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Allgemeine Zeitung, Nr. 22, 6. Juni 1920.

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6. Juni 1920 Allgemeine Zeitung


[Spaltenumbruch]
Politik und Wirtschaft
Die Gefährdung der Reichseinheit.

Wenn irgend etwas sicher ist, so ist es das, daß uns
die kommenden Reichstagswahlen aufs neue in ein Meer
von Unsicherheiten stürzen werden. Greift nicht ein Ma-
schinengott in letzter Stunde in die Wahlbewegung ein, so
wird das Ergebnis des 6. Juni eine erhebliche Schwächung
der bisherigen Regierungskoalition bedeuten. Das Zentrum
ist ja seiner Mandate so gut wie sicher und erweist sich über-
haupt in bemerkenswertem Maße als der ruhende Pol in
der Erscheinungen Flucht. Aber auch das gilt nur von der
Partei des katholischen Dolkes im weitesten Sinne; der
Zentrumsturm als solcher ist nicht nur in Bayern, sondern
auch am Rhein erheblich bedroht und es geht nicht an, die
Abgeordneten, die hier wie dort als Katholiken gewählt
werden, ohne weiteres dem bisherigen Regierungsblock zu-
zurechnen. Daß ein nicht ganz unerheblicher Teil der Wähler,
die am 19. Januar 1919 demokratisch gewählt haben, seit
einigen Wochen und Monaten nach rechts, zur Deutschen
Volkspartei, abmarschiert, ist ebenfalls eine Tatsache, mit
der man sich selbst in demokratischen Kreisen abfinden muß
und abfindet, und wenn auch die Bäume des Herrn Strese-
mann weder jetzt noch später in den Himmel wachsen werden,
so spricht doch manches für einen Augenblickserfolg seiner
Bestrebungen, der die Stabilität der Regierungspolitik wenig-
stens in den inneren Fragen bedroht; denn an den eher-
nen Gesetzen, durch die unsere auswärtige Politik bestimmt
wird, läßt sich weder durch Herrn Stresemann noch durch
sonst wen irgend etwas ändern. Der Verlust, der der Deut-
schen Demokratischen Partei aus einem etwaigen Sieg der
Deutschen Volkspartei erwachsen könnte, wird nun vielleicht
für die Partei als solche durch einen Zuwachs von links her
ausgeglichen, denn zu den Eigentümlichkeiten der Wahlen
zur verfassunggebenden Nationalversammlung hat auch ge-
hört, daß die Werbekraft der siegreichen Jdeen des Sozialis-
mus weite Kreise der bürgerlichen Jntelligenz erfaßte. Diese
Werbekraft hat nun im Laufe des letzten Jahres sehr er-
heblich nachgelassen. Von den Jdeen des Sozialismus ist
fast so wenig übriggeblieben wie von dem Jdealismus der
Sozialdemokratie; sie ist unter den namenlosen Schwierig-
keiten, mit denen sie zu ringen hatte, schließlich der Gefahr
des Fortwurstelns ganz und gar verfallen und es gibt heute
keine dankbarere Aufgabe für einen rechtsstehenden Poli-
tiker als nachzuweisen, daß der Sozialismus fast auf allen
Gebieten Bankrott gemacht habe. Darin liegt zweifellos eine
starke Ungerechtigkeit und Unbilligkeit, aber bei solchen
Sentimentalitäten pflegt sich nun einmal die Wählerschaft
nicht aufzuhalten und es entspricht schließlich auch einfach
dem physikalischen Gesetz, daß die Anziehungskraft, die die
Sozialdemokratie als stärkste Partei bei den Wahlen zur
verfassunggebenden Nationalversammlung zu üben ver-
mochte, außerordentlich stark nachgelassen hat und daß die
vorübergehend angezogenen Elemente jetzt wieder durch die
stärker gewordene Zentrifugalkraft in den Weltenraum hin-
ausgeschleudert werden. Wenn demnach vielleicht bei der
Demokratie Gewinn und Verlust sich die Wage halten müs-
sen -- wir glauben nicht, daß es ganz der Fall sein wird --,
so ist dagegen die Mehrheitssozialdemokratie unzweifelhaft
von einem ganz gewaltigen Rückgang ihrer Wählerstimmen
und Abgeordnetenmandate bedroht, denn wenn eine Abwan-
derung nach rechts nicht unwahrscheinlich ist, so ist eine
solche nach links ganz gewiß unvermeidlich.

Nun hat die Mehrheitssozialdemokratie in der National-
versammlung 165 Mitglieder gezählt, das Zentrum ein-
schließlich der Bayerischen Volkspartei 89 Mitglieder und
einen Hospitanten, die Deutsche Demokratische Partei 74 Mit-
glieder und einen Hospitanten; das macht zusammen 330
Mitglieder der Koalitionsparteien; bei einer Gesamtzahl
von 423 Abgeordneten somit eine Mehrheit, die auch eine
starke Abbröckelung erträgt und trotzdem noch ausreichen
[Spaltenumbruch] kann. Aber die allgemeine Empfindung geht offenbar dahin,
daß das, was von diesen drei Parteien mit der Neigung
zur Fortsetzung der Koalition wiederkehrt, dazu doch nicht
ausreichen werde, daß also eine Derstärkung von rechts oder
links notwendig sein wird, um eine tragfähige Regierungs-
koalition zu bilden. Diese Verstärkung von rechts her, also
von der Deutschen Volkspartei zu nehmen, hat Reichskanzler
Müller mit großer Entschiedenheit abgelehnt. Und wenn
man die Bedeutung dieser Absage nicht überschätzen darf, da
Müller wohl kaum im Namen und Auftrag der Regierung
oder auch nur seiner Partei gesprochen hat, so kann es doch
nicht ausbleiben, daß der Wahlkampf, wie er im ganzen
Reiche, insonderheit aber in Bayern geführt wird, die Nei-
gung der Sozialdemokratie zum Paktieren mit bürgerlichen
Parteien nicht verstärkt, sondern eher abschwächt, schon weil
der Wahlkampf als solcher alle Prinzipien schärfer aus-
arbeitet. Führt aber das Wahlergebnis vom 6. Juni die
Mehrheitssozialdemokratie und die Unabhängigen enger zu-
sammen, so werden die Schwierigkeiten der Regierungsbil-
dung erst recht groß, es müßte denn sein, daß aus den Wahl-
urnen eine rein sozialistische Mehrheit emporstiege. Daran
glaubt aber offenbar niemand. Und wenn sich die Dinge
nun so gestalten, daß der Reichstag im Verhältnis etwa
ebensoviel Sozialisten zählt wie die Nationalversammlung,
aber mit ganz anderer Verteilung auf die beiden Gruppen,
so wird natürlich das Zusammengehen der Sozialdemokratie
auch mit dem Zentrum und den Demokraten erheblich er-
schwert. Käme es aber trotzdem zustande, und zwar ohne
daß einem etwaigen Anteil der Unabhängigen an der Re-
gierung eine Erweiterung der Regierungskoalition nach
rechts gegenüberstünde, so erhebt sich die große Frage, wie
eine solche Verschiebung der Regierung nach links auf die-
jenigen Teile des Reiches wirken würde, die schon bisher
den Verhältnissen in Berlin und insbesondere der sogenannten
Nebenregierung der Gewerkschaften mit wachsendem Miß-
trauen zugesehen haben.

Tatsächlich kann man in sehr weiten Kreisen hören,
daß man im Westen und im Süden einen solchen weiteren
Ruck nach links einfach nicht mitmachen würde, und im Zu-
sammenhange damit wird die Frage der Gefährdung der
Reichseinheit, die in engeren Kreisen schon lange ventiliert
wird, allmählich immer lauter und rückhaltloser erörtert.
Kein ernsthafter Mensch denkt allerdings daran, Bayern
oder die Rheinprovinz dauernd vom Reiche loszulösen. Man
ist sich auch völlig klar darüber, daß speziell Bayern schon
durch seinen Kohlenbedarf beim Reiche festgehalten würde,
selbst wenn es sonst irgendwohin abfallen könnte und wollte.
Und den Gedanken, sich den Kohlenbezug etwa auf dem
niederträchtigen und hochverräterischen Umweg über eine
französische Besetzung des Ruhrgebietes zu sichern, weist selbst
das skrupelloseste Weißblaue weit von sich. Aber man spielt
allerdings mit dem Gedanken, daß eine zeitweilige
Trennung von Berlin und Preußen auch der deutschen Sache
mehr nützen könnte als ein Weitertrotten auf einem Wege,
von dem man glaubt, daß er ins Verderben führen müsse.
Dabei hat man nicht allein die Erhaltung der bürgerlichen
und wirtschaftlichen Ordnung, die Herstellung oder wenig-
stens Anbahnung einer Art neuen notdürftigen Gleich-
gewichtes in den fürchterlich zerrütteten Staats- und Ge-
meindehaushalten, sondern auch den Anschluß von Tirol,
Salzburg usw. im Auge. Wir halten dieses Entwicklungs-
bild für ein Hirngespinst, wir würden es aber auch für ein
ungeheures Unglück halten, wenn Bayern diese Wege gehen
wollte. Denn man sieht wohl, wo die Wege sich trennen, nicht
uber wo sie wieder zusammenführen. Man sieht außerdem
den Triumph unserer Feinde in dem Augenblick sich vollen-
den, in dem die deutsche Einheit zusammenbricht, und man
sieht namenloses Unheil über alle unsere neuerdings so schwer
exponierten Grenzländer hereinbrechen. Vor allem aber wäre
es geradezu verhängnisvoll, wenn der geistige und politische
Einfluß des deutschen Südens auf das Reichsganze durch
diese Lostrennung ausgeschaltet würde, wie die Abschnürung
der von Norden her ins Bayerland führenden wirtschaftlichen
Lebensader sicherlich den Ruin auch für Bayern bedeuten

6. Juni 1920 Allgemeine Zeitung


[Spaltenumbruch]
Politik und Wirtſchaft
Die Gefährdung der Reichseinheit.

Wenn irgend etwas ſicher iſt, ſo iſt es das, daß uns
die kommenden Reichstagswahlen aufs neue in ein Meer
von Unſicherheiten ſtürzen werden. Greift nicht ein Ma-
ſchinengott in letzter Stunde in die Wahlbewegung ein, ſo
wird das Ergebnis des 6. Juni eine erhebliche Schwächung
der bisherigen Regierungskoalition bedeuten. Das Zentrum
iſt ja ſeiner Mandate ſo gut wie ſicher und erweiſt ſich über-
haupt in bemerkenswertem Maße als der ruhende Pol in
der Erſcheinungen Flucht. Aber auch das gilt nur von der
Partei des katholiſchen Dolkes im weiteſten Sinne; der
Zentrumsturm als ſolcher iſt nicht nur in Bayern, ſondern
auch am Rhein erheblich bedroht und es geht nicht an, die
Abgeordneten, die hier wie dort als Katholiken gewählt
werden, ohne weiteres dem bisherigen Regierungsblock zu-
zurechnen. Daß ein nicht ganz unerheblicher Teil der Wähler,
die am 19. Januar 1919 demokratiſch gewählt haben, ſeit
einigen Wochen und Monaten nach rechts, zur Deutſchen
Volkspartei, abmarſchiert, iſt ebenfalls eine Tatſache, mit
der man ſich ſelbſt in demokratiſchen Kreiſen abfinden muß
und abfindet, und wenn auch die Bäume des Herrn Streſe-
mann weder jetzt noch ſpäter in den Himmel wachſen werden,
ſo ſpricht doch manches für einen Augenblickserfolg ſeiner
Beſtrebungen, der die Stabilität der Regierungspolitik wenig-
ſtens in den inneren Fragen bedroht; denn an den eher-
nen Geſetzen, durch die unſere auswärtige Politik beſtimmt
wird, läßt ſich weder durch Herrn Streſemann noch durch
ſonſt wen irgend etwas ändern. Der Verluſt, der der Deut-
ſchen Demokratiſchen Partei aus einem etwaigen Sieg der
Deutſchen Volkspartei erwachſen könnte, wird nun vielleicht
für die Partei als ſolche durch einen Zuwachs von links her
ausgeglichen, denn zu den Eigentümlichkeiten der Wahlen
zur verfaſſunggebenden Nationalverſammlung hat auch ge-
hört, daß die Werbekraft der ſiegreichen Jdeen des Sozialis-
mus weite Kreiſe der bürgerlichen Jntelligenz erfaßte. Dieſe
Werbekraft hat nun im Laufe des letzten Jahres ſehr er-
heblich nachgelaſſen. Von den Jdeen des Sozialismus iſt
faſt ſo wenig übriggeblieben wie von dem Jdealismus der
Sozialdemokratie; ſie iſt unter den namenloſen Schwierig-
keiten, mit denen ſie zu ringen hatte, ſchließlich der Gefahr
des Fortwurſtelns ganz und gar verfallen und es gibt heute
keine dankbarere Aufgabe für einen rechtsſtehenden Poli-
tiker als nachzuweiſen, daß der Sozialismus faſt auf allen
Gebieten Bankrott gemacht habe. Darin liegt zweifellos eine
ſtarke Ungerechtigkeit und Unbilligkeit, aber bei ſolchen
Sentimentalitäten pflegt ſich nun einmal die Wählerſchaft
nicht aufzuhalten und es entſpricht ſchließlich auch einfach
dem phyſikaliſchen Geſetz, daß die Anziehungskraft, die die
Sozialdemokratie als ſtärkſte Partei bei den Wahlen zur
verfaſſunggebenden Nationalverſammlung zu üben ver-
mochte, außerordentlich ſtark nachgelaſſen hat und daß die
vorübergehend angezogenen Elemente jetzt wieder durch die
ſtärker gewordene Zentrifugalkraft in den Weltenraum hin-
ausgeſchleudert werden. Wenn demnach vielleicht bei der
Demokratie Gewinn und Verluſt ſich die Wage halten müſ-
ſen — wir glauben nicht, daß es ganz der Fall ſein wird —,
ſo iſt dagegen die Mehrheitsſozialdemokratie unzweifelhaft
von einem ganz gewaltigen Rückgang ihrer Wählerſtimmen
und Abgeordnetenmandate bedroht, denn wenn eine Abwan-
derung nach rechts nicht unwahrſcheinlich iſt, ſo iſt eine
ſolche nach links ganz gewiß unvermeidlich.

Nun hat die Mehrheitsſozialdemokratie in der National-
verſammlung 165 Mitglieder gezählt, das Zentrum ein-
ſchließlich der Bayeriſchen Volkspartei 89 Mitglieder und
einen Hoſpitanten, die Deutſche Demokratiſche Partei 74 Mit-
glieder und einen Hoſpitanten; das macht zuſammen 330
Mitglieder der Koalitionsparteien; bei einer Geſamtzahl
von 423 Abgeordneten ſomit eine Mehrheit, die auch eine
ſtarke Abbröckelung erträgt und trotzdem noch ausreichen
[Spaltenumbruch] kann. Aber die allgemeine Empfindung geht offenbar dahin,
daß das, was von dieſen drei Parteien mit der Neigung
zur Fortſetzung der Koalition wiederkehrt, dazu doch nicht
ausreichen werde, daß alſo eine Derſtärkung von rechts oder
links notwendig ſein wird, um eine tragfähige Regierungs-
koalition zu bilden. Dieſe Verſtärkung von rechts her, alſo
von der Deutſchen Volkspartei zu nehmen, hat Reichskanzler
Müller mit großer Entſchiedenheit abgelehnt. Und wenn
man die Bedeutung dieſer Abſage nicht überſchätzen darf, da
Müller wohl kaum im Namen und Auftrag der Regierung
oder auch nur ſeiner Partei geſprochen hat, ſo kann es doch
nicht ausbleiben, daß der Wahlkampf, wie er im ganzen
Reiche, inſonderheit aber in Bayern geführt wird, die Nei-
gung der Sozialdemokratie zum Paktieren mit bürgerlichen
Parteien nicht verſtärkt, ſondern eher abſchwächt, ſchon weil
der Wahlkampf als ſolcher alle Prinzipien ſchärfer aus-
arbeitet. Führt aber das Wahlergebnis vom 6. Juni die
Mehrheitsſozialdemokratie und die Unabhängigen enger zu-
ſammen, ſo werden die Schwierigkeiten der Regierungsbil-
dung erſt recht groß, es müßte denn ſein, daß aus den Wahl-
urnen eine rein ſozialiſtiſche Mehrheit emporſtiege. Daran
glaubt aber offenbar niemand. Und wenn ſich die Dinge
nun ſo geſtalten, daß der Reichstag im Verhältnis etwa
ebenſoviel Sozialiſten zählt wie die Nationalverſammlung,
aber mit ganz anderer Verteilung auf die beiden Gruppen,
ſo wird natürlich das Zuſammengehen der Sozialdemokratie
auch mit dem Zentrum und den Demokraten erheblich er-
ſchwert. Käme es aber trotzdem zuſtande, und zwar ohne
daß einem etwaigen Anteil der Unabhängigen an der Re-
gierung eine Erweiterung der Regierungskoalition nach
rechts gegenüberſtünde, ſo erhebt ſich die große Frage, wie
eine ſolche Verſchiebung der Regierung nach links auf die-
jenigen Teile des Reiches wirken würde, die ſchon bisher
den Verhältniſſen in Berlin und insbeſondere der ſogenannten
Nebenregierung der Gewerkſchaften mit wachſendem Miß-
trauen zugeſehen haben.

Tatſächlich kann man in ſehr weiten Kreiſen hören,
daß man im Weſten und im Süden einen ſolchen weiteren
Ruck nach links einfach nicht mitmachen würde, und im Zu-
ſammenhange damit wird die Frage der Gefährdung der
Reichseinheit, die in engeren Kreiſen ſchon lange ventiliert
wird, allmählich immer lauter und rückhaltloſer erörtert.
Kein ernſthafter Menſch denkt allerdings daran, Bayern
oder die Rheinprovinz dauernd vom Reiche loszulöſen. Man
iſt ſich auch völlig klar darüber, daß ſpeziell Bayern ſchon
durch ſeinen Kohlenbedarf beim Reiche feſtgehalten würde,
ſelbſt wenn es ſonſt irgendwohin abfallen könnte und wollte.
Und den Gedanken, ſich den Kohlenbezug etwa auf dem
niederträchtigen und hochverräteriſchen Umweg über eine
franzöſiſche Beſetzung des Ruhrgebietes zu ſichern, weiſt ſelbſt
das ſkrupelloſeſte Weißblaue weit von ſich. Aber man ſpielt
allerdings mit dem Gedanken, daß eine zeitweilige
Trennung von Berlin und Preußen auch der deutſchen Sache
mehr nützen könnte als ein Weitertrotten auf einem Wege,
von dem man glaubt, daß er ins Verderben führen müſſe.
Dabei hat man nicht allein die Erhaltung der bürgerlichen
und wirtſchaftlichen Ordnung, die Herſtellung oder wenig-
ſtens Anbahnung einer Art neuen notdürftigen Gleich-
gewichtes in den fürchterlich zerrütteten Staats- und Ge-
meindehaushalten, ſondern auch den Anſchluß von Tirol,
Salzburg uſw. im Auge. Wir halten dieſes Entwicklungs-
bild für ein Hirngeſpinſt, wir würden es aber auch für ein
ungeheures Unglück halten, wenn Bayern dieſe Wege gehen
wollte. Denn man ſieht wohl, wo die Wege ſich trennen, nicht
uber wo ſie wieder zuſammenführen. Man ſieht außerdem
den Triumph unſerer Feinde in dem Augenblick ſich vollen-
den, in dem die deutſche Einheit zuſammenbricht, und man
ſieht namenloſes Unheil über alle unſere neuerdings ſo ſchwer
exponierten Grenzländer hereinbrechen. Vor allem aber wäre
es geradezu verhängnisvoll, wenn der geiſtige und politiſche
Einfluß des deutſchen Südens auf das Reichsganze durch
dieſe Lostrennung ausgeſchaltet würde, wie die Abſchnürung
der von Norden her ins Bayerland führenden wirtſchaftlichen
Lebensader ſicherlich den Ruin auch für Bayern bedeuten

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[209/0003] 6. Juni 1920 Allgemeine Zeitung Politik und Wirtſchaft Die Gefährdung der Reichseinheit. Wenn irgend etwas ſicher iſt, ſo iſt es das, daß uns die kommenden Reichstagswahlen aufs neue in ein Meer von Unſicherheiten ſtürzen werden. Greift nicht ein Ma- ſchinengott in letzter Stunde in die Wahlbewegung ein, ſo wird das Ergebnis des 6. Juni eine erhebliche Schwächung der bisherigen Regierungskoalition bedeuten. Das Zentrum iſt ja ſeiner Mandate ſo gut wie ſicher und erweiſt ſich über- haupt in bemerkenswertem Maße als der ruhende Pol in der Erſcheinungen Flucht. Aber auch das gilt nur von der Partei des katholiſchen Dolkes im weiteſten Sinne; der Zentrumsturm als ſolcher iſt nicht nur in Bayern, ſondern auch am Rhein erheblich bedroht und es geht nicht an, die Abgeordneten, die hier wie dort als Katholiken gewählt werden, ohne weiteres dem bisherigen Regierungsblock zu- zurechnen. Daß ein nicht ganz unerheblicher Teil der Wähler, die am 19. Januar 1919 demokratiſch gewählt haben, ſeit einigen Wochen und Monaten nach rechts, zur Deutſchen Volkspartei, abmarſchiert, iſt ebenfalls eine Tatſache, mit der man ſich ſelbſt in demokratiſchen Kreiſen abfinden muß und abfindet, und wenn auch die Bäume des Herrn Streſe- mann weder jetzt noch ſpäter in den Himmel wachſen werden, ſo ſpricht doch manches für einen Augenblickserfolg ſeiner Beſtrebungen, der die Stabilität der Regierungspolitik wenig- ſtens in den inneren Fragen bedroht; denn an den eher- nen Geſetzen, durch die unſere auswärtige Politik beſtimmt wird, läßt ſich weder durch Herrn Streſemann noch durch ſonſt wen irgend etwas ändern. Der Verluſt, der der Deut- ſchen Demokratiſchen Partei aus einem etwaigen Sieg der Deutſchen Volkspartei erwachſen könnte, wird nun vielleicht für die Partei als ſolche durch einen Zuwachs von links her ausgeglichen, denn zu den Eigentümlichkeiten der Wahlen zur verfaſſunggebenden Nationalverſammlung hat auch ge- hört, daß die Werbekraft der ſiegreichen Jdeen des Sozialis- mus weite Kreiſe der bürgerlichen Jntelligenz erfaßte. Dieſe Werbekraft hat nun im Laufe des letzten Jahres ſehr er- heblich nachgelaſſen. Von den Jdeen des Sozialismus iſt faſt ſo wenig übriggeblieben wie von dem Jdealismus der Sozialdemokratie; ſie iſt unter den namenloſen Schwierig- keiten, mit denen ſie zu ringen hatte, ſchließlich der Gefahr des Fortwurſtelns ganz und gar verfallen und es gibt heute keine dankbarere Aufgabe für einen rechtsſtehenden Poli- tiker als nachzuweiſen, daß der Sozialismus faſt auf allen Gebieten Bankrott gemacht habe. Darin liegt zweifellos eine ſtarke Ungerechtigkeit und Unbilligkeit, aber bei ſolchen Sentimentalitäten pflegt ſich nun einmal die Wählerſchaft nicht aufzuhalten und es entſpricht ſchließlich auch einfach dem phyſikaliſchen Geſetz, daß die Anziehungskraft, die die Sozialdemokratie als ſtärkſte Partei bei den Wahlen zur verfaſſunggebenden Nationalverſammlung zu üben ver- mochte, außerordentlich ſtark nachgelaſſen hat und daß die vorübergehend angezogenen Elemente jetzt wieder durch die ſtärker gewordene Zentrifugalkraft in den Weltenraum hin- ausgeſchleudert werden. Wenn demnach vielleicht bei der Demokratie Gewinn und Verluſt ſich die Wage halten müſ- ſen — wir glauben nicht, daß es ganz der Fall ſein wird —, ſo iſt dagegen die Mehrheitsſozialdemokratie unzweifelhaft von einem ganz gewaltigen Rückgang ihrer Wählerſtimmen und Abgeordnetenmandate bedroht, denn wenn eine Abwan- derung nach rechts nicht unwahrſcheinlich iſt, ſo iſt eine ſolche nach links ganz gewiß unvermeidlich. Nun hat die Mehrheitsſozialdemokratie in der National- verſammlung 165 Mitglieder gezählt, das Zentrum ein- ſchließlich der Bayeriſchen Volkspartei 89 Mitglieder und einen Hoſpitanten, die Deutſche Demokratiſche Partei 74 Mit- glieder und einen Hoſpitanten; das macht zuſammen 330 Mitglieder der Koalitionsparteien; bei einer Geſamtzahl von 423 Abgeordneten ſomit eine Mehrheit, die auch eine ſtarke Abbröckelung erträgt und trotzdem noch ausreichen kann. Aber die allgemeine Empfindung geht offenbar dahin, daß das, was von dieſen drei Parteien mit der Neigung zur Fortſetzung der Koalition wiederkehrt, dazu doch nicht ausreichen werde, daß alſo eine Derſtärkung von rechts oder links notwendig ſein wird, um eine tragfähige Regierungs- koalition zu bilden. Dieſe Verſtärkung von rechts her, alſo von der Deutſchen Volkspartei zu nehmen, hat Reichskanzler Müller mit großer Entſchiedenheit abgelehnt. Und wenn man die Bedeutung dieſer Abſage nicht überſchätzen darf, da Müller wohl kaum im Namen und Auftrag der Regierung oder auch nur ſeiner Partei geſprochen hat, ſo kann es doch nicht ausbleiben, daß der Wahlkampf, wie er im ganzen Reiche, inſonderheit aber in Bayern geführt wird, die Nei- gung der Sozialdemokratie zum Paktieren mit bürgerlichen Parteien nicht verſtärkt, ſondern eher abſchwächt, ſchon weil der Wahlkampf als ſolcher alle Prinzipien ſchärfer aus- arbeitet. Führt aber das Wahlergebnis vom 6. Juni die Mehrheitsſozialdemokratie und die Unabhängigen enger zu- ſammen, ſo werden die Schwierigkeiten der Regierungsbil- dung erſt recht groß, es müßte denn ſein, daß aus den Wahl- urnen eine rein ſozialiſtiſche Mehrheit emporſtiege. Daran glaubt aber offenbar niemand. Und wenn ſich die Dinge nun ſo geſtalten, daß der Reichstag im Verhältnis etwa ebenſoviel Sozialiſten zählt wie die Nationalverſammlung, aber mit ganz anderer Verteilung auf die beiden Gruppen, ſo wird natürlich das Zuſammengehen der Sozialdemokratie auch mit dem Zentrum und den Demokraten erheblich er- ſchwert. Käme es aber trotzdem zuſtande, und zwar ohne daß einem etwaigen Anteil der Unabhängigen an der Re- gierung eine Erweiterung der Regierungskoalition nach rechts gegenüberſtünde, ſo erhebt ſich die große Frage, wie eine ſolche Verſchiebung der Regierung nach links auf die- jenigen Teile des Reiches wirken würde, die ſchon bisher den Verhältniſſen in Berlin und insbeſondere der ſogenannten Nebenregierung der Gewerkſchaften mit wachſendem Miß- trauen zugeſehen haben. Tatſächlich kann man in ſehr weiten Kreiſen hören, daß man im Weſten und im Süden einen ſolchen weiteren Ruck nach links einfach nicht mitmachen würde, und im Zu- ſammenhange damit wird die Frage der Gefährdung der Reichseinheit, die in engeren Kreiſen ſchon lange ventiliert wird, allmählich immer lauter und rückhaltloſer erörtert. Kein ernſthafter Menſch denkt allerdings daran, Bayern oder die Rheinprovinz dauernd vom Reiche loszulöſen. Man iſt ſich auch völlig klar darüber, daß ſpeziell Bayern ſchon durch ſeinen Kohlenbedarf beim Reiche feſtgehalten würde, ſelbſt wenn es ſonſt irgendwohin abfallen könnte und wollte. Und den Gedanken, ſich den Kohlenbezug etwa auf dem niederträchtigen und hochverräteriſchen Umweg über eine franzöſiſche Beſetzung des Ruhrgebietes zu ſichern, weiſt ſelbſt das ſkrupelloſeſte Weißblaue weit von ſich. Aber man ſpielt allerdings mit dem Gedanken, daß eine zeitweilige Trennung von Berlin und Preußen auch der deutſchen Sache mehr nützen könnte als ein Weitertrotten auf einem Wege, von dem man glaubt, daß er ins Verderben führen müſſe. Dabei hat man nicht allein die Erhaltung der bürgerlichen und wirtſchaftlichen Ordnung, die Herſtellung oder wenig- ſtens Anbahnung einer Art neuen notdürftigen Gleich- gewichtes in den fürchterlich zerrütteten Staats- und Ge- meindehaushalten, ſondern auch den Anſchluß von Tirol, Salzburg uſw. im Auge. Wir halten dieſes Entwicklungs- bild für ein Hirngeſpinſt, wir würden es aber auch für ein ungeheures Unglück halten, wenn Bayern dieſe Wege gehen wollte. Denn man ſieht wohl, wo die Wege ſich trennen, nicht uber wo ſie wieder zuſammenführen. Man ſieht außerdem den Triumph unſerer Feinde in dem Augenblick ſich vollen- den, in dem die deutſche Einheit zuſammenbricht, und man ſieht namenloſes Unheil über alle unſere neuerdings ſo ſchwer exponierten Grenzländer hereinbrechen. Vor allem aber wäre es geradezu verhängnisvoll, wenn der geiſtige und politiſche Einfluß des deutſchen Südens auf das Reichsganze durch dieſe Lostrennung ausgeſchaltet würde, wie die Abſchnürung der von Norden her ins Bayerland führenden wirtſchaftlichen Lebensader ſicherlich den Ruin auch für Bayern bedeuten

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 22, 6. Juni 1920, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine22_1920/3>, abgerufen am 10.06.2024.