Allgemeine Zeitung, Nr. 19, 8. Mai 1915.8. Mai 1915. Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch]
Burgfriede, der in Deutschland sich so kräftig und als ehrenvollesZeugnis des vaterländischen Pflichtgefühls in allen Parteilagern be- hauptet, ist gebrochen, und die Möglichkeit, ihn wiederherzustellen, erscheint so gut wie ausgeschlossen. Der Durchschnittsbrite betrachtet eben in seinem insularen Denken die Tragödie des Völkerringens jenseits des Kanales letzten Endes doch nur als eine Art Kolonial- krieg oder vielmehr als einen "Kampf der Festländer", die einander zerreißen, auf daß Englands Uebermacht herrlicher denn je erstehe, und in den er regulierend nur insofern eingreift, als es darauf an- kommt, ein John Bull genehmes europäisches Gleichgewicht herzu- stellen. Die Regierungspresse selbst hat alles getan, um ihn in dieser Auffassung zu bestärken, indem sie, wie sich die Times un- längst ausdrückten, den Krieg als "eine bloße Unternehmung der Menschenfreundlichkeit" hinstellte, als eine Ehrenpflicht, die wohl einen Haufen Geld -- vorab den anderen Entente-Mitspielern -- kosten könne, aber weder das Ereignis einer nationalen Niederlage noch ein Risiko persönlicher Aufopferung und Vernichtung bedinge. Im Gegenteil! Man hat ihm goldene Berge des Wohlseins und Scharen gebratener Tauben versprochen, die ihm in den Mund fliegen würden, wenn erst der lästige Wettbewerber Deutschland zu Boden geschlagen wäre. Aber nicht nur das Ausbleiben der auf Vorschußkonto gesetzten Kriegslorbeeren, fast mehr noch die organi- satorische Widerstandsschwäche und das Versagen des nationalwirt- schaftlichen Körpers gegenüber den verdoppelten, ungewöhnlichen und unvorhergesehenen Forderungen des Krieges machte alsbald einen dicken Strich durch die Rechnung vom "business as usual". Das zeigte sich zunächst an einer Stelle, wo es der auf seine kapita- listische Weltherrschaft so stolze Brite am wenigsten erwartet hatte: am Heißlauf der finanzpolitischen Maschine. Schon bald nach dem Kriegsausbruch mußte Lloyd George zur Zeigen sich so die "Verheißungen" der Regierung für den Staat 8. Mai 1915. Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch]
Burgfriede, der in Deutſchland ſich ſo kräftig und als ehrenvollesZeugnis des vaterländiſchen Pflichtgefühls in allen Parteilagern be- hauptet, iſt gebrochen, und die Möglichkeit, ihn wiederherzuſtellen, erſcheint ſo gut wie ausgeſchloſſen. Der Durchſchnittsbrite betrachtet eben in ſeinem inſularen Denken die Tragödie des Völkerringens jenſeits des Kanales letzten Endes doch nur als eine Art Kolonial- krieg oder vielmehr als einen „Kampf der Feſtländer“, die einander zerreißen, auf daß Englands Uebermacht herrlicher denn je erſtehe, und in den er regulierend nur inſofern eingreift, als es darauf an- kommt, ein John Bull genehmes europäiſches Gleichgewicht herzu- ſtellen. Die Regierungspreſſe ſelbſt hat alles getan, um ihn in dieſer Auffaſſung zu beſtärken, indem ſie, wie ſich die Times un- längſt ausdrückten, den Krieg als „eine bloße Unternehmung der Menſchenfreundlichkeit“ hinſtellte, als eine Ehrenpflicht, die wohl einen Haufen Geld — vorab den anderen Entente-Mitſpielern — koſten könne, aber weder das Ereignis einer nationalen Niederlage noch ein Riſiko perſönlicher Aufopferung und Vernichtung bedinge. Im Gegenteil! Man hat ihm goldene Berge des Wohlſeins und Scharen gebratener Tauben verſprochen, die ihm in den Mund fliegen würden, wenn erſt der läſtige Wettbewerber Deutſchland zu Boden geſchlagen wäre. Aber nicht nur das Ausbleiben der auf Vorſchußkonto geſetzten Kriegslorbeeren, faſt mehr noch die organi- ſatoriſche Widerſtandsſchwäche und das Verſagen des nationalwirt- ſchaftlichen Körpers gegenüber den verdoppelten, ungewöhnlichen und unvorhergeſehenen Forderungen des Krieges machte alsbald einen dicken Strich durch die Rechnung vom „business as usual“. Das zeigte ſich zunächſt an einer Stelle, wo es der auf ſeine kapita- liſtiſche Weltherrſchaft ſo ſtolze Brite am wenigſten erwartet hatte: am Heißlauf der finanzpolitiſchen Maſchine. Schon bald nach dem Kriegsausbruch mußte Lloyd George zur Zeigen ſich ſo die „Verheißungen“ der Regierung für den Staat <TEI> <text> <body> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div type="jComment" n="2"> <p><pb facs="#f0009" n="Seite 283.[283]"/><fw place="top" type="header">8. 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Die Regierungspreſſe ſelbſt hat alles getan, um ihn in<lb/> dieſer Auffaſſung zu beſtärken, indem ſie, wie ſich die Times un-<lb/> längſt ausdrückten, den Krieg als „eine bloße Unternehmung der<lb/> Menſchenfreundlichkeit“ hinſtellte, als eine Ehrenpflicht, die wohl<lb/> einen Haufen Geld — vorab den anderen Entente-Mitſpielern —<lb/> koſten könne, aber weder das Ereignis einer nationalen Niederlage<lb/> noch ein Riſiko perſönlicher Aufopferung und Vernichtung bedinge.<lb/> Im Gegenteil! Man hat ihm goldene Berge des Wohlſeins und<lb/> Scharen gebratener Tauben verſprochen, die ihm in den Mund<lb/> fliegen würden, wenn erſt der läſtige Wettbewerber Deutſchland<lb/> zu Boden geſchlagen wäre. Aber nicht nur das Ausbleiben der auf<lb/> Vorſchußkonto geſetzten Kriegslorbeeren, faſt mehr noch die organi-<lb/> ſatoriſche Widerſtandsſchwäche und das Verſagen des nationalwirt-<lb/> ſchaftlichen Körpers gegenüber den verdoppelten, ungewöhnlichen<lb/> und unvorhergeſehenen Forderungen des Krieges machte alsbald<lb/> einen dicken Strich durch die Rechnung vom <hi rendition="#aq">„business as usual“.</hi><lb/> Das zeigte ſich zunächſt an einer Stelle, wo es der auf ſeine kapita-<lb/> liſtiſche Weltherrſchaft ſo ſtolze Brite am wenigſten erwartet hatte:<lb/> am Heißlauf der <hi rendition="#g">finanzpolitiſchen</hi> Maſchine.</p><lb/> <p>Schon bald nach dem Kriegsausbruch mußte Lloyd George zur<lb/> Deckung der laufenden Ausgaben ſeine Zuflucht zu der Bank von<lb/> England nehmen und ſich von ihr Vorſchüſſe im Betrag von vielen<lb/> Millionen Pfund geben laſſen, wodurch alſo das Clearing Houſe der<lb/> Welt ſeinem eigentlichen Beruf, der Vermittler des freien Kredit-<lb/> verkehrs zu ſein, entzogen wurde. Dann ſetzte, mit vorübergehen-<lb/> den Steigerungen dank der von den Verbündeten erpreßten Edel-<lb/> metallzahlungen als Deckung für Papierkredit, eine ſtändige Sen-<lb/> kung der Kurve der Goldvorräte ein, die ſeit dem November von<lb/> rund 70 Millionen Pfund auf 64 Millionen Anfang April fielen.<lb/> Die zwangsläufige Folge war die ebenſo ſtetige Verſchlechterung<lb/> der harten Deckung des Notenumlaufes. Die amtlichen Berichte be-<lb/> haupten zwar das Gegenteil und ſprechen ſogar von einer Ueber-<lb/> deckung, die aber nur durch eine leicht zu durchſchauende Täuſchung<lb/> der Oeffentlichkeit zuſtande kommt. Denn neben den regulären<lb/> Banknoten ſind noch in großer Menge Verkehrsnoten, die nichts<lb/> ſind als maskierte Staatskredite und nur zu etwa 18 v. H. 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Unter gewöhn-<lb/> lichen Verhältniſſen, wenn dieſer Fehlbetrag durch „unſichtbare Ein-<lb/> fuhren“ wie Auslandsanleihen, Schiffsfrachtdienſt, Rimeſſen aller<lb/> Art gedeckt wird, wäre das Wachstum gewiß nicht bedenklich; jetzt<lb/> aber, wo dieſe Deckung fehlt oder in ſehr verdünnter Quelle fließt,<lb/> bedeutet es nichts anderes als einen kräftigen und auf die Dauer<lb/> ſelbſt dem reichen England unerträglichen Aderlaß. Alle amtlichen<lb/> ſchönfärberiſchen Behauptungen, daß die britiſchen Finanzen dem<lb/> Kriegsſturm unerſchütterlich ſtandhielten, können nicht darüber täu-<lb/> ſchen, daß deren Wall in Wirklichkeit ſich als ziemlich brüchig er-<lb/> weiſt; die Tatſachen, daß der Staat die Bürgſchaft für die von der<lb/> Bank von England diskontierten Wechſel übernehmen mußte, daß<lb/> er bei kräftiger Anziehung der Steuerſchraube einen großen Teil<lb/> der Kriegskoſten durch das ebenſo billige wie bedenkliche Mittel<lb/> der Papierausgabe zu decken ſich gezwungen ſieht, daß der Kurs<lb/> ſeiner „Goldgeränderten“ um 11 v. H., alſo um das Doppelte des<lb/> Verluſtes der deutſchen Reichsanleihen, geſunken iſt und daß er<lb/> bei Morgan Kredite über bislang 600 Millionen Dollars hat auf-<lb/> nehmen müſſen, teils um der Bezahlung der Kriegslieferungen<lb/> willen, teils um den Goldabfluß aus London nach Neuyork zu ver-<lb/><cb/> hindern, ſind beredte Zeugniſſe der Nervenſchwäche, die den<lb/> Gläubiger der ganzen Welt befallen hat.</p><lb/> <p>Zeigen ſich ſo die „Verheißungen“ der Regierung für den Staat<lb/> als verhängnisvolle Täuſchung, ſo erwies ſie ſich erſt recht als Fata<lb/> Morgana für die <hi rendition="#g">Privatwirtſchaft.</hi> Nach der Statiſtik des<lb/> „Economiſt“ beträgt die Steigerung der Geſamtpreiſe ſeit dem<lb/> Kriegsausbruch bis Ende Februar 25,7 v. H., die Indexzahl iſt 845,<lb/> ſtellt alſo einen Rekord dar, der um 69 v. H. höher iſt als der mittlere<lb/> Preis des Jahrfünfts 1901—1905 und um 55 v. H. als der Regel<lb/> der Preiſe vor einem Jahr. Daß die Preisſchraube jetzt erſt recht an-<lb/> ziehen wird, da der Unterſeebootkrieg mehr und mehr in volle Wirk-<lb/> ſamkeit tritt, iſt mit Sicherheit anzunehmen und für den Monat<lb/> März bereits erwieſen. Das war das Zeichen, daß die Arbeiter-<lb/> partei, die anfangs mit vielen gewundenen Vorbehalten ſich für den<lb/> Krieg erklärt hatte, alsbald eine vollkommene Frontſchwenkung<lb/> vollzog. Ihr Hauptſprachrohr, der ſonſt ſehr maßvolle und trefflich<lb/> gleitete Labour Leader, erklärte ſchon anfangs Dezember, „die De-<lb/> mokratie leide an einer Geiſtesverwirrung und kenne ihre Freunde<lb/> nicht; aber es werde ein trauriges Erwachen zur Wirklichkeit wer-<lb/> den und ein ſtarker Rückſchlag gegen dieſes ſiegloſe Schlachten<lb/> kommen.“ War man ſchon ſo ſcharf auf der rechten Seite der Ar-<lb/> beiterſchaft, ſo redete man natürlich auf der linken, in Organen vom<lb/> Schlag eines Herald und Clarion, wo die um Lansbury und Blatch-<lb/> ford das große Wort führen, noch ganz anders, hetzte unverblümt<lb/> gegen die Rekrutenwerbung und ſuchte den Arbeitermaſſen klar zu<lb/> machen, daß, wenn jemals, ſo jetzt die Zeit gekommen ſei, um den<lb/> mehr denn je von den Leiſtungen ihrer Fäuſte abhängig gewordenen<lb/> Erbfeind Großkapitalismus aus dem Sattel zu heben. Die Wurzeln<lb/> dieſer wenn nicht vaterlandsloſen, ſo doch jedenfalls politiſch ſehr<lb/> kurzſichtigen und moraliſch nicht eben hochſtehenden Geſinnung<lb/> finden ſich vorab auf drei geſchichtlichen Geſichtslinien. Je mehr<lb/> die klaſſiſche Schule des Trade-Unionismus mit ihrer friedlichen Ge-<lb/> ſinnung und ihrem Prinzip der politiſchen Neutralität von der<lb/> jungen, draufgängeriſchen Garde der ſozialiſtiſchen Partei ver-<lb/> drängt wurde, deſto mehr haben bei der britiſchen Arbeiterſchaft die<lb/> Lehren des Pariſer Syndikalismus Eingang gefunden, aus denen<lb/> aber in der Hand des materialiſtiſch denkenden und profitbedachten<lb/> John Bull etwas ganz anderes als im Urſprungsland wurde. Die<lb/> blaſſen Theorien eines Sorel und Lagardelle vom ſozialiſtiſchen<lb/> Zukunftsſtaat ſind ihm nichts; um ſo mehr hält er von den An-<lb/> weiſungen und Ideen des <hi rendition="#aq">„irritation strike“</hi>, des Cacannu, der<lb/> Sabotage, des Generalſtreiks: wie durch ſtändige Erpreſſung höherer<lb/> Löhne bei ebenſo ſtetiger Verminderung der Arbeitszeit und der Ar-<lb/> beitsleiſtung der Gewinn des Unternehmertums immer mehr her-<lb/> untergedrückt werden ſoll, bis dieſes ſchließlich durch „faule Arbeit“<lb/> und unaufhörliche Aufſtandsreizung aus ſeinem Beſitz hinaus-<lb/> ſchikaniert iſt. Dieſe radikale Richtung wird nun weſentlich verſtärkt<lb/> dadurch, daß — was in Deutſchland merkwürdigerweiſe faſt gar<lb/> nicht beachtet wird — auch hier das Gift der iriſchen Schickſalsfrage<lb/> in verdeckter, aber ſehr durchſchlagender Weiſe wirkſam iſt. Bis<lb/> vor einem Jahrzehnt flutete der Sozialismus der grünen Inſel,<lb/> ſoweit davon zu ſprechen war, gänzlich abſeits des Stromes<lb/> des proletariſchen Klaſſenkampfes in England und Schott-<lb/> land. Die ſcharfen, nur durch umfangreiches Militäraufgebot unter-<lb/> drückten Straßenkrawalle des Dubliner Transportarbeiterverbandes<lb/> bewieſen dann aber plötzlich in eindringlichſter Weiſe, wie in dem<lb/> Maß, als die iriſche Junta ſich verbürgerlicht hatte und unter Red-<lb/> monds Leitung auf dem Weg des parlamentariſchen Kuhhandels<lb/> ihre Home Rule-Ziele zu erreichen ſtrebte, die iriſchen Arbeiter dem<lb/> ſozialiſtiſchen Radikalismus verfallen waren und ſeitdem unter<lb/> Führung von Hitzköpfen des Schlages Larkins und Connollys un-<lb/> verhüllt auf das Ziel hindrängen, durch den gemeinſamen Sturmlauf<lb/> mit den verbündeten britiſchen Gewerkſchaften, die ſie bei jenen<lb/> Kämpfen eifrig unterſtützten, gegen die Kapitalmacht, die hinter ihr<lb/> ſchützend ſtehende Regierungsmacht zu ſtürzen und auf ſolchem Weg<lb/> das letzte politiſche Ideal Pornellſcher Ueberlieferung: Irland den<lb/> Irländern! zu verwirklichen. All dieſe revolutionären Kräfte würden<lb/> freilich trotz dem merkwürdigen Zuſammenfließen von anarchiſtiſch<lb/> gefärbtem Sozialismus und ausgeſprochen ſtaatsfeindlicher iriſcher<lb/> Intranſigenz nicht ſolche durchſchlagende Wirkſamkeit zeigen, wie<lb/> ſie ihnen tatſächlich heute eignet, wenn ſie nicht noch einen verdeckten,<lb/> aber ſtark fließenden ideellen Quellgrund hätten. Ungeachtet alles<lb/> modernen Imperialismus iſt das ſtaatliche Denken des Briten, ſein<lb/> national-gemeinbürgerliches Verantwortlichkeits- und Pflichtbewußt-<lb/> ſein — eine Erbſchaft des Cobdenſchen Individualismus mit ſeiner<lb/> einſeitigen Betonung der perſönlichen Freiheits- und Nützlichkeits-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [Seite 283.[283]/0009]
8. Mai 1915. Allgemeine Zeitung
Burgfriede, der in Deutſchland ſich ſo kräftig und als ehrenvolles
Zeugnis des vaterländiſchen Pflichtgefühls in allen Parteilagern be-
hauptet, iſt gebrochen, und die Möglichkeit, ihn wiederherzuſtellen,
erſcheint ſo gut wie ausgeſchloſſen. Der Durchſchnittsbrite betrachtet
eben in ſeinem inſularen Denken die Tragödie des Völkerringens
jenſeits des Kanales letzten Endes doch nur als eine Art Kolonial-
krieg oder vielmehr als einen „Kampf der Feſtländer“, die einander
zerreißen, auf daß Englands Uebermacht herrlicher denn je erſtehe,
und in den er regulierend nur inſofern eingreift, als es darauf an-
kommt, ein John Bull genehmes europäiſches Gleichgewicht herzu-
ſtellen. Die Regierungspreſſe ſelbſt hat alles getan, um ihn in
dieſer Auffaſſung zu beſtärken, indem ſie, wie ſich die Times un-
längſt ausdrückten, den Krieg als „eine bloße Unternehmung der
Menſchenfreundlichkeit“ hinſtellte, als eine Ehrenpflicht, die wohl
einen Haufen Geld — vorab den anderen Entente-Mitſpielern —
koſten könne, aber weder das Ereignis einer nationalen Niederlage
noch ein Riſiko perſönlicher Aufopferung und Vernichtung bedinge.
Im Gegenteil! Man hat ihm goldene Berge des Wohlſeins und
Scharen gebratener Tauben verſprochen, die ihm in den Mund
fliegen würden, wenn erſt der läſtige Wettbewerber Deutſchland
zu Boden geſchlagen wäre. Aber nicht nur das Ausbleiben der auf
Vorſchußkonto geſetzten Kriegslorbeeren, faſt mehr noch die organi-
ſatoriſche Widerſtandsſchwäche und das Verſagen des nationalwirt-
ſchaftlichen Körpers gegenüber den verdoppelten, ungewöhnlichen
und unvorhergeſehenen Forderungen des Krieges machte alsbald
einen dicken Strich durch die Rechnung vom „business as usual“.
Das zeigte ſich zunächſt an einer Stelle, wo es der auf ſeine kapita-
liſtiſche Weltherrſchaft ſo ſtolze Brite am wenigſten erwartet hatte:
am Heißlauf der finanzpolitiſchen Maſchine.
Schon bald nach dem Kriegsausbruch mußte Lloyd George zur
Deckung der laufenden Ausgaben ſeine Zuflucht zu der Bank von
England nehmen und ſich von ihr Vorſchüſſe im Betrag von vielen
Millionen Pfund geben laſſen, wodurch alſo das Clearing Houſe der
Welt ſeinem eigentlichen Beruf, der Vermittler des freien Kredit-
verkehrs zu ſein, entzogen wurde. Dann ſetzte, mit vorübergehen-
den Steigerungen dank der von den Verbündeten erpreßten Edel-
metallzahlungen als Deckung für Papierkredit, eine ſtändige Sen-
kung der Kurve der Goldvorräte ein, die ſeit dem November von
rund 70 Millionen Pfund auf 64 Millionen Anfang April fielen.
Die zwangsläufige Folge war die ebenſo ſtetige Verſchlechterung
der harten Deckung des Notenumlaufes. Die amtlichen Berichte be-
haupten zwar das Gegenteil und ſprechen ſogar von einer Ueber-
deckung, die aber nur durch eine leicht zu durchſchauende Täuſchung
der Oeffentlichkeit zuſtande kommt. Denn neben den regulären
Banknoten ſind noch in großer Menge Verkehrsnoten, die nichts
ſind als maskierte Staatskredite und nur zu etwa 18 v. H. Gold-
deckung haben, unter dem Namen emergency currency (Not-
ſtandsgeld) in Umlauf geſetzt; dazu kommt, daß England verfaſſungs-
geſetzlich für die Währung ſeines indiſchen Kaiſerreiches aufzukom-
men hat, wo aber nach dem letzten Ausweis einem Papierumlaufe
von 630.9 Millionen Rs. nicht mehr als 128.7 Millionen Rs. Gold,
das heißt eine harte Deckung von 20.3 v. H., gegenüberſtehen.
Nicht minder mißlich als um die Bilanz der ſtaatlichen Kreditver-
hältniſſe und Geldpolitik ſteht es um die handelswirtſchaftliche
Bilanz. In den ſieben Kriegsmonaten Auguſt bis Februar iſt das
Paſſivum des Einfuhrüberſchuſſes von 13.7 auf 32.3 Millionen
Pfund, alſo um mehr als das Doppelte geſtiegen. Unter gewöhn-
lichen Verhältniſſen, wenn dieſer Fehlbetrag durch „unſichtbare Ein-
fuhren“ wie Auslandsanleihen, Schiffsfrachtdienſt, Rimeſſen aller
Art gedeckt wird, wäre das Wachstum gewiß nicht bedenklich; jetzt
aber, wo dieſe Deckung fehlt oder in ſehr verdünnter Quelle fließt,
bedeutet es nichts anderes als einen kräftigen und auf die Dauer
ſelbſt dem reichen England unerträglichen Aderlaß. Alle amtlichen
ſchönfärberiſchen Behauptungen, daß die britiſchen Finanzen dem
Kriegsſturm unerſchütterlich ſtandhielten, können nicht darüber täu-
ſchen, daß deren Wall in Wirklichkeit ſich als ziemlich brüchig er-
weiſt; die Tatſachen, daß der Staat die Bürgſchaft für die von der
Bank von England diskontierten Wechſel übernehmen mußte, daß
er bei kräftiger Anziehung der Steuerſchraube einen großen Teil
der Kriegskoſten durch das ebenſo billige wie bedenkliche Mittel
der Papierausgabe zu decken ſich gezwungen ſieht, daß der Kurs
ſeiner „Goldgeränderten“ um 11 v. H., alſo um das Doppelte des
Verluſtes der deutſchen Reichsanleihen, geſunken iſt und daß er
bei Morgan Kredite über bislang 600 Millionen Dollars hat auf-
nehmen müſſen, teils um der Bezahlung der Kriegslieferungen
willen, teils um den Goldabfluß aus London nach Neuyork zu ver-
hindern, ſind beredte Zeugniſſe der Nervenſchwäche, die den
Gläubiger der ganzen Welt befallen hat.
Zeigen ſich ſo die „Verheißungen“ der Regierung für den Staat
als verhängnisvolle Täuſchung, ſo erwies ſie ſich erſt recht als Fata
Morgana für die Privatwirtſchaft. Nach der Statiſtik des
„Economiſt“ beträgt die Steigerung der Geſamtpreiſe ſeit dem
Kriegsausbruch bis Ende Februar 25,7 v. H., die Indexzahl iſt 845,
ſtellt alſo einen Rekord dar, der um 69 v. H. höher iſt als der mittlere
Preis des Jahrfünfts 1901—1905 und um 55 v. H. als der Regel
der Preiſe vor einem Jahr. Daß die Preisſchraube jetzt erſt recht an-
ziehen wird, da der Unterſeebootkrieg mehr und mehr in volle Wirk-
ſamkeit tritt, iſt mit Sicherheit anzunehmen und für den Monat
März bereits erwieſen. Das war das Zeichen, daß die Arbeiter-
partei, die anfangs mit vielen gewundenen Vorbehalten ſich für den
Krieg erklärt hatte, alsbald eine vollkommene Frontſchwenkung
vollzog. Ihr Hauptſprachrohr, der ſonſt ſehr maßvolle und trefflich
gleitete Labour Leader, erklärte ſchon anfangs Dezember, „die De-
mokratie leide an einer Geiſtesverwirrung und kenne ihre Freunde
nicht; aber es werde ein trauriges Erwachen zur Wirklichkeit wer-
den und ein ſtarker Rückſchlag gegen dieſes ſiegloſe Schlachten
kommen.“ War man ſchon ſo ſcharf auf der rechten Seite der Ar-
beiterſchaft, ſo redete man natürlich auf der linken, in Organen vom
Schlag eines Herald und Clarion, wo die um Lansbury und Blatch-
ford das große Wort führen, noch ganz anders, hetzte unverblümt
gegen die Rekrutenwerbung und ſuchte den Arbeitermaſſen klar zu
machen, daß, wenn jemals, ſo jetzt die Zeit gekommen ſei, um den
mehr denn je von den Leiſtungen ihrer Fäuſte abhängig gewordenen
Erbfeind Großkapitalismus aus dem Sattel zu heben. Die Wurzeln
dieſer wenn nicht vaterlandsloſen, ſo doch jedenfalls politiſch ſehr
kurzſichtigen und moraliſch nicht eben hochſtehenden Geſinnung
finden ſich vorab auf drei geſchichtlichen Geſichtslinien. Je mehr
die klaſſiſche Schule des Trade-Unionismus mit ihrer friedlichen Ge-
ſinnung und ihrem Prinzip der politiſchen Neutralität von der
jungen, draufgängeriſchen Garde der ſozialiſtiſchen Partei ver-
drängt wurde, deſto mehr haben bei der britiſchen Arbeiterſchaft die
Lehren des Pariſer Syndikalismus Eingang gefunden, aus denen
aber in der Hand des materialiſtiſch denkenden und profitbedachten
John Bull etwas ganz anderes als im Urſprungsland wurde. Die
blaſſen Theorien eines Sorel und Lagardelle vom ſozialiſtiſchen
Zukunftsſtaat ſind ihm nichts; um ſo mehr hält er von den An-
weiſungen und Ideen des „irritation strike“, des Cacannu, der
Sabotage, des Generalſtreiks: wie durch ſtändige Erpreſſung höherer
Löhne bei ebenſo ſtetiger Verminderung der Arbeitszeit und der Ar-
beitsleiſtung der Gewinn des Unternehmertums immer mehr her-
untergedrückt werden ſoll, bis dieſes ſchließlich durch „faule Arbeit“
und unaufhörliche Aufſtandsreizung aus ſeinem Beſitz hinaus-
ſchikaniert iſt. Dieſe radikale Richtung wird nun weſentlich verſtärkt
dadurch, daß — was in Deutſchland merkwürdigerweiſe faſt gar
nicht beachtet wird — auch hier das Gift der iriſchen Schickſalsfrage
in verdeckter, aber ſehr durchſchlagender Weiſe wirkſam iſt. Bis
vor einem Jahrzehnt flutete der Sozialismus der grünen Inſel,
ſoweit davon zu ſprechen war, gänzlich abſeits des Stromes
des proletariſchen Klaſſenkampfes in England und Schott-
land. Die ſcharfen, nur durch umfangreiches Militäraufgebot unter-
drückten Straßenkrawalle des Dubliner Transportarbeiterverbandes
bewieſen dann aber plötzlich in eindringlichſter Weiſe, wie in dem
Maß, als die iriſche Junta ſich verbürgerlicht hatte und unter Red-
monds Leitung auf dem Weg des parlamentariſchen Kuhhandels
ihre Home Rule-Ziele zu erreichen ſtrebte, die iriſchen Arbeiter dem
ſozialiſtiſchen Radikalismus verfallen waren und ſeitdem unter
Führung von Hitzköpfen des Schlages Larkins und Connollys un-
verhüllt auf das Ziel hindrängen, durch den gemeinſamen Sturmlauf
mit den verbündeten britiſchen Gewerkſchaften, die ſie bei jenen
Kämpfen eifrig unterſtützten, gegen die Kapitalmacht, die hinter ihr
ſchützend ſtehende Regierungsmacht zu ſtürzen und auf ſolchem Weg
das letzte politiſche Ideal Pornellſcher Ueberlieferung: Irland den
Irländern! zu verwirklichen. All dieſe revolutionären Kräfte würden
freilich trotz dem merkwürdigen Zuſammenfließen von anarchiſtiſch
gefärbtem Sozialismus und ausgeſprochen ſtaatsfeindlicher iriſcher
Intranſigenz nicht ſolche durchſchlagende Wirkſamkeit zeigen, wie
ſie ihnen tatſächlich heute eignet, wenn ſie nicht noch einen verdeckten,
aber ſtark fließenden ideellen Quellgrund hätten. Ungeachtet alles
modernen Imperialismus iſt das ſtaatliche Denken des Briten, ſein
national-gemeinbürgerliches Verantwortlichkeits- und Pflichtbewußt-
ſein — eine Erbſchaft des Cobdenſchen Individualismus mit ſeiner
einſeitigen Betonung der perſönlichen Freiheits- und Nützlichkeits-
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(2023-04-24T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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