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Allgemeine Zeitung, Nr. 22, 6. Juni 1920.

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Allgemeine Zeitung 6. Juni 1920


[Spaltenumbruch] müßte. Die Meinung, daß man südlich des Mains wenn
nicht gerade mit Seelenruhe, so doch ohne unmittelbare eigene
Gefahr zusehen könnte, wie der deutsche Norden in neuen
Revolutionen und Gegenrevolutionen sich zerfleischt, ist ein
fundamentaler Jrrtum, der sich an Bayern selbst furchtbar
rächen müßte.

Aber allerdings hat der deutsche Süden das volle Recht
und die heilige Pflicht, seine warnende Stimme zu erheben,
wenn man in Berlin in der Politik der Kapitulation von
der einseitigen und noch dazu namenlos kurzsichtigen Jnter-
essenpolitik der Arbeiterschaft immer weiter gehen will, wenn
man insbesondere versucht, unsere wirtschaftlichen Nöte mit
dem völlig untauglichen Mittel phantastischer Lohnerhöhun-
gen und endlosen Banknotendrucks zu bekämpfen. Denn am
Ende dieses Weges, man kann es nicht oft genug sagen, steht
der unausbleibliche allgemeine Zusammenbruch, und
wenn erst feststeht, daß dieser Zusammenbruch kommen muß,
dann wird die Selbsterhaltung schließlich auch zur Pflicht
der deutschen Länder.



Schicklalstag?

Das besondere Kennzeichen der Wahlbewegung, die mit dem
heutigen Tage ihr Ende findet, sind die wilden Putschgerüchte, die
Tag für Tag auftauchen und mit der Geschwindigkeit der elek-
trischen Welle von einem Ende Deutschlands ans andere eilen. Es
ist überaus charakteristisch, daß die Angst vor dem Putsch auf der
Linken ebenso groß zu sein scheint wie auf der Rechten und um-
gekehrt. Wir sagen "scheint", weil vielleicht Zweifel daran ge-
stattet sind, ob man es überhaupt mit einer wirklichen Angst zu
tun hat und nicht lediglich mit Wahlmanövern. Jedenfalls sind
wir fest überzeugt, daß diese Zeilen ins Land gehen werden, ohne
daß es irgendwie zu einem wirklichen Putsche gekommen ist und
daß auch der große Wahltag selbst in leidlicher Ruhe verlaufen
wird. Jode der extremen Parteien würde es offenbar als ein
großes Risiko empfinden, wenn sie sich unterfangen wollte, die
Wahlen zu stören. Eine Zeitlang hörte man allerdings ver-
sichern, daß man insbesondere auch in den Kreisen der Regie-
rungen und der Reichswehr die Gefahr eines Kommunisten-
Putsches ziemlich ernst nehme, schon weil man befürchte, daß die
Cruppen in der Stimmung, Derfassung und Zusammensetzung,
wie sie aus dem Kapp-Putsch hervorgegangen sind eine erfolg-
reiche Abwehr gegen diesen Putsch, wenigstens in den großen
Städten und in den Jndustriegebieten, wo sie ja eigentlich in
Frage kommen kann, nicht verbürgen würden. Umgekehrt hat
man den Teusel eines neuen reaktionären Putsches mit grellen
Strichen an die Wand gezeichnet, und so hat man von beiden
Seiten krästig zusammengewirkt, um die Zerrüttung der poli-
tischen Nerven, die ohnedies einen bedauerlichen hohen Grad er-
reicht hat, noch weiter zu steigern.

Unter diesen Gesichtspunkten kann man den 6. Juni wohl
als einen Schicksalstag bezeichnen. Wenn dieser Ausdruck aber
vielfach in dem Sinne gebraucht wird, als ob er unter allen
Umständen eine folgenschwere Wendung in unserem politischen
Leben bringen würde, so halten wir diese Prophezeiung nach wie
vor für durchaus unbegründet. Eine reaktionäre Mehrheit des
Reichstags erscheint ebenso ausgeschlossen, wie eine linksradikale,
d. h. die Regierung wird auch künftighin nur von einer Koalition
übernommen werden können und nach den Grundsätzen des par-
lamentarischen Systems von einer solchen übernommen werden
müssen. Für eine solche Koalition kommen aber selbstverständ-
lich in erster Linie die Mittelparteien, d. h. das Zentrum, die
Deutsche demokratische Partei und die Mehrheitssozialdemokratie
in Betracht. Sollten diese drei Parteien zur Mehrheitsbildung
nicht ausreichen, was noch keineswegs feststeht, so müßten sie
von rechts oder links oder auch von rechts und links, d. h. also
von der Deutschen Dolkspartei oder von den Unabhängigen, so-
gar bzw. von beiden zugleich Derstärkung suchen. Das wird
natürlich keine leichte Aufgabe sein, aber unlösbar ist sie nicht,
weil ihre Lösung eine Lebensnotwendigkeit ist. Alles Notwendige
ist möglich und alles Notwendige ist auch erlaubt, wenn nicht vor
dem geschriebenen Gesetz, so doch vor dem ungeschriebenen. Es wird
sich also nur darum handeln, geschickte Hände zu finden, die
nach dem 6. Juni die Konseguenzen aus dem Wahlergebnis ziehen.
[Spaltenumbruch] Leicht wird das um so weniger sein, als die zur Verfügung
stehende Frist sehr knapp vorgesehen ist. Die Reichsverfassung
besagt allerdings nur, daß ein neugewählter Reichstag spätestens
30 Tage nach seiner Wahl zum erstenmal zusammentreten muß;
das wäre also am 6. Juli; aber die Konferenz in Spa soll, wie
nunmehr endgültig versichert wird, schon am 21. Juni beginnen.
Bis dahin sollte Deutschland also eine Regierung haben, die Aus-
sicht hat, mindestens den Sommer zu überdauern. Unbedingt
erforderlich ist es ja nicht, daß die förmliche Neubildung der
Regierung bis zu diesem Zeitpunkte schon vollzogen ist; wenn
sich mit einiger Sicherheit annehmen läßt, daß die gegenwärtige
Regierung im großen und ganzen auf das Vertrauen einer
Mehrheit im neuen Reichstag rechnen kann, so wird sie auch die
Männer delegieren können, die mit soviel Autorität, wie wir sie
eben unter den gegenwärtigen verworrenen Verhältnissen haben
können, an die ungeheuer schwierige Aufgabe herantreten, die
ihrer in Spa wartet. Ungeheuer schwierig wird diese Aufgabe
sein, weil Frankreich auf seinen unvermindert schroffen Stand-
punkt beharrt und weil es fraglich ist, ob Jtalien seinen Ein-
fluß jetzt auch nur in demselben Maße wird zur Geltung brin-
gen können, wie in San Remo.

Was die Wahlen selbst anbelangt, so erweist sich die in Nr. 18
der Allgemeinen Zeitung ausgesprochene Ansicht, das System der
Reichs wahllisten könne dazu dienen, für einzelne hervor-
ragende Persönlichkeiten, die außerhalb der großen Parteien
stehen. die Wahlaussichten zu verbessern, als nicht richtig. Man
kann sich zwar den Fall denken, daß sich in allen Wahlkreisen
je 50 Wähler befinden, die einen bestimmten Kandidaten auf-
stellen, und daß dieser Kandidat, der in keinem Wahlkreis Aussicht
hat, gewählt zu werden, zugleich auf einen Reichswahlvorschlag
gestellt würde, zu dessen Aufstellung ja 20 Wähler genügen. Es
ist aber keine Rede davon, daß die in den einzelnen Wahlkreisen
etwa auf ihn entfallenden Stimmen in ihrer Zusammenfassung
ausreichen könnten, ihm in der Reichswahl ein Mandat zu ver-
schaffen. Denn für die Reichswahlvorschläge kommen nur Rest-
stimmen im eigentlichen Sinne in Betracht, d. h. Stimmen, die
übrigbleiben, wenn mindestens ein Mann der betreffenden Liste
in der Kreiswahl gewählt ist. Es könnte also einem Eigen-
brötler dieser Art im ganzen Reiche nicht nur 30,000 + 1
Stimmen, die sonst in dieser letzten Jnstanz genügen können, son-
dern volle 60,000 Stimmen erhalten, und er wäre doch nicht ge-
wählt, weil nach § 32 des Wahlgesetzes einem Reichswahlvor-
schlage höchstens die gleiche Zahl von Abgeordnetensitzen zuge-
teilt werden kann, die auf die ihm angeschlossenen Kreiswahl-
vorschläge entfallen sind. Eine Partei, die bei den Kreiswahlen
nicht mindestens 60,000 Stimmen aufgebracht hat, kann also auch
in der Reichswahl keinen Sitz bekommen, sondern höchstens im
Wahlkreisverband, aber auch da nur unter der Voraussetzung,
daß sie in einem Einzelwahlkreise mindestens 30,000 Stimmen
aufgebracht hat. Bekanntlich ist innerhalb eines Wahlkreisver-
bandes eine Verbindung von Wahlvorschlägen für den Wahl-
kreisverband möglich. Es kann vorkommen, daß auf einen
Wahlvorschlag im Einzelkreise kein Mandat entfällt, daß da-
gegen in dem zwei bis drei Kreise umfassenden Wahlkreisverband
die notwendige Zahl von 60,000 Stimmen erreicht wird. Der
Sitz oder es können bei deren den aus drei Wahlkreisen be-
stehenden Wahlkreisverbänden auch zwei sein, werden dann den
Kreiswahlvorschlägen nach der Zahl ihrer Reststimmen (und hier
ist der Ausdruck nun im weiteren Sinne gebraucht) zugeteilt;
nur bleiben diese Reststimmen unberücksichtigt, wenn nicht wenig-
stens für einen der drei verbundenen Wahlkreisvorschläge
30,000 Stimmen abgegeben worden sind.

Die Prüfung des Abstimmungsergebnisses muß spätestens am
Tage nach der Wahl stattfinden. Zur Ermittlung des Wahlergeb-



[irrelevantes Material]

Allgemeine Zeitung 6. Juni 1920


[Spaltenumbruch] müßte. Die Meinung, daß man ſüdlich des Mains wenn
nicht gerade mit Seelenruhe, ſo doch ohne unmittelbare eigene
Gefahr zuſehen könnte, wie der deutſche Norden in neuen
Revolutionen und Gegenrevolutionen ſich zerfleiſcht, iſt ein
fundamentaler Jrrtum, der ſich an Bayern ſelbſt furchtbar
rächen müßte.

Aber allerdings hat der deutſche Süden das volle Recht
und die heilige Pflicht, ſeine warnende Stimme zu erheben,
wenn man in Berlin in der Politik der Kapitulation von
der einſeitigen und noch dazu namenlos kurzſichtigen Jnter-
eſſenpolitik der Arbeiterſchaft immer weiter gehen will, wenn
man insbeſondere verſucht, unſere wirtſchaftlichen Nöte mit
dem völlig untauglichen Mittel phantaſtiſcher Lohnerhöhun-
gen und endloſen Banknotendrucks zu bekämpfen. Denn am
Ende dieſes Weges, man kann es nicht oft genug ſagen, ſteht
der unausbleibliche allgemeine Zuſammenbruch, und
wenn erſt feſtſteht, daß dieſer Zuſammenbruch kommen muß,
dann wird die Selbſterhaltung ſchließlich auch zur Pflicht
der deutſchen Länder.



Schicklalstag?

Das beſondere Kennzeichen der Wahlbewegung, die mit dem
heutigen Tage ihr Ende findet, ſind die wilden Putſchgerüchte, die
Tag für Tag auftauchen und mit der Geſchwindigkeit der elek-
triſchen Welle von einem Ende Deutſchlands ans andere eilen. Es
iſt überaus charakteriſtiſch, daß die Angſt vor dem Putſch auf der
Linken ebenſo groß zu ſein ſcheint wie auf der Rechten und um-
gekehrt. Wir ſagen „ſcheint“, weil vielleicht Zweifel daran ge-
ſtattet ſind, ob man es überhaupt mit einer wirklichen Angſt zu
tun hat und nicht lediglich mit Wahlmanövern. Jedenfalls ſind
wir feſt überzeugt, daß dieſe Zeilen ins Land gehen werden, ohne
daß es irgendwie zu einem wirklichen Putſche gekommen iſt und
daß auch der große Wahltag ſelbſt in leidlicher Ruhe verlaufen
wird. Jode der extremen Parteien würde es offenbar als ein
großes Riſiko empfinden, wenn ſie ſich unterfangen wollte, die
Wahlen zu ſtören. Eine Zeitlang hörte man allerdings ver-
ſichern, daß man insbeſondere auch in den Kreiſen der Regie-
rungen und der Reichswehr die Gefahr eines Kommuniſten-
Putſches ziemlich ernſt nehme, ſchon weil man befürchte, daß die
Cruppen in der Stimmung, Derfaſſung und Zuſammenſetzung,
wie ſie aus dem Kapp-Putſch hervorgegangen ſind eine erfolg-
reiche Abwehr gegen dieſen Putſch, wenigſtens in den großen
Städten und in den Jnduſtriegebieten, wo ſie ja eigentlich in
Frage kommen kann, nicht verbürgen würden. Umgekehrt hat
man den Teuſel eines neuen reaktionären Putſches mit grellen
Strichen an die Wand gezeichnet, und ſo hat man von beiden
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tiſchen Nerven, die ohnedies einen bedauerlichen hohen Grad er-
reicht hat, noch weiter zu ſteigern.

Unter dieſen Geſichtspunkten kann man den 6. Juni wohl
als einen Schickſalstag bezeichnen. Wenn dieſer Ausdruck aber
vielfach in dem Sinne gebraucht wird, als ob er unter allen
Umſtänden eine folgenſchwere Wendung in unſerem politiſchen
Leben bringen würde, ſo halten wir dieſe Prophezeiung nach wie
vor für durchaus unbegründet. Eine reaktionäre Mehrheit des
Reichstags erſcheint ebenſo ausgeſchloſſen, wie eine linksradikale,
d. h. die Regierung wird auch künftighin nur von einer Koalition
übernommen werden können und nach den Grundſätzen des par-
lamentariſchen Syſtems von einer ſolchen übernommen werden
müſſen. Für eine ſolche Koalition kommen aber ſelbſtverſtänd-
lich in erſter Linie die Mittelparteien, d. h. das Zentrum, die
Deutſche demokratiſche Partei und die Mehrheitsſozialdemokratie
in Betracht. Sollten dieſe drei Parteien zur Mehrheitsbildung
nicht ausreichen, was noch keineswegs feſtſteht, ſo müßten ſie
von rechts oder links oder auch von rechts und links, d. h. alſo
von der Deutſchen Dolkspartei oder von den Unabhängigen, ſo-
gar bzw. von beiden zugleich Derſtärkung ſuchen. Das wird
natürlich keine leichte Aufgabe ſein, aber unlösbar iſt ſie nicht,
weil ihre Löſung eine Lebensnotwendigkeit iſt. Alles Notwendige
iſt möglich und alles Notwendige iſt auch erlaubt, wenn nicht vor
dem geſchriebenen Geſetz, ſo doch vor dem ungeſchriebenen. Es wird
ſich alſo nur darum handeln, geſchickte Hände zu finden, die
nach dem 6. Juni die Konſeguenzen aus dem Wahlergebnis ziehen.
[Spaltenumbruch] Leicht wird das um ſo weniger ſein, als die zur Verfügung
ſtehende Friſt ſehr knapp vorgeſehen iſt. Die Reichsverfaſſung
beſagt allerdings nur, daß ein neugewählter Reichstag ſpäteſtens
30 Tage nach ſeiner Wahl zum erſtenmal zuſammentreten muß;
das wäre alſo am 6. Juli; aber die Konferenz in Spa ſoll, wie
nunmehr endgültig verſichert wird, ſchon am 21. Juni beginnen.
Bis dahin ſollte Deutſchland alſo eine Regierung haben, die Aus-
ſicht hat, mindeſtens den Sommer zu überdauern. Unbedingt
erforderlich iſt es ja nicht, daß die förmliche Neubildung der
Regierung bis zu dieſem Zeitpunkte ſchon vollzogen iſt; wenn
ſich mit einiger Sicherheit annehmen läßt, daß die gegenwärtige
Regierung im großen und ganzen auf das Vertrauen einer
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Männer delegieren können, die mit ſoviel Autorität, wie wir ſie
eben unter den gegenwärtigen verworrenen Verhältniſſen haben
können, an die ungeheuer ſchwierige Aufgabe herantreten, die
ihrer in Spa wartet. Ungeheuer ſchwierig wird dieſe Aufgabe
ſein, weil Frankreich auf ſeinen unvermindert ſchroffen Stand-
punkt beharrt und weil es fraglich iſt, ob Jtalien ſeinen Ein-
fluß jetzt auch nur in demſelben Maße wird zur Geltung brin-
gen können, wie in San Remo.

Was die Wahlen ſelbſt anbelangt, ſo erweiſt ſich die in Nr. 18
der Allgemeinen Zeitung ausgeſprochene Anſicht, das Syſtem der
Reichs wahlliſten könne dazu dienen, für einzelne hervor-
ragende Perſönlichkeiten, die außerhalb der großen Parteien
ſtehen. die Wahlausſichten zu verbeſſern, als nicht richtig. Man
kann ſich zwar den Fall denken, daß ſich in allen Wahlkreiſen
je 50 Wähler befinden, die einen beſtimmten Kandidaten auf-
ſtellen, und daß dieſer Kandidat, der in keinem Wahlkreis Ausſicht
hat, gewählt zu werden, zugleich auf einen Reichswahlvorſchlag
geſtellt würde, zu deſſen Aufſtellung ja 20 Wähler genügen. Es
iſt aber keine Rede davon, daß die in den einzelnen Wahlkreiſen
etwa auf ihn entfallenden Stimmen in ihrer Zuſammenfaſſung
ausreichen könnten, ihm in der Reichswahl ein Mandat zu ver-
ſchaffen. Denn für die Reichswahlvorſchläge kommen nur Reſt-
ſtimmen im eigentlichen Sinne in Betracht, d. h. Stimmen, die
übrigbleiben, wenn mindeſtens ein Mann der betreffenden Liſte
in der Kreiswahl gewählt iſt. Es könnte alſo einem Eigen-
brötler dieſer Art im ganzen Reiche nicht nur 30,000 + 1
Stimmen, die ſonſt in dieſer letzten Jnſtanz genügen können, ſon-
dern volle 60,000 Stimmen erhalten, und er wäre doch nicht ge-
wählt, weil nach § 32 des Wahlgeſetzes einem Reichswahlvor-
ſchlage höchſtens die gleiche Zahl von Abgeordnetenſitzen zuge-
teilt werden kann, die auf die ihm angeſchloſſenen Kreiswahl-
vorſchläge entfallen ſind. Eine Partei, die bei den Kreiswahlen
nicht mindeſtens 60,000 Stimmen aufgebracht hat, kann alſo auch
in der Reichswahl keinen Sitz bekommen, ſondern höchſtens im
Wahlkreisverband, aber auch da nur unter der Vorausſetzung,
daß ſie in einem Einzelwahlkreiſe mindeſtens 30,000 Stimmen
aufgebracht hat. Bekanntlich iſt innerhalb eines Wahlkreisver-
bandes eine Verbindung von Wahlvorſchlägen für den Wahl-
kreisverband möglich. Es kann vorkommen, daß auf einen
Wahlvorſchlag im Einzelkreiſe kein Mandat entfällt, daß da-
gegen in dem zwei bis drei Kreiſe umfaſſenden Wahlkreisverband
die notwendige Zahl von 60,000 Stimmen erreicht wird. Der
Sitz oder es können bei deren den aus drei Wahlkreiſen be-
ſtehenden Wahlkreisverbänden auch zwei ſein, werden dann den
Kreiswahlvorſchlägen nach der Zahl ihrer Reſtſtimmen (und hier
iſt der Ausdruck nun im weiteren Sinne gebraucht) zugeteilt;
nur bleiben dieſe Reſtſtimmen unberückſichtigt, wenn nicht wenig-
ſtens für einen der drei verbundenen Wahlkreisvorſchläge
30,000 Stimmen abgegeben worden ſind.

Die Prüfung des Abſtimmungsergebniſſes muß ſpäteſtens am
Tage nach der Wahl ſtattfinden. Zur Ermittlung des Wahlergeb-



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[210/0004] Allgemeine Zeitung 6. Juni 1920 müßte. Die Meinung, daß man ſüdlich des Mains wenn nicht gerade mit Seelenruhe, ſo doch ohne unmittelbare eigene Gefahr zuſehen könnte, wie der deutſche Norden in neuen Revolutionen und Gegenrevolutionen ſich zerfleiſcht, iſt ein fundamentaler Jrrtum, der ſich an Bayern ſelbſt furchtbar rächen müßte. Aber allerdings hat der deutſche Süden das volle Recht und die heilige Pflicht, ſeine warnende Stimme zu erheben, wenn man in Berlin in der Politik der Kapitulation von der einſeitigen und noch dazu namenlos kurzſichtigen Jnter- eſſenpolitik der Arbeiterſchaft immer weiter gehen will, wenn man insbeſondere verſucht, unſere wirtſchaftlichen Nöte mit dem völlig untauglichen Mittel phantaſtiſcher Lohnerhöhun- gen und endloſen Banknotendrucks zu bekämpfen. Denn am Ende dieſes Weges, man kann es nicht oft genug ſagen, ſteht der unausbleibliche allgemeine Zuſammenbruch, und wenn erſt feſtſteht, daß dieſer Zuſammenbruch kommen muß, dann wird die Selbſterhaltung ſchließlich auch zur Pflicht der deutſchen Länder. HD. Schicklalstag? Das beſondere Kennzeichen der Wahlbewegung, die mit dem heutigen Tage ihr Ende findet, ſind die wilden Putſchgerüchte, die Tag für Tag auftauchen und mit der Geſchwindigkeit der elek- triſchen Welle von einem Ende Deutſchlands ans andere eilen. Es iſt überaus charakteriſtiſch, daß die Angſt vor dem Putſch auf der Linken ebenſo groß zu ſein ſcheint wie auf der Rechten und um- gekehrt. Wir ſagen „ſcheint“, weil vielleicht Zweifel daran ge- ſtattet ſind, ob man es überhaupt mit einer wirklichen Angſt zu tun hat und nicht lediglich mit Wahlmanövern. Jedenfalls ſind wir feſt überzeugt, daß dieſe Zeilen ins Land gehen werden, ohne daß es irgendwie zu einem wirklichen Putſche gekommen iſt und daß auch der große Wahltag ſelbſt in leidlicher Ruhe verlaufen wird. Jode der extremen Parteien würde es offenbar als ein großes Riſiko empfinden, wenn ſie ſich unterfangen wollte, die Wahlen zu ſtören. Eine Zeitlang hörte man allerdings ver- ſichern, daß man insbeſondere auch in den Kreiſen der Regie- rungen und der Reichswehr die Gefahr eines Kommuniſten- Putſches ziemlich ernſt nehme, ſchon weil man befürchte, daß die Cruppen in der Stimmung, Derfaſſung und Zuſammenſetzung, wie ſie aus dem Kapp-Putſch hervorgegangen ſind eine erfolg- reiche Abwehr gegen dieſen Putſch, wenigſtens in den großen Städten und in den Jnduſtriegebieten, wo ſie ja eigentlich in Frage kommen kann, nicht verbürgen würden. Umgekehrt hat man den Teuſel eines neuen reaktionären Putſches mit grellen Strichen an die Wand gezeichnet, und ſo hat man von beiden Seiten kräſtig zuſammengewirkt, um die Zerrüttung der poli- tiſchen Nerven, die ohnedies einen bedauerlichen hohen Grad er- reicht hat, noch weiter zu ſteigern. Unter dieſen Geſichtspunkten kann man den 6. Juni wohl als einen Schickſalstag bezeichnen. Wenn dieſer Ausdruck aber vielfach in dem Sinne gebraucht wird, als ob er unter allen Umſtänden eine folgenſchwere Wendung in unſerem politiſchen Leben bringen würde, ſo halten wir dieſe Prophezeiung nach wie vor für durchaus unbegründet. Eine reaktionäre Mehrheit des Reichstags erſcheint ebenſo ausgeſchloſſen, wie eine linksradikale, d. h. die Regierung wird auch künftighin nur von einer Koalition übernommen werden können und nach den Grundſätzen des par- lamentariſchen Syſtems von einer ſolchen übernommen werden müſſen. Für eine ſolche Koalition kommen aber ſelbſtverſtänd- lich in erſter Linie die Mittelparteien, d. h. das Zentrum, die Deutſche demokratiſche Partei und die Mehrheitsſozialdemokratie in Betracht. Sollten dieſe drei Parteien zur Mehrheitsbildung nicht ausreichen, was noch keineswegs feſtſteht, ſo müßten ſie von rechts oder links oder auch von rechts und links, d. h. alſo von der Deutſchen Dolkspartei oder von den Unabhängigen, ſo- gar bzw. von beiden zugleich Derſtärkung ſuchen. Das wird natürlich keine leichte Aufgabe ſein, aber unlösbar iſt ſie nicht, weil ihre Löſung eine Lebensnotwendigkeit iſt. Alles Notwendige iſt möglich und alles Notwendige iſt auch erlaubt, wenn nicht vor dem geſchriebenen Geſetz, ſo doch vor dem ungeſchriebenen. Es wird ſich alſo nur darum handeln, geſchickte Hände zu finden, die nach dem 6. Juni die Konſeguenzen aus dem Wahlergebnis ziehen. Leicht wird das um ſo weniger ſein, als die zur Verfügung ſtehende Friſt ſehr knapp vorgeſehen iſt. Die Reichsverfaſſung beſagt allerdings nur, daß ein neugewählter Reichstag ſpäteſtens 30 Tage nach ſeiner Wahl zum erſtenmal zuſammentreten muß; das wäre alſo am 6. Juli; aber die Konferenz in Spa ſoll, wie nunmehr endgültig verſichert wird, ſchon am 21. Juni beginnen. Bis dahin ſollte Deutſchland alſo eine Regierung haben, die Aus- ſicht hat, mindeſtens den Sommer zu überdauern. Unbedingt erforderlich iſt es ja nicht, daß die förmliche Neubildung der Regierung bis zu dieſem Zeitpunkte ſchon vollzogen iſt; wenn ſich mit einiger Sicherheit annehmen läßt, daß die gegenwärtige Regierung im großen und ganzen auf das Vertrauen einer Mehrheit im neuen Reichstag rechnen kann, ſo wird ſie auch die Männer delegieren können, die mit ſoviel Autorität, wie wir ſie eben unter den gegenwärtigen verworrenen Verhältniſſen haben können, an die ungeheuer ſchwierige Aufgabe herantreten, die ihrer in Spa wartet. Ungeheuer ſchwierig wird dieſe Aufgabe ſein, weil Frankreich auf ſeinen unvermindert ſchroffen Stand- punkt beharrt und weil es fraglich iſt, ob Jtalien ſeinen Ein- fluß jetzt auch nur in demſelben Maße wird zur Geltung brin- gen können, wie in San Remo. Was die Wahlen ſelbſt anbelangt, ſo erweiſt ſich die in Nr. 18 der Allgemeinen Zeitung ausgeſprochene Anſicht, das Syſtem der Reichs wahlliſten könne dazu dienen, für einzelne hervor- ragende Perſönlichkeiten, die außerhalb der großen Parteien ſtehen. die Wahlausſichten zu verbeſſern, als nicht richtig. Man kann ſich zwar den Fall denken, daß ſich in allen Wahlkreiſen je 50 Wähler befinden, die einen beſtimmten Kandidaten auf- ſtellen, und daß dieſer Kandidat, der in keinem Wahlkreis Ausſicht hat, gewählt zu werden, zugleich auf einen Reichswahlvorſchlag geſtellt würde, zu deſſen Aufſtellung ja 20 Wähler genügen. Es iſt aber keine Rede davon, daß die in den einzelnen Wahlkreiſen etwa auf ihn entfallenden Stimmen in ihrer Zuſammenfaſſung ausreichen könnten, ihm in der Reichswahl ein Mandat zu ver- ſchaffen. Denn für die Reichswahlvorſchläge kommen nur Reſt- ſtimmen im eigentlichen Sinne in Betracht, d. h. Stimmen, die übrigbleiben, wenn mindeſtens ein Mann der betreffenden Liſte in der Kreiswahl gewählt iſt. Es könnte alſo einem Eigen- brötler dieſer Art im ganzen Reiche nicht nur 30,000 + 1 Stimmen, die ſonſt in dieſer letzten Jnſtanz genügen können, ſon- dern volle 60,000 Stimmen erhalten, und er wäre doch nicht ge- wählt, weil nach § 32 des Wahlgeſetzes einem Reichswahlvor- ſchlage höchſtens die gleiche Zahl von Abgeordnetenſitzen zuge- teilt werden kann, die auf die ihm angeſchloſſenen Kreiswahl- vorſchläge entfallen ſind. Eine Partei, die bei den Kreiswahlen nicht mindeſtens 60,000 Stimmen aufgebracht hat, kann alſo auch in der Reichswahl keinen Sitz bekommen, ſondern höchſtens im Wahlkreisverband, aber auch da nur unter der Vorausſetzung, daß ſie in einem Einzelwahlkreiſe mindeſtens 30,000 Stimmen aufgebracht hat. Bekanntlich iſt innerhalb eines Wahlkreisver- bandes eine Verbindung von Wahlvorſchlägen für den Wahl- kreisverband möglich. Es kann vorkommen, daß auf einen Wahlvorſchlag im Einzelkreiſe kein Mandat entfällt, daß da- gegen in dem zwei bis drei Kreiſe umfaſſenden Wahlkreisverband die notwendige Zahl von 60,000 Stimmen erreicht wird. Der Sitz oder es können bei deren den aus drei Wahlkreiſen be- ſtehenden Wahlkreisverbänden auch zwei ſein, werden dann den Kreiswahlvorſchlägen nach der Zahl ihrer Reſtſtimmen (und hier iſt der Ausdruck nun im weiteren Sinne gebraucht) zugeteilt; nur bleiben dieſe Reſtſtimmen unberückſichtigt, wenn nicht wenig- ſtens für einen der drei verbundenen Wahlkreisvorſchläge 30,000 Stimmen abgegeben worden ſind. Die Prüfung des Abſtimmungsergebniſſes muß ſpäteſtens am Tage nach der Wahl ſtattfinden. Zur Ermittlung des Wahlergeb- _

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-04-24T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 22, 6. Juni 1920, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine22_1920/4>, abgerufen am 24.11.2024.