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Allgemeine Zeitung, Nr. 31, 1. August 1914.

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1. August 1914. Allgemeine Zeitung
[Spaltenumbruch] der stattgehabten Aufstellung von fünf neuen russischen Armeekorps
unrichtig ist; diese Armeekorps existieren nicht. Auf die allgemeine
Beurteilung der Armeen weiterer Großmächte einzugehen, möchten
wir zurzeit unterlassen, das aber kann ohne Ueberhebung ausge-
sprochen werden, daß die deutsche Wehrmacht seit dem großen Kriege
1870/71 unablässig, mit größter Intensität und andauerndem Fleiß
an sich gearbeitet hat. Alle militärischen Vorbereitungen zum
Kriege, welcher Art sie auch seien, sind mit bekannter deutscher
Gründlichkeit und Ordnung getroffen; man wird daher ohne Ueber-
hebung sagen dürfen, daß Deutschland dem Entritt ernster Ereignisse
mit voller Ruhe im Vertrauen auf Gott und seine eigene Stärke
entgegensehen kann."


England und die Kriegskrise.

Nichts kann besser
den Umschwung in der Außenpolitik Englands seit dem Abflauen
der Ententebegeisterung Eduardscher Zeit ins Licht stellen als ein
Vergleich der Stellungnahme des Foreign Office wie der öffentlichen
Meinung im britischen Reich bei der bosnischen Auseinandersetzung
und bei der heutigen durch den serbischen Konflikt heraufbeschworenen
europäischen Kriegskrise. Damals war die Stimmung wie der Kurs
der verantwortlichen Regierungsstellen durchaus feindlich gegen
Oesterreich, durch dessen Niederdrückung zugleich Deutschland ge-
troffen werden sollte. Heute erkennt man das Recht des Habs-
burgischen Reichs, gegen die Hintertreppenpolitik und die revo-
lutionären Aufwiegeleien eines böswilligen Nachbarn sich mit dem
Schwert in der Hand zur Wehr zu setzen, in weitgehendem Maß
an und ist weit entfernt -- einzig die Harmsworthpresse mit der
Times als oberstem Orakel macht davon eine gewisse Ausnahme --,
Deutschland irgendeine Schuld an der drohenden Katastrophe bei-
zumessen. Selbst die Berliner Ablehnung des unpraktischen und
unfruchtbaren Vorschlags Sir E. Greys zur Einberufung einer
internationalen Konferenz hat daran nichts geändert. Kurz, es
ist nicht zu viel behauptet, wenn man sagt, daß von irgendwelcher
Kongruenz der Politik Englands und der Taktik seiner beiden
Ententenfreunde keine Rede sein kann. Ja, es steht außer Zwei-
fel, daß die weitaus überwiegende Mehrheit des britischen Volkes
von dem aufrichtigen Wunsch beseelt ist, im Fall die Balkankriegs-
flamme zum europäischen Weltbrand sich entfacht, in neutraler
Stellung zu verharren; und zwar um so mehr, als die irischen
Sorgen von Tag zu Tag größer werden und der Regierung den
Arm binden. Dennoch wäre es natürlich ein leichtfertiger Optimis-
mus, auf eine solche Selbstisolierung Englands in einem fest-
ländischen Drama von unabsehbaren Entwicklungs- und Fern-
wirkungsmöglichkeiten zu vertrauen: ganz abgesehen von allen
möglichen Zufälligkeiten, die in solchen kritischen Zeiten eine aus-
schlaggebende Rolle spielen können, ist Großbritannien doch aus
vergangenen Zeiten in das Netz der russisch-französischen Abmachun-
gen und Ränke zur Umklammerung und Fesselung der deutschen
Mächte mindestens moralisch zu sehr verwickelt, als daß es in der
Wirklichkeit die unbedingte freie Hand und Wahl hätte, auf die es
mit Worten pocht.



Der reichsparteiliche Verein Augsburg hielt
am 25. Juli eine sehr gut besuchte Versammlung ab, in der der
Vereinsvorsitzende, Herr Fabrikbesitzer Deschler, vor allem als
Redner des Abends den allverehrten Vorsitzenden der Partei, Herrn
Geheimrat D. W. Frhrn. v. Pechmann, dann aber auch den
Generalsekretär der Partei, Herrn Dr. Vogel (München) und den
1. Vorsitzenden des reichsparteilichen Vereins Hof, Herrn K. Real-
lehrer Neudecker, begrüßen konnte. Herr Baron Pechmann
sprach über "Die gegenwärtige politische Lage" und
begann seine Ausführungen mit einer Würdigung der augenblick-
lichen Hochspannung in der äußeren Politik. Er verurteilte dabei
die Haltung, die neben der "Rheinisch-Westfälischen Zeitung" vor
allem die reichsparteiliche "Post" in Berlin in den letzten Tagen
eingenommen hat, und die Versammlung vernahm die Aeußerungen
dieser Presse mit einstimmigem Ausdruck des Unwillens. Während
der Redner dann bei einer Besprechung unserer innerpolitischen
Lage u. a. auch auf den Erlaß des bayerischen Kultusministers
gegen den religionslosen Moralunterricht einging, den er im Inter-
esse der Grundlagen unseres Staates begrüßte, wurde ihm aus der
Versammlung das Telegramm überreicht, das den Abbruch der
diplomatischen Beziehungen zwischen Oesterreich-Ungarn und Ser-
bien anzeigte. Jubelnd stimmte die Versammlung der Versicherung
zu, daß die Donaumonarchie das Deutsche Reich einmütig an ihrer
[Spaltenumbruch] Seite finden werde, und ebenfalls mit lebhafter innerer Bewegung
nahmen die Anwesenden die Erinnerungen auf, von denen der
Redner aus der Zeit des großen Krieges 1870/71 zum Vergleiche
mit den heutigen Zuständen sprach. Unter dem lebhaftesten, von
ganzem Herzen kommenden Beifall schloß Herr Baron Pechmann
seine 11/4stündige Rede, und nach einer kurzen Aussprache, an der
die Herren Ingenieur Fischer, Kaufmann Sieger und Dr. Vogel
(München) teilnahmen, wurde die begeistert verlaufene Versamm-
lung mit dem Liede "Deutschland, Deutschland über alles" geschlossen.



Der Freispruch im Caillauxprozeß war, wie uns
aus Paris geschrieben wird, nach der ganzen Verhandlung und
allem was ihr voranging, zu erwarten. Für die französische Justiz
bedeutet er einen schwarzen Fleck. Denn alle Versuche sich von
dem Mord reinzuwaschen sind doch trotz dem Aufgebot eines ganz
enormen Zeugenapparats der angeklagten Ministersgattin gänzlich
mißglückt. Alle Merkmale des Mords waren in dem Prozesse ge-
geben. Nicht einmal die Behauptung, daß Calmette bei einer
raschen Operation hätte gerettet werden können, ließ sich aufrecht
halten. Auch in den Motiven der Tat war trotz der wochenlangen
Verhandlung nichts zu entdecken, was die Anschuldigung auf Mord
entkräftet oder nur entschuldigt hätte. Das einzige Motiv war, in
Calmette den Mann zu töten, der Caillaux' politische Laufbahn ver-
nichten konnte. Lächerlich wirkte es geradezu, daß Madame Cail-
laux jedesmal in Ohnmacht fiel, wenn immer ihre Trugbeweise miß-
glückten oder ein Gegner sie bloßstellte! Dagegen hatte sie beim
Anblick der Leiche Calmettes keinen einzigen Schwächeanfall. Lächer-
lich und für die Art und Weise, wie man in Frankreich die Politik
in den Schwurgerichtssaal hereinträgt, bezeichnend waren auch die
Schlußworte ihres Verteidigers: "Sprechen Sie Frau Caillaux frei,
sparen wir unsern Zorn für unsere äußeren Feinde auf und ver-
lassen wir alle diesen Saal mit dem Entschluß, uns einträchtig gegen
die Gefahr zu wenden, die uns bedroht!" Eine derartige gewaltsame
Hereinzerrung von hoher Politik in eine hochnotpeinliche Schwur-
gerichtssache ist doch einzig und allein in Frankreich möglich! Der
Figaro hat nicht unrecht, wenn er sagt, daß durch den ungeheuer-
lichen Skandal der Freisprechung einer Mörderin sich die radikalen
Republikaner mit Kot und Blut beschmutzt hätten. Für Frank-
reich mag es ein Unglück sein, daß diese Partei in Frankreich die
maßgebende ist -- für Deutschland ist es vielleicht ein Glück.

Politik und Wirtschaft
Die Leitung der nationalliberalen Partei
durch Herrn Gassermann.

In schwungvollen Artikeln feierte in diesen Tagen die Presse
der nationalliberalen Partei ihren Führer Bassermann bei dessen
sechzigstem Geburtstage. Man rühmt ihm nach, daß er die Partei
unter den schwierigsten Verhältnissen zusammengehalten, daß er
Sezessionen aus ihr stets erfolgreich verhindert habe. Man feiert
seine patriotische Gesinnung, die sich bei allen Wehr- und Flotten-
vorlagen betätigt hätte; man schreibt es seiner Führung zu, wenn
die Zahl der organisierten Parteigenossen unter ihm bedeutend ge-
wachsen sei.

Wir Vertreter der rechtsstehenden Parteien reden natürlich an
sich nicht in die inneren Verhältnisse anderer Parteien hinein und
überlassen es jeder derselben, welche Führer sie sich erwählen will.
Nur von zwei Gesichtspunkten aus prüfen wir die Wirksamkeit ihrer
Führer: Erstens auf die Frage, ob und wie weit durch sie die
großen nationalen Aufgaben, an denen doch alle Parteien arbeiten
sollen, gefördert oder gehindert werden? Und zweitens, ob durch
die Vorstände anderer Parteien das Verhältnis dieser Parteien zu
uns verbessert oder verschlechtert wird?

Gerade bezüglich der letzten Frage fordert aber die Tätigkeit
des Herrn Bassermann zur schärssten Kritik heraus. Herr Basser-
mann übernahm die Führung der nationalliberalen Partei unter
der Herrschaft des alten Bismarckschen Kartells, das von dem frü-
heren Vorsitzenden seiner Partei, dem edlen und vornehmen Herrn
von Bennigsen geschaffen war. Dies Kartell zwischen Konservativen
und Nationalliberalen ruhte auf dem so natürlichen Gedanken, daß
die schaffenden Stände in Stadt und Land sich verbinden müßten,
daß Landwirtschaft, Handwerk und Industrie nicht Feinde seien,

1. Auguſt 1914. Allgemeine Zeitung
[Spaltenumbruch] der ſtattgehabten Aufſtellung von fünf neuen ruſſiſchen Armeekorps
unrichtig iſt; dieſe Armeekorps exiſtieren nicht. Auf die allgemeine
Beurteilung der Armeen weiterer Großmächte einzugehen, möchten
wir zurzeit unterlaſſen, das aber kann ohne Ueberhebung ausge-
ſprochen werden, daß die deutſche Wehrmacht ſeit dem großen Kriege
1870/71 unabläſſig, mit größter Intenſität und andauerndem Fleiß
an ſich gearbeitet hat. Alle militäriſchen Vorbereitungen zum
Kriege, welcher Art ſie auch ſeien, ſind mit bekannter deutſcher
Gründlichkeit und Ordnung getroffen; man wird daher ohne Ueber-
hebung ſagen dürfen, daß Deutſchland dem Entritt ernſter Ereigniſſe
mit voller Ruhe im Vertrauen auf Gott und ſeine eigene Stärke
entgegenſehen kann.“


England und die Kriegskriſe.

Nichts kann beſſer
den Umſchwung in der Außenpolitik Englands ſeit dem Abflauen
der Ententebegeiſterung Eduardſcher Zeit ins Licht ſtellen als ein
Vergleich der Stellungnahme des Foreign Office wie der öffentlichen
Meinung im britiſchen Reich bei der bosniſchen Auseinanderſetzung
und bei der heutigen durch den ſerbiſchen Konflikt heraufbeſchworenen
europäiſchen Kriegskriſe. Damals war die Stimmung wie der Kurs
der verantwortlichen Regierungsſtellen durchaus feindlich gegen
Oeſterreich, durch deſſen Niederdrückung zugleich Deutſchland ge-
troffen werden ſollte. Heute erkennt man das Recht des Habs-
burgiſchen Reichs, gegen die Hintertreppenpolitik und die revo-
lutionären Aufwiegeleien eines böswilligen Nachbarn ſich mit dem
Schwert in der Hand zur Wehr zu ſetzen, in weitgehendem Maß
an und iſt weit entfernt — einzig die Harmsworthpreſſe mit der
Times als oberſtem Orakel macht davon eine gewiſſe Ausnahme —,
Deutſchland irgendeine Schuld an der drohenden Kataſtrophe bei-
zumeſſen. Selbſt die Berliner Ablehnung des unpraktiſchen und
unfruchtbaren Vorſchlags Sir E. Greys zur Einberufung einer
internationalen Konferenz hat daran nichts geändert. Kurz, es
iſt nicht zu viel behauptet, wenn man ſagt, daß von irgendwelcher
Kongruenz der Politik Englands und der Taktik ſeiner beiden
Ententenfreunde keine Rede ſein kann. Ja, es ſteht außer Zwei-
fel, daß die weitaus überwiegende Mehrheit des britiſchen Volkes
von dem aufrichtigen Wunſch beſeelt iſt, im Fall die Balkankriegs-
flamme zum europäiſchen Weltbrand ſich entfacht, in neutraler
Stellung zu verharren; und zwar um ſo mehr, als die iriſchen
Sorgen von Tag zu Tag größer werden und der Regierung den
Arm binden. Dennoch wäre es natürlich ein leichtfertiger Optimis-
mus, auf eine ſolche Selbſtiſolierung Englands in einem feſt-
ländiſchen Drama von unabſehbaren Entwicklungs- und Fern-
wirkungsmöglichkeiten zu vertrauen: ganz abgeſehen von allen
möglichen Zufälligkeiten, die in ſolchen kritiſchen Zeiten eine aus-
ſchlaggebende Rolle ſpielen können, iſt Großbritannien doch aus
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gen und Ränke zur Umklammerung und Feſſelung der deutſchen
Mächte mindeſtens moraliſch zu ſehr verwickelt, als daß es in der
Wirklichkeit die unbedingte freie Hand und Wahl hätte, auf die es
mit Worten pocht.



Der reichsparteiliche Verein Augsburg hielt
am 25. Juli eine ſehr gut beſuchte Verſammlung ab, in der der
Vereinsvorſitzende, Herr Fabrikbeſitzer Deſchler, vor allem als
Redner des Abends den allverehrten Vorſitzenden der Partei, Herrn
Geheimrat D. W. Frhrn. v. Pechmann, dann aber auch den
Generalſekretär der Partei, Herrn Dr. Vogel (München) und den
1. Vorſitzenden des reichsparteilichen Vereins Hof, Herrn K. Real-
lehrer Neudecker, begrüßen konnte. Herr Baron Pechmann
ſprach über „Die gegenwärtige politiſche Lage“ und
begann ſeine Ausführungen mit einer Würdigung der augenblick-
lichen Hochſpannung in der äußeren Politik. Er verurteilte dabei
die Haltung, die neben der „Rheiniſch-Weſtfäliſchen Zeitung“ vor
allem die reichsparteiliche „Poſt“ in Berlin in den letzten Tagen
eingenommen hat, und die Verſammlung vernahm die Aeußerungen
dieſer Preſſe mit einſtimmigem Ausdruck des Unwillens. Während
der Redner dann bei einer Beſprechung unſerer innerpolitiſchen
Lage u. a. auch auf den Erlaß des bayeriſchen Kultusminiſters
gegen den religionsloſen Moralunterricht einging, den er im Inter-
eſſe der Grundlagen unſeres Staates begrüßte, wurde ihm aus der
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diplomatiſchen Beziehungen zwiſchen Oeſterreich-Ungarn und Ser-
bien anzeigte. Jubelnd ſtimmte die Verſammlung der Verſicherung
zu, daß die Donaumonarchie das Deutſche Reich einmütig an ihrer
[Spaltenumbruch] Seite finden werde, und ebenfalls mit lebhafter innerer Bewegung
nahmen die Anweſenden die Erinnerungen auf, von denen der
Redner aus der Zeit des großen Krieges 1870/71 zum Vergleiche
mit den heutigen Zuſtänden ſprach. Unter dem lebhafteſten, von
ganzem Herzen kommenden Beifall ſchloß Herr Baron Pechmann
ſeine 1¼ſtündige Rede, und nach einer kurzen Ausſprache, an der
die Herren Ingenieur Fiſcher, Kaufmann Sieger und Dr. Vogel
(München) teilnahmen, wurde die begeiſtert verlaufene Verſamm-
lung mit dem Liede „Deutſchland, Deutſchland über alles“ geſchloſſen.



Der Freiſpruch im Caillauxprozeß war, wie uns
aus Paris geſchrieben wird, nach der ganzen Verhandlung und
allem was ihr voranging, zu erwarten. Für die franzöſiſche Juſtiz
bedeutet er einen ſchwarzen Fleck. Denn alle Verſuche ſich von
dem Mord reinzuwaſchen ſind doch trotz dem Aufgebot eines ganz
enormen Zeugenapparats der angeklagten Miniſtersgattin gänzlich
mißglückt. Alle Merkmale des Mords waren in dem Prozeſſe ge-
geben. Nicht einmal die Behauptung, daß Calmette bei einer
raſchen Operation hätte gerettet werden können, ließ ſich aufrecht
halten. Auch in den Motiven der Tat war trotz der wochenlangen
Verhandlung nichts zu entdecken, was die Anſchuldigung auf Mord
entkräftet oder nur entſchuldigt hätte. Das einzige Motiv war, in
Calmette den Mann zu töten, der Caillaux’ politiſche Laufbahn ver-
nichten konnte. Lächerlich wirkte es geradezu, daß Madame Cail-
laux jedesmal in Ohnmacht fiel, wenn immer ihre Trugbeweiſe miß-
glückten oder ein Gegner ſie bloßſtellte! Dagegen hatte ſie beim
Anblick der Leiche Calmettes keinen einzigen Schwächeanfall. Lächer-
lich und für die Art und Weiſe, wie man in Frankreich die Politik
in den Schwurgerichtsſaal hereinträgt, bezeichnend waren auch die
Schlußworte ihres Verteidigers: „Sprechen Sie Frau Caillaux frei,
ſparen wir unſern Zorn für unſere äußeren Feinde auf und ver-
laſſen wir alle dieſen Saal mit dem Entſchluß, uns einträchtig gegen
die Gefahr zu wenden, die uns bedroht!“ Eine derartige gewaltſame
Hereinzerrung von hoher Politik in eine hochnotpeinliche Schwur-
gerichtsſache iſt doch einzig und allein in Frankreich möglich! Der
Figaro hat nicht unrecht, wenn er ſagt, daß durch den ungeheuer-
lichen Skandal der Freiſprechung einer Mörderin ſich die radikalen
Republikaner mit Kot und Blut beſchmutzt hätten. Für Frank-
reich mag es ein Unglück ſein, daß dieſe Partei in Frankreich die
maßgebende iſt — für Deutſchland iſt es vielleicht ein Glück.

Politik und Wirtſchaft
Die Leitung der nationalliberalen Partei
durch Herrn Gaſſermann.

In ſchwungvollen Artikeln feierte in dieſen Tagen die Preſſe
der nationalliberalen Partei ihren Führer Baſſermann bei deſſen
ſechzigſtem Geburtstage. Man rühmt ihm nach, daß er die Partei
unter den ſchwierigſten Verhältniſſen zuſammengehalten, daß er
Sezeſſionen aus ihr ſtets erfolgreich verhindert habe. Man feiert
ſeine patriotiſche Geſinnung, die ſich bei allen Wehr- und Flotten-
vorlagen betätigt hätte; man ſchreibt es ſeiner Führung zu, wenn
die Zahl der organiſierten Parteigenoſſen unter ihm bedeutend ge-
wachſen ſei.

Wir Vertreter der rechtsſtehenden Parteien reden natürlich an
ſich nicht in die inneren Verhältniſſe anderer Parteien hinein und
überlaſſen es jeder derſelben, welche Führer ſie ſich erwählen will.
Nur von zwei Geſichtspunkten aus prüfen wir die Wirkſamkeit ihrer
Führer: Erſtens auf die Frage, ob und wie weit durch ſie die
großen nationalen Aufgaben, an denen doch alle Parteien arbeiten
ſollen, gefördert oder gehindert werden? Und zweitens, ob durch
die Vorſtände anderer Parteien das Verhältnis dieſer Parteien zu
uns verbeſſert oder verſchlechtert wird?

Gerade bezüglich der letzten Frage fordert aber die Tätigkeit
des Herrn Baſſermann zur ſchärſſten Kritik heraus. Herr Baſſer-
mann übernahm die Führung der nationalliberalen Partei unter
der Herrſchaft des alten Bismarckſchen Kartells, das von dem frü-
heren Vorſitzenden ſeiner Partei, dem edlen und vornehmen Herrn
von Bennigſen geſchaffen war. Dies Kartell zwiſchen Konſervativen
und Nationalliberalen ruhte auf dem ſo natürlichen Gedanken, daß
die ſchaffenden Stände in Stadt und Land ſich verbinden müßten,
daß Landwirtſchaft, Handwerk und Induſtrie nicht Feinde ſeien,

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[489/0003] 1. Auguſt 1914. Allgemeine Zeitung der ſtattgehabten Aufſtellung von fünf neuen ruſſiſchen Armeekorps unrichtig iſt; dieſe Armeekorps exiſtieren nicht. Auf die allgemeine Beurteilung der Armeen weiterer Großmächte einzugehen, möchten wir zurzeit unterlaſſen, das aber kann ohne Ueberhebung ausge- ſprochen werden, daß die deutſche Wehrmacht ſeit dem großen Kriege 1870/71 unabläſſig, mit größter Intenſität und andauerndem Fleiß an ſich gearbeitet hat. Alle militäriſchen Vorbereitungen zum Kriege, welcher Art ſie auch ſeien, ſind mit bekannter deutſcher Gründlichkeit und Ordnung getroffen; man wird daher ohne Ueber- hebung ſagen dürfen, daß Deutſchland dem Entritt ernſter Ereigniſſe mit voller Ruhe im Vertrauen auf Gott und ſeine eigene Stärke entgegenſehen kann.“ England und die Kriegskriſe. Nichts kann beſſer den Umſchwung in der Außenpolitik Englands ſeit dem Abflauen der Ententebegeiſterung Eduardſcher Zeit ins Licht ſtellen als ein Vergleich der Stellungnahme des Foreign Office wie der öffentlichen Meinung im britiſchen Reich bei der bosniſchen Auseinanderſetzung und bei der heutigen durch den ſerbiſchen Konflikt heraufbeſchworenen europäiſchen Kriegskriſe. Damals war die Stimmung wie der Kurs der verantwortlichen Regierungsſtellen durchaus feindlich gegen Oeſterreich, durch deſſen Niederdrückung zugleich Deutſchland ge- troffen werden ſollte. Heute erkennt man das Recht des Habs- burgiſchen Reichs, gegen die Hintertreppenpolitik und die revo- lutionären Aufwiegeleien eines böswilligen Nachbarn ſich mit dem Schwert in der Hand zur Wehr zu ſetzen, in weitgehendem Maß an und iſt weit entfernt — einzig die Harmsworthpreſſe mit der Times als oberſtem Orakel macht davon eine gewiſſe Ausnahme —, Deutſchland irgendeine Schuld an der drohenden Kataſtrophe bei- zumeſſen. Selbſt die Berliner Ablehnung des unpraktiſchen und unfruchtbaren Vorſchlags Sir E. Greys zur Einberufung einer internationalen Konferenz hat daran nichts geändert. Kurz, es iſt nicht zu viel behauptet, wenn man ſagt, daß von irgendwelcher Kongruenz der Politik Englands und der Taktik ſeiner beiden Ententenfreunde keine Rede ſein kann. Ja, es ſteht außer Zwei- fel, daß die weitaus überwiegende Mehrheit des britiſchen Volkes von dem aufrichtigen Wunſch beſeelt iſt, im Fall die Balkankriegs- flamme zum europäiſchen Weltbrand ſich entfacht, in neutraler Stellung zu verharren; und zwar um ſo mehr, als die iriſchen Sorgen von Tag zu Tag größer werden und der Regierung den Arm binden. Dennoch wäre es natürlich ein leichtfertiger Optimis- mus, auf eine ſolche Selbſtiſolierung Englands in einem feſt- ländiſchen Drama von unabſehbaren Entwicklungs- und Fern- wirkungsmöglichkeiten zu vertrauen: ganz abgeſehen von allen möglichen Zufälligkeiten, die in ſolchen kritiſchen Zeiten eine aus- ſchlaggebende Rolle ſpielen können, iſt Großbritannien doch aus vergangenen Zeiten in das Netz der ruſſiſch-franzöſiſchen Abmachun- gen und Ränke zur Umklammerung und Feſſelung der deutſchen Mächte mindeſtens moraliſch zu ſehr verwickelt, als daß es in der Wirklichkeit die unbedingte freie Hand und Wahl hätte, auf die es mit Worten pocht. -ay. Der reichsparteiliche Verein Augsburg hielt am 25. Juli eine ſehr gut beſuchte Verſammlung ab, in der der Vereinsvorſitzende, Herr Fabrikbeſitzer Deſchler, vor allem als Redner des Abends den allverehrten Vorſitzenden der Partei, Herrn Geheimrat D. W. Frhrn. v. Pechmann, dann aber auch den Generalſekretär der Partei, Herrn Dr. Vogel (München) und den 1. Vorſitzenden des reichsparteilichen Vereins Hof, Herrn K. Real- lehrer Neudecker, begrüßen konnte. Herr Baron Pechmann ſprach über „Die gegenwärtige politiſche Lage“ und begann ſeine Ausführungen mit einer Würdigung der augenblick- lichen Hochſpannung in der äußeren Politik. Er verurteilte dabei die Haltung, die neben der „Rheiniſch-Weſtfäliſchen Zeitung“ vor allem die reichsparteiliche „Poſt“ in Berlin in den letzten Tagen eingenommen hat, und die Verſammlung vernahm die Aeußerungen dieſer Preſſe mit einſtimmigem Ausdruck des Unwillens. Während der Redner dann bei einer Beſprechung unſerer innerpolitiſchen Lage u. a. auch auf den Erlaß des bayeriſchen Kultusminiſters gegen den religionsloſen Moralunterricht einging, den er im Inter- eſſe der Grundlagen unſeres Staates begrüßte, wurde ihm aus der Verſammlung das Telegramm überreicht, das den Abbruch der diplomatiſchen Beziehungen zwiſchen Oeſterreich-Ungarn und Ser- bien anzeigte. Jubelnd ſtimmte die Verſammlung der Verſicherung zu, daß die Donaumonarchie das Deutſche Reich einmütig an ihrer Seite finden werde, und ebenfalls mit lebhafter innerer Bewegung nahmen die Anweſenden die Erinnerungen auf, von denen der Redner aus der Zeit des großen Krieges 1870/71 zum Vergleiche mit den heutigen Zuſtänden ſprach. Unter dem lebhafteſten, von ganzem Herzen kommenden Beifall ſchloß Herr Baron Pechmann ſeine 1¼ſtündige Rede, und nach einer kurzen Ausſprache, an der die Herren Ingenieur Fiſcher, Kaufmann Sieger und Dr. Vogel (München) teilnahmen, wurde die begeiſtert verlaufene Verſamm- lung mit dem Liede „Deutſchland, Deutſchland über alles“ geſchloſſen. Der Freiſpruch im Caillauxprozeß war, wie uns aus Paris geſchrieben wird, nach der ganzen Verhandlung und allem was ihr voranging, zu erwarten. Für die franzöſiſche Juſtiz bedeutet er einen ſchwarzen Fleck. Denn alle Verſuche ſich von dem Mord reinzuwaſchen ſind doch trotz dem Aufgebot eines ganz enormen Zeugenapparats der angeklagten Miniſtersgattin gänzlich mißglückt. Alle Merkmale des Mords waren in dem Prozeſſe ge- geben. Nicht einmal die Behauptung, daß Calmette bei einer raſchen Operation hätte gerettet werden können, ließ ſich aufrecht halten. Auch in den Motiven der Tat war trotz der wochenlangen Verhandlung nichts zu entdecken, was die Anſchuldigung auf Mord entkräftet oder nur entſchuldigt hätte. Das einzige Motiv war, in Calmette den Mann zu töten, der Caillaux’ politiſche Laufbahn ver- nichten konnte. Lächerlich wirkte es geradezu, daß Madame Cail- laux jedesmal in Ohnmacht fiel, wenn immer ihre Trugbeweiſe miß- glückten oder ein Gegner ſie bloßſtellte! Dagegen hatte ſie beim Anblick der Leiche Calmettes keinen einzigen Schwächeanfall. Lächer- lich und für die Art und Weiſe, wie man in Frankreich die Politik in den Schwurgerichtsſaal hereinträgt, bezeichnend waren auch die Schlußworte ihres Verteidigers: „Sprechen Sie Frau Caillaux frei, ſparen wir unſern Zorn für unſere äußeren Feinde auf und ver- laſſen wir alle dieſen Saal mit dem Entſchluß, uns einträchtig gegen die Gefahr zu wenden, die uns bedroht!“ Eine derartige gewaltſame Hereinzerrung von hoher Politik in eine hochnotpeinliche Schwur- gerichtsſache iſt doch einzig und allein in Frankreich möglich! Der Figaro hat nicht unrecht, wenn er ſagt, daß durch den ungeheuer- lichen Skandal der Freiſprechung einer Mörderin ſich die radikalen Republikaner mit Kot und Blut beſchmutzt hätten. Für Frank- reich mag es ein Unglück ſein, daß dieſe Partei in Frankreich die maßgebende iſt — für Deutſchland iſt es vielleicht ein Glück. L. Politik und Wirtſchaft Die Leitung der nationalliberalen Partei durch Herrn Gaſſermann. In ſchwungvollen Artikeln feierte in dieſen Tagen die Preſſe der nationalliberalen Partei ihren Führer Baſſermann bei deſſen ſechzigſtem Geburtstage. Man rühmt ihm nach, daß er die Partei unter den ſchwierigſten Verhältniſſen zuſammengehalten, daß er Sezeſſionen aus ihr ſtets erfolgreich verhindert habe. Man feiert ſeine patriotiſche Geſinnung, die ſich bei allen Wehr- und Flotten- vorlagen betätigt hätte; man ſchreibt es ſeiner Führung zu, wenn die Zahl der organiſierten Parteigenoſſen unter ihm bedeutend ge- wachſen ſei. Wir Vertreter der rechtsſtehenden Parteien reden natürlich an ſich nicht in die inneren Verhältniſſe anderer Parteien hinein und überlaſſen es jeder derſelben, welche Führer ſie ſich erwählen will. Nur von zwei Geſichtspunkten aus prüfen wir die Wirkſamkeit ihrer Führer: Erſtens auf die Frage, ob und wie weit durch ſie die großen nationalen Aufgaben, an denen doch alle Parteien arbeiten ſollen, gefördert oder gehindert werden? Und zweitens, ob durch die Vorſtände anderer Parteien das Verhältnis dieſer Parteien zu uns verbeſſert oder verſchlechtert wird? Gerade bezüglich der letzten Frage fordert aber die Tätigkeit des Herrn Baſſermann zur ſchärſſten Kritik heraus. Herr Baſſer- mann übernahm die Führung der nationalliberalen Partei unter der Herrſchaft des alten Bismarckſchen Kartells, das von dem frü- heren Vorſitzenden ſeiner Partei, dem edlen und vornehmen Herrn von Bennigſen geſchaffen war. Dies Kartell zwiſchen Konſervativen und Nationalliberalen ruhte auf dem ſo natürlichen Gedanken, daß die ſchaffenden Stände in Stadt und Land ſich verbinden müßten, daß Landwirtſchaft, Handwerk und Induſtrie nicht Feinde ſeien,

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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 31, 1. August 1914, S. 489. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine31_1914/3>, abgerufen am 17.06.2024.