyn,
und wir wünschen lebhaft daß er nicht verloren gehen möge.

Zu den Ursachen des Nothstandes der unteren Volksclassen über-
gehend, nennt der Verfasser zuerst Ungunst des Klima's, Unfruchtbarkeit
des Bodens, Holzmangel, kurz die in gegebenen Naturverhältnissen lie-
genden Hindernisse des Wohlstandes, welche gewöhnlich schwer zu über-
winden sind, in einzelnen Fällen aber gleichwohl vollständig überwunden
werden, zumal durch Förderung eines geeigneten Gewerbebetriebs. In
zweiter Reihe folgen die in der Verfassung des Staats und der Gesellschaft
liegenden Ursachen des Nothstandes. Uebermäßige Anhäufung des Reich-
thums in wenigen Händen, Auflösung oder Lockerung der religiösen und
sittlichen Bande welche die einzelnen Classen der Gesellschaft über die Ver-
mögensunter schiede hinweg an einander knüpfen, überhaupt Mangel einer
natürlichen Gliederung der Gesellschaft, werden hier von Hrn. v. Holz-
schuher mit besonderm Nachdruck hervorgehoben. Gleichwohl ist derselbe
weit entfernt von dem Gedanken an die Wiederherstellung von Einrich-
tungen welche sich überlebt haben, und namentlich von dem Gedanken die
alte Stände-Eintheilung wieder einzuführen, welche aus der Wirklichkeit
verschwunden war lange bevor das Gesetz sie aufgab. Eine den Bedürf-
nissen der Gegenwart entsprechende Gliederung der Gesellschaft kann, wie
der Verfasser sehr richtig bemerkt, nur aus dem Princip der freien Asso-
ciation hervorgehen.

Als Hauptquell des wachsenden Elends des großen Haufens aber gilt
dem Verfasser der industrielle Geist des Jahrhunderts, welcher, lediglich
auf Gelderwerb gerichtet, alle Classen der Gesellschaft zum Kampf um den
Besitz auf Leben und Tod gegen einander hetzt -- ein Kampf in welchem
der Schwächere, das heißt der Aermere, nothwendigerweise unterliegt.
Die Habsucht, der Heißhunger des Erwerbs -- wer wollte ihr Daseyn
läugnen, wer wollte ihre verderblichen Folgen bezweifeln! Aber gerade
gegen dieses Uebel ist die Abhülfe am schwersten, und in der Gesetzgebung
würde man die Mittel derselben ganz vergebens suchen. Auch die Mittel
welche unser Verfasser andeutet, scheinen uns von ziemlich zweifelhafter
Wirksamkeit. Vollkommen richtig ist es daß auf dem fraglichen Gebiet
nur aus dem Innern der Gesellschaft heraus gebessert und umgestaltet
werden kann; allein keine Erziehung, keine Bildung, keine Humanität
wird die Menschen jemals davon abbringen den Gelderwerb als eine ihrer
wichtigsten Lebensaufgaben zu verfolgen, solange das Geld die Bedingung
der Erziehung, der Bildung, der persönlichen Unabhängigkeit, der Gesund-
heit etc. ist, gar nicht zu reden von den bloßen Genüssen und von den un-
erlaubten Zwecken der Selbsucht die sich mit Geld erreichen lassen. Der
Verfasser selbst gesteht stillschweigend ein daß er kein Heilmittel gegen die
Geldgier des Jahrhunderts kennt, indem er die Auffindung eines edleren
Werthmessers als des Metalls der Zukunft anheimstellt.

Die Staatsverfassung trägt endlich die Mitschuld für die zunehmende
Verarmung des großen Haufens, indem sie übermäßige Anforderungen
an die Finanzkräfte des Volkes macht. Damit in diesem Punkte geholfen
werde, verlangt der Verfasser daß der Staat aufhöre den Geschäftskreis
seiner Verwaltung über solche Gebiete auszustrecken welche füglich der
Gemeinde- oder der Privatthätigkeit überlassen werden können. Auf diese
Weise wird es möglich das von Jahr zu Jahr wachsende und dennoch für
die fortwährend steigende Fluth der Geschäfte ungenügende Beamtenheer
zu verringern, beträchtliche Ersparnisse zu erzielen und zugleich den Ge-
schäftsgang nicht bloß zu beschleunigen, sondern auch sicherer zu machen.

Bis hierher haben wir mit Hrn. v. Holzschuher in allen seinen An-
sichten beinahe vollständig einverstanden seyn können. Wenn derselbe aber
weiter Zwangs-Arbeitsanstalten für die Leute errichtet wissen will "denen

Freitag.
Beilage zu Nr. 39 der Allg. Zeitung.
8 Februar 1850.


Ueberſicht.

Die materielle Noth der unteren Volksclaſſen und ihre Urſachen. —
München. (Das bayeriſche Medicinalweſen und die ärztliche Commiſſion.
Deutſche Muſik. Ueber die Reform der Militärjuſtiz.) — Wien. (In-
ſtruction für den öſterreichiſchen Geſandten in Athen. Die Verfaſſung
von Böhmen. Ueberſchwemmung. Leichte Erkrankung des Kaiſers.)



Die materielle Noth der unteren Volksclaſſen und ihre
Urſachen.

⦻ „Die unteren Claſſen der Bevölkerung als ein eigener polizeilich
bevormundeter Stand“, ſo bezeichnet Hr. v. Holzſchuher den Standpunkt
von welchem aus er ſeine Unterſuchung anſtellt, „ſind erſt ein Begriff der
Neuzeit, eine Folge der unverhältnißmäßig geſtiegenen Bevölkerung und
der ungleichen Vertheilung des Vermögens, ganz beſonders aber des
Syſtems der Production im Großen.“ Die Sache ſelbſt bringt es mit ſich
daß der Rückblick auf die Zuſtände des Alterthums und des Mittelalters,
durch welchen der Verfaſſer die geſchichtliche Seite ſeiner Behauptung
nachzuweiſen ſucht, nur ein ſehr flüchtiger ſeyn kann, und wir verweilen
deßhalb nicht bei den dadurch gewonnenen Ergebniſſen, wiewohl wir von
jeher ſtarke Bedenken gehegt gegen den allen unſern volkswirthſchaftlichen
Schriftſtellern ſehr geläufigen Satz: daß die früheren Jahrhunderte über-
haupt kein Proletariat im heutigen Sinne des Worts gehabt haben.
Gewiß iſt daß der Staat ſich bis auf die jüngſten Zeiten um die Noth der
Beſitzloſen kaum anderweitig bekümmert als durch die Anſtellung von
Bettelvögten, den Bau von Zuchthäuſern und die Errichtung von Galgen.
Wenn ſich der Staat die Armuth des großen Haufens in unſern Tagen
mehr zu Herzen nimmt, ſo geſchieht es weil allerdings die Noth größer
geworden, demnächſt aber auch, und vielleicht hauptſächlich weil ſie gelernt
hat ſich furchtbar zu machen.

Die nächſte Fürſorge des Staats zur Abwehr der von dem Proleta-
riat aus drohenden Gefahr hat darin beſtanden daß er dasſelbe, wie oben
geſagt, unter „polizeiliche Bevormundung“ geſtellt; die Mittel der Ab-
hülfe des Uebels ſelbſt werden demnächſt in zweiter Reihe zur Anwendung
kommen, vorausgeſetzt daß man, was allerdings ziemlich zweifelhaft iſt,
über die Wahl derſelben mit ſich einig werden ſollte.

Daß es ſchwierig iſt die Urſachen der Verarmung im einzelnen auf-
zuſinden, und noch viel ſchwieriger dieſelben aufzuheben, ſind wir weit
entfernt in den mindeſten Zweifel zu ziehen. Wäre mit frommen Wün-
ſchen und löblichen Vorſätzen zu helfen, wir würden über den Pauperis-
mus und ſeine Gefahren längſt hinaus ſeyn. Aber die Löſung des Pro-
blems verlangt tiefe Einſicht in den innern Bau des geſellſchaftlichen
Mechanismus, ſie verlangt Muth, ſie verlangt Selbſtverläugnung und
Aufopferungsfähigkeit — lauter Eigenſchaften an welchen in unſern
Tagen und in unſerm Lande bei denen welche deſſen Geſchicke in Händen
haben, kein Ueberfluß zu finden iſt.

Darum gefällt uns an dem Buche des Hrn. v. Holzſchuher vor allen
Dingen die rückſichtslos freimüthige Sprache mit welcher er die Sünden
der Vergangenheit und der Gegenwart aufdeckt — die Sünden der Geſetz-
gebung, die Sünden der Regierungen und die Sünden der durch das
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Erfahrungen als bayeriſcher Staatsbürger und Beamter ſchöpft, ſo haben
ſeine Beiſpiele, ſeine Warnungen, ſeine Vorſchläge für Bayern einen
beſondern und unmittelbaren Werth; indeſſen verſteht es ſich ganz von
ſelbſt daß die Anwendbarkeit derſelben nach allen Seiten über den Bereich
des genannten Staates hinausreicht. Unter andern bayeriſchen Einrich-
tungen zu volkswirthſchaftlichen Zwecken, von denen Hr. v. Holzſchuher
mit Tadel, ja ſogar mit Geringſchätzung ſpricht, nennen wir die ſtatiſti-
ſchen „Rechenſchaftsberichte“ welche von dem Miniſterium Wallerſtein ein-
geführt oder doch auf die Höhe ihrer gegenwärtigen Uebertriebenheit ge-
bracht ſind. Welche unſägliche Schreiberei um von drei zu drei Jahren
den Beſtand an Pferden, Kühen, Hühnern, Enten, Gänſen ꝛc. in jedem
Dorfe, in jedem Amt und in jedem Kreiſe tabellariſch aufzunehmen, um
zu ermitteln wie viele Fuhren Dünger, wie viele Garben Stroh, wie
viele Bündel Heu das Königreich Bayern beſitzt! Natürlich ſind ſolche
Tafeln ebenſo wenig zuverläſſig als ſie irgendeinen praktiſchen Nutzen ge-
währen. Dennoch, und wiewohl man ſich ſeit Jahren allgemein von der
Zweckloſigkeit jener Arbeiten überzeugt, die wahrſcheinlich außer dem
Corrector keinen einzigen Leſer im ganzen Lande haben, fährt man fort
[Spaltenumbruch] die Zeit und Mühe der Verwaltungsbeamten daran zu verſchwenden,
denn die Maſchine iſt einmal in Gang geſetzt, und ſie aufzuhalten würde
auch eine Neuerung ſeyn.

Hr. v. Holzſchuher iſt übrigens weit davon entfernt die Bedeutung
der Statiſtik für jede Art der geſellſchaftlichen Speculation zu verkennen,
damit aber die Ergebniſſe derſelben brauchbar ſeyen, verlangt er vor allem
andern daß ſie den Händen der Verwaltungsbeamten entzogen werde,
welche nur zu oft ein unmittelbares Intereſſe dabei haben ihre Reſultate
zu verfälſchen, und daß man ein beſonderes Organ dafür ſchaffe — einen
Körper in deſſen Zuſammenſetzung eine hinreichende Gewähr der Aufrich-
tigkeit liege. Ortsvorſteher, Richter, Advocaten, Aerzte, Fabricanten
und gebildete Landwirthe hält der Verfaſſer für vorzugsweiſe geeignet zur
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die Aufgabe zuweist vermittelnd zwiſchen Regierung und Volk aufzutreten,
Klagen, Beſchwerden und Anträge zu ſammeln die ſich auf einzelne Miß-
ſtände oder auf allgemeine Wahrnehmungen auf dem Gebiete der Volks-
wirthſchaft beziehen. Dieſer Gedanke ſcheint uns ſehr fruchtbar zu ſeyn,
und wir wünſchen lebhaft daß er nicht verloren gehen möge.

Zu den Urſachen des Nothſtandes der unteren Volksclaſſen über-
gehend, nennt der Verfaſſer zuerſt Ungunſt des Klima’s, Unfruchtbarkeit
des Bodens, Holzmangel, kurz die in gegebenen Naturverhältniſſen lie-
genden Hinderniſſe des Wohlſtandes, welche gewöhnlich ſchwer zu über-
winden ſind, in einzelnen Fällen aber gleichwohl vollſtändig überwunden
werden, zumal durch Förderung eines geeigneten Gewerbebetriebs. In
zweiter Reihe folgen die in der Verfaſſung des Staats und der Geſellſchaft
liegenden Urſachen des Nothſtandes. Uebermäßige Anhäufung des Reich-
thums in wenigen Händen, Auflöſung oder Lockerung der religiöſen und
ſittlichen Bande welche die einzelnen Claſſen der Geſellſchaft über die Ver-
mögensunter ſchiede hinweg an einander knüpfen, überhaupt Mangel einer
natürlichen Gliederung der Geſellſchaft, werden hier von Hrn. v. Holz-
ſchuher mit beſonderm Nachdruck hervorgehoben. Gleichwohl iſt derſelbe
weit entfernt von dem Gedanken an die Wiederherſtellung von Einrich-
tungen welche ſich überlebt haben, und namentlich von dem Gedanken die
alte Stände-Eintheilung wieder einzuführen, welche aus der Wirklichkeit
verſchwunden war lange bevor das Geſetz ſie aufgab. Eine den Bedürf-
niſſen der Gegenwart entſprechende Gliederung der Geſellſchaft kann, wie
der Verfaſſer ſehr richtig bemerkt, nur aus dem Princip der freien Aſſo-
ciation hervorgehen.

Als Hauptquell des wachſenden Elends des großen Haufens aber gilt
dem Verfaſſer der induſtrielle Geiſt des Jahrhunderts, welcher, lediglich
auf Gelderwerb gerichtet, alle Claſſen der Geſellſchaft zum Kampf um den
Beſitz auf Leben und Tod gegen einander hetzt — ein Kampf in welchem
der Schwächere, das heißt der Aermere, nothwendigerweiſe unterliegt.
Die Habſucht, der Heißhunger des Erwerbs — wer wollte ihr Daſeyn
läugnen, wer wollte ihre verderblichen Folgen bezweifeln! Aber gerade
gegen dieſes Uebel iſt die Abhülfe am ſchwerſten, und in der Geſetzgebung
würde man die Mittel derſelben ganz vergebens ſuchen. Auch die Mittel
welche unſer Verfaſſer andeutet, ſcheinen uns von ziemlich zweifelhafter
Wirkſamkeit. Vollkommen richtig iſt es daß auf dem fraglichen Gebiet
nur aus dem Innern der Geſellſchaft heraus gebeſſert und umgeſtaltet
werden kann; allein keine Erziehung, keine Bildung, keine Humanität
wird die Menſchen jemals davon abbringen den Gelderwerb als eine ihrer
wichtigſten Lebensaufgaben zu verfolgen, ſolange das Geld die Bedingung
der Erziehung, der Bildung, der perſönlichen Unabhängigkeit, der Geſund-
heit ꝛc. iſt, gar nicht zu reden von den bloßen Genüſſen und von den un-
erlaubten Zwecken der Selbſucht die ſich mit Geld erreichen laſſen. Der
Verfaſſer ſelbſt geſteht ſtillſchweigend ein daß er kein Heilmittel gegen die
Geldgier des Jahrhunderts kennt, indem er die Auffindung eines edleren
Werthmeſſers als des Metalls der Zukunft anheimſtellt.

Die Staatsverfaſſung trägt endlich die Mitſchuld für die zunehmende
Verarmung des großen Haufens, indem ſie übermäßige Anforderungen
an die Finanzkräfte des Volkes macht. Damit in dieſem Punkte geholfen
werde, verlangt der Verfaſſer daß der Staat aufhöre den Geſchäftskreis
ſeiner Verwaltung über ſolche Gebiete auszuſtrecken welche füglich der
Gemeinde- oder der Privatthätigkeit überlaſſen werden können. Auf dieſe
Weiſe wird es möglich das von Jahr zu Jahr wachſende und dennoch für
die fortwährend ſteigende Fluth der Geſchäfte ungenügende Beamtenheer
zu verringern, beträchtliche Erſparniſſe zu erzielen und zugleich den Ge-
ſchäftsgang nicht bloß zu beſchleunigen, ſondern auch ſicherer zu machen.

Bis hierher haben wir mit Hrn. v. Holzſchuher in allen ſeinen An-
ſichten beinahe vollſtändig einverſtanden ſeyn können. Wenn derſelbe aber
weiter Zwangs-Arbeitsanſtalten für die Leute errichtet wiſſen will „denen

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[0009] Freitag. Beilage zu Nr. 39 der Allg. Zeitung. 8 Februar 1850. Ueberſicht. Die materielle Noth der unteren Volksclaſſen und ihre Urſachen. — München. (Das bayeriſche Medicinalweſen und die ärztliche Commiſſion. Deutſche Muſik. Ueber die Reform der Militärjuſtiz.) — Wien. (In- ſtruction für den öſterreichiſchen Geſandten in Athen. Die Verfaſſung von Böhmen. Ueberſchwemmung. Leichte Erkrankung des Kaiſers.) Die materielle Noth der unteren Volksclaſſen und ihre Urſachen. Gekrönte Preisſchrift von A. Frhrn. v. Holzſchuher. ⦻ „Die unteren Claſſen der Bevölkerung als ein eigener polizeilich bevormundeter Stand“, ſo bezeichnet Hr. v. Holzſchuher den Standpunkt von welchem aus er ſeine Unterſuchung anſtellt, „ſind erſt ein Begriff der Neuzeit, eine Folge der unverhältnißmäßig geſtiegenen Bevölkerung und der ungleichen Vertheilung des Vermögens, ganz beſonders aber des Syſtems der Production im Großen.“ Die Sache ſelbſt bringt es mit ſich daß der Rückblick auf die Zuſtände des Alterthums und des Mittelalters, durch welchen der Verfaſſer die geſchichtliche Seite ſeiner Behauptung nachzuweiſen ſucht, nur ein ſehr flüchtiger ſeyn kann, und wir verweilen deßhalb nicht bei den dadurch gewonnenen Ergebniſſen, wiewohl wir von jeher ſtarke Bedenken gehegt gegen den allen unſern volkswirthſchaftlichen Schriftſtellern ſehr geläufigen Satz: daß die früheren Jahrhunderte über- haupt kein Proletariat im heutigen Sinne des Worts gehabt haben. Gewiß iſt daß der Staat ſich bis auf die jüngſten Zeiten um die Noth der Beſitzloſen kaum anderweitig bekümmert als durch die Anſtellung von Bettelvögten, den Bau von Zuchthäuſern und die Errichtung von Galgen. Wenn ſich der Staat die Armuth des großen Haufens in unſern Tagen mehr zu Herzen nimmt, ſo geſchieht es weil allerdings die Noth größer geworden, demnächſt aber auch, und vielleicht hauptſächlich weil ſie gelernt hat ſich furchtbar zu machen. Die nächſte Fürſorge des Staats zur Abwehr der von dem Proleta- riat aus drohenden Gefahr hat darin beſtanden daß er dasſelbe, wie oben geſagt, unter „polizeiliche Bevormundung“ geſtellt; die Mittel der Ab- hülfe des Uebels ſelbſt werden demnächſt in zweiter Reihe zur Anwendung kommen, vorausgeſetzt daß man, was allerdings ziemlich zweifelhaft iſt, über die Wahl derſelben mit ſich einig werden ſollte. Daß es ſchwierig iſt die Urſachen der Verarmung im einzelnen auf- zuſinden, und noch viel ſchwieriger dieſelben aufzuheben, ſind wir weit entfernt in den mindeſten Zweifel zu ziehen. Wäre mit frommen Wün- ſchen und löblichen Vorſätzen zu helfen, wir würden über den Pauperis- mus und ſeine Gefahren längſt hinaus ſeyn. Aber die Löſung des Pro- blems verlangt tiefe Einſicht in den innern Bau des geſellſchaftlichen Mechanismus, ſie verlangt Muth, ſie verlangt Selbſtverläugnung und Aufopferungsfähigkeit — lauter Eigenſchaften an welchen in unſern Tagen und in unſerm Lande bei denen welche deſſen Geſchicke in Händen haben, kein Ueberfluß zu finden iſt. Darum gefällt uns an dem Buche des Hrn. v. Holzſchuher vor allen Dingen die rückſichtslos freimüthige Sprache mit welcher er die Sünden der Vergangenheit und der Gegenwart aufdeckt — die Sünden der Geſetz- gebung, die Sünden der Regierungen und die Sünden der durch das Glück begünſtigten Stände. Da der Verfaſſer zunächſt immer aus ſeinen Erfahrungen als bayeriſcher Staatsbürger und Beamter ſchöpft, ſo haben ſeine Beiſpiele, ſeine Warnungen, ſeine Vorſchläge für Bayern einen beſondern und unmittelbaren Werth; indeſſen verſteht es ſich ganz von ſelbſt daß die Anwendbarkeit derſelben nach allen Seiten über den Bereich des genannten Staates hinausreicht. Unter andern bayeriſchen Einrich- tungen zu volkswirthſchaftlichen Zwecken, von denen Hr. v. Holzſchuher mit Tadel, ja ſogar mit Geringſchätzung ſpricht, nennen wir die ſtatiſti- ſchen „Rechenſchaftsberichte“ welche von dem Miniſterium Wallerſtein ein- geführt oder doch auf die Höhe ihrer gegenwärtigen Uebertriebenheit ge- bracht ſind. Welche unſägliche Schreiberei um von drei zu drei Jahren den Beſtand an Pferden, Kühen, Hühnern, Enten, Gänſen ꝛc. in jedem Dorfe, in jedem Amt und in jedem Kreiſe tabellariſch aufzunehmen, um zu ermitteln wie viele Fuhren Dünger, wie viele Garben Stroh, wie viele Bündel Heu das Königreich Bayern beſitzt! Natürlich ſind ſolche Tafeln ebenſo wenig zuverläſſig als ſie irgendeinen praktiſchen Nutzen ge- währen. Dennoch, und wiewohl man ſich ſeit Jahren allgemein von der Zweckloſigkeit jener Arbeiten überzeugt, die wahrſcheinlich außer dem Corrector keinen einzigen Leſer im ganzen Lande haben, fährt man fort die Zeit und Mühe der Verwaltungsbeamten daran zu verſchwenden, denn die Maſchine iſt einmal in Gang geſetzt, und ſie aufzuhalten würde auch eine Neuerung ſeyn. Hr. v. Holzſchuher iſt übrigens weit davon entfernt die Bedeutung der Statiſtik für jede Art der geſellſchaftlichen Speculation zu verkennen, damit aber die Ergebniſſe derſelben brauchbar ſeyen, verlangt er vor allem andern daß ſie den Händen der Verwaltungsbeamten entzogen werde, welche nur zu oft ein unmittelbares Intereſſe dabei haben ihre Reſultate zu verfälſchen, und daß man ein beſonderes Organ dafür ſchaffe — einen Körper in deſſen Zuſammenſetzung eine hinreichende Gewähr der Aufrich- tigkeit liege. Ortsvorſteher, Richter, Advocaten, Aerzte, Fabricanten und gebildete Landwirthe hält der Verfaſſer für vorzugsweiſe geeignet zur Beſetzung jener neu zu ſchaffenden ſtatiſtiſchen Stelle, welcher er überdieß die Aufgabe zuweist vermittelnd zwiſchen Regierung und Volk aufzutreten, Klagen, Beſchwerden und Anträge zu ſammeln die ſich auf einzelne Miß- ſtände oder auf allgemeine Wahrnehmungen auf dem Gebiete der Volks- wirthſchaft beziehen. Dieſer Gedanke ſcheint uns ſehr fruchtbar zu ſeyn, und wir wünſchen lebhaft daß er nicht verloren gehen möge. Zu den Urſachen des Nothſtandes der unteren Volksclaſſen über- gehend, nennt der Verfaſſer zuerſt Ungunſt des Klima’s, Unfruchtbarkeit des Bodens, Holzmangel, kurz die in gegebenen Naturverhältniſſen lie- genden Hinderniſſe des Wohlſtandes, welche gewöhnlich ſchwer zu über- winden ſind, in einzelnen Fällen aber gleichwohl vollſtändig überwunden werden, zumal durch Förderung eines geeigneten Gewerbebetriebs. In zweiter Reihe folgen die in der Verfaſſung des Staats und der Geſellſchaft liegenden Urſachen des Nothſtandes. Uebermäßige Anhäufung des Reich- thums in wenigen Händen, Auflöſung oder Lockerung der religiöſen und ſittlichen Bande welche die einzelnen Claſſen der Geſellſchaft über die Ver- mögensunter ſchiede hinweg an einander knüpfen, überhaupt Mangel einer natürlichen Gliederung der Geſellſchaft, werden hier von Hrn. v. Holz- ſchuher mit beſonderm Nachdruck hervorgehoben. Gleichwohl iſt derſelbe weit entfernt von dem Gedanken an die Wiederherſtellung von Einrich- tungen welche ſich überlebt haben, und namentlich von dem Gedanken die alte Stände-Eintheilung wieder einzuführen, welche aus der Wirklichkeit verſchwunden war lange bevor das Geſetz ſie aufgab. Eine den Bedürf- niſſen der Gegenwart entſprechende Gliederung der Geſellſchaft kann, wie der Verfaſſer ſehr richtig bemerkt, nur aus dem Princip der freien Aſſo- ciation hervorgehen. Als Hauptquell des wachſenden Elends des großen Haufens aber gilt dem Verfaſſer der induſtrielle Geiſt des Jahrhunderts, welcher, lediglich auf Gelderwerb gerichtet, alle Claſſen der Geſellſchaft zum Kampf um den Beſitz auf Leben und Tod gegen einander hetzt — ein Kampf in welchem der Schwächere, das heißt der Aermere, nothwendigerweiſe unterliegt. Die Habſucht, der Heißhunger des Erwerbs — wer wollte ihr Daſeyn läugnen, wer wollte ihre verderblichen Folgen bezweifeln! Aber gerade gegen dieſes Uebel iſt die Abhülfe am ſchwerſten, und in der Geſetzgebung würde man die Mittel derſelben ganz vergebens ſuchen. Auch die Mittel welche unſer Verfaſſer andeutet, ſcheinen uns von ziemlich zweifelhafter Wirkſamkeit. Vollkommen richtig iſt es daß auf dem fraglichen Gebiet nur aus dem Innern der Geſellſchaft heraus gebeſſert und umgeſtaltet werden kann; allein keine Erziehung, keine Bildung, keine Humanität wird die Menſchen jemals davon abbringen den Gelderwerb als eine ihrer wichtigſten Lebensaufgaben zu verfolgen, ſolange das Geld die Bedingung der Erziehung, der Bildung, der perſönlichen Unabhängigkeit, der Geſund- heit ꝛc. iſt, gar nicht zu reden von den bloßen Genüſſen und von den un- erlaubten Zwecken der Selbſucht die ſich mit Geld erreichen laſſen. Der Verfaſſer ſelbſt geſteht ſtillſchweigend ein daß er kein Heilmittel gegen die Geldgier des Jahrhunderts kennt, indem er die Auffindung eines edleren Werthmeſſers als des Metalls der Zukunft anheimſtellt. Die Staatsverfaſſung trägt endlich die Mitſchuld für die zunehmende Verarmung des großen Haufens, indem ſie übermäßige Anforderungen an die Finanzkräfte des Volkes macht. Damit in dieſem Punkte geholfen werde, verlangt der Verfaſſer daß der Staat aufhöre den Geſchäftskreis ſeiner Verwaltung über ſolche Gebiete auszuſtrecken welche füglich der Gemeinde- oder der Privatthätigkeit überlaſſen werden können. Auf dieſe Weiſe wird es möglich das von Jahr zu Jahr wachſende und dennoch für die fortwährend ſteigende Fluth der Geſchäfte ungenügende Beamtenheer zu verringern, beträchtliche Erſparniſſe zu erzielen und zugleich den Ge- ſchäftsgang nicht bloß zu beſchleunigen, ſondern auch ſicherer zu machen. Bis hierher haben wir mit Hrn. v. Holzſchuher in allen ſeinen An- ſichten beinahe vollſtändig einverſtanden ſeyn können. Wenn derſelbe aber weiter Zwangs-Arbeitsanſtalten für die Leute errichtet wiſſen will „denen

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen, Susanne Haaf: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-04-08T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.




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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 39, 8. Februar 1850, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine39_1850/9>, abgerufen am 05.12.2024.