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Allgemeine Zeitung, Nr. 19, 8. Mai 1915.

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Allgemeine Zeitung 8. Mai 1915.
[Spaltenumbruch] werte -- sehr schwach ausgebildet. Man vergleiche die reiche Saat
staatlicher Entwicklungsgedanken, wie sie Deutschlands geistige
Führer, ein Fichte, Schleiermacher, Arndt, Schelling, ausgestreut
haben, mit der Dürre ähnlicher Ideen, wie sie den Briten von ihren
Vorkämpfern politischer Macht als intellektuelle Nahrung vorgesetzt
worden sind, und man sieht in den tiefen Abgrund, der auch hier
beide Nationen trennt. Dort die Erkenntnis des Wesens des Staats
in seinen höchsten kulturethischen, ja tranßendentalen Auswirkungen
und seine Verherrlichung als "eine eigentümliche Gestaltung des
göttlichen und geistlichen Lebens, an die sich alles Wirken des Men-
schen anschließen müsse", jenseits des Kanals das Beharren beim
gesellschaftlichen Atomismus und bei den manchesterlichen Nützlich-
keitsprinzipien: "Der Staat für das Individuum!"

Damit ist schon klar ins Licht gestellt, wie und weshalb nicht nur
der Arbeiterstand, sondern die ganze bürgerliche Gesellschaft Groß-
britanniens eine ganz andere Stellung zu dem Krieg und seinen
Problemen einnimmt als das deutsche Volk. Dank der allgemeinen
Wehrpflicht und dank einer ethisch tiefer verankerten vaterländischen
und staatsbürgerlichen Erziehung weiß oder fühlt doch triebhaft bei
uns jeder, der Höchst- wie der Niedrigstgestellte, daß es sich um Sein
oder Nichtsein unserer Nation und ihrer Zukunftsgröße handelt, er-
achtet es als selbstverständliche Pflicht, dafür Blut und Gut hinzu-
geben, und dieser Idealismus hat unserem Kampf eine wunderbare,
unbesiegbare Schwungkraft gegeben. In England, das gewohnt ist,
seine Kriege mit Söldnerheeren durchzufechten, fehlt schon die Pfahl-
wurzel militärischer Zucht für den Auftrieb einer solchen Begeiste-
rung; dabei hat die seit zehn Jahren das Steuer führende liberale
Regierung alles getan, um durch das Umbuhlen der Volksleidenschaf-
ten zugunsten der parteipolitischen Geschäftsmache Stein um Stein
aus dem Fundament der autoritären Staatsidee ausbrechen und so
jenes Uebel rückgratschwacher Vaterlandsmoral erst recht sich aus-
wuchern zu lassen. Hätten die Kriegserfolge den Verheißungen der
Minister entsprochen, so wäre man natürlich bereit gewesen, über
diese Kurzfichtigkeit und Torheit an leitender Stelle hinwegzusehen,
ja hätte ihr als Schrittmacherin echten Demokratismus Lorbeeren ge-
streut. Jetzt werden umgekehrt ein Asquith, ein Grey, ein Churchill
zu Sündenböcken für die Mißerfolge gemacht, die schließlich doch
weit mehr als Wirkungen persönlicher Ungeschicklichkeit natürliche
Rückschläge des ganzen herrschenden politischen Systems, seiner
ideellen und sittlichen Entwicklungsgründe und Entartung sind. Die
"Daily News" spottete gewiß nicht ohne Recht, wenn sie jüngst an
die Tories die Frage richtete, ob sie wirklich von dem Wunsch des
Landes überzeugt seien, daß für Asquith Bonar Law, für Lloyd
George Chamberlain und für Churchill Lord Beresford in Minister-
würden eingesetzt würden. Tatsächlich ist der unabweisliche Schluß
aus der ganzen Berwirrung der innerpolitischen Lage Englands der,
daß es sich nicht um ein vorübergehendes Fieber, sondern um ein
tiefsitzendes Leiden handelt, dessen Gistkeime im ganzen Blut und in
allen Teilen des Staatskörpers kreisen und dessen zersetzende
Wirkungen die reinigende Kraft des Krieges wohl zeitweilig
dämpfen, keineswegs aber beseitigen konnte und vielleicht durch den
Druck weiteren Kriegsunglücks zu verheerender Stärke sich steigern
werden.

Theater und Musik
Münchener Konzerte.

Der Bericht über die hinter uns liegende Musikwoche wird zum
Rückblick: Die eigentliche Konzertzeit ist vorbei, was noch kam
und voraussichtlich auch noch kommt, sind Nachzügler, wenn auch
bedeutende Nachzügler. Von den Faktoren des Münchener Musik-
lebens ist die Musikalische Akademie an erster Stelle zu
nennen. Sie hat unter Bruno Walters Leitung in großem
Stil einen groß gedachten Zyklus durchgeführt, der vor allem
Beethovens neun Symphonien brachte und, wie herkömmlich, mit
der Matthäuspassion abschloß.

Man hat gegen das Prinzip der Gastdirigenten, das der
Konzertverein heuer durchführte, Einwände erhoben, die
wir uns durchaus nicht zu eigen machen können. Es war im
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Dirigenten nacheinander kennen zu lernen, wie Steinbach, Abend-
roth, Weingartner, Reger, Hausegger usw. Vielleicht war sogar
diese persönliche Anziehung das einzige Mittel, das Publikum zum
[Spaltenumbruch] Besuche der Konzerte zu bewegen. Jedenfalls verdient der Konzert-
verein für sein redliches Bemühen uneingeschränkte Anerkennung.
Von den vorhin genannten Orchesterleitern ist Steinbach einer
der Faktoren unseres Musiklebens geworden, die wir uns kaum
mehr wegdenken können. Er, der viel mehr als ein Brahms-
Spezialist ist, wird auch in kommenden Jahren nur anregend und
bedeutend wirken. Es wäre unrecht, nicht auch den Namen
Schwickeraths zu nennen, der ebenfalls durchaus mehr ist,
als ein Brahms-Spezialist, wenn auch die zweimalige Aufführung
des Deutschen Requiems -- wovon die letzte erst vor einer Woche
durch die Münchener Ostpreußenhilfe in überaus dankenswerter
Weise angeregt worden war -- die stärksten Eindrücke hinterließ.

Der Konzertgesellschaft für Chorgesang ist für
die Energie, mit der sie unter den schwierigsten Verhältnissen das
Requiem und gar noch Bachs Hohe Messe aufführte, nur zu
danken. Die Volkssymphoniekonzerte, meist unter
Prills Leitung, wurden im herkömmlichen Rahmen durchgeführt,
wenn auch der Besuch stark reduziert war; desto anerkennenswerter
war es, daß man sie nicht unterbrach.

Was die Solistenabende betrifft, so waren die hinter uns
liegenden Monate vorbildlich in bezug auf die Anzahl. Den ein-
zelnen Künstlern kam es sehr zugut, daß nicht jeden Tag durch-
schnittlich zwei bis drei Konzerte trafen; auch der Wegfall des
Karnevals wurde in diesem Sinne als angenehm empfunden. Von
derartigen Veranstaltungen der letzten Zeit ist neben Robert
Kothe, dessen Verdienste um das Wiedererwachen des echten
deutschen Lautenliedes gar nicht hoch genug angeschlagen werden
können, vor allem Ansorge zu nennen, der durch den Vortrag
von vier herrlichen Sonaten Beethovens sich wieder als jener geistig
wie technisch gleich bedeutende Klavierspieler zeigte, als welchen
wir ihn im Oktober 1901 kennen gelernt haben.

Kunst und Literatur
Krieg und Geist.

Unter diesem Titel finden wir im letzten Hefte der "Süd-
deutschen Monatshefte
" nachstehende höchst beachtenswerte
Betrachtungen:

"Man mag über die Frage, ob der Krieg von Einfluß auf den
Gang der Kulturentwicklung sei, nachdenken, soviel man will: nichts
kommt dabei heraus, aber auch gar nichts. Die hohen Zeiten der
Kunst fallen mit Zeiten ununterbrochener Kriege zusammen und mit
solchen ununterbrochenen Friedens, mit Zeiten der Tyrannei und
der Reaktion. Wer von dem Aestheten- und Literatenquark über
Krieg und Kunst zu Jakob Burckhardts Weltgeschichtlichen Betrach-
tungen flieht, wird durch jede Zeile dieses Buches weiser, aber durch
keine über die Frage Krieg und Geist klüger. Die Kultur bedarf
beschleunigender Einflüsse nicht minder als verlangsamender. Sie
braucht Unruhe und Ruhe, Freiheit und Druck, Macht der Ueber-
lieferung, Bruch der Ueberlieferung. Sie braucht die vielen und
den einzigen. Wenn wir sagen: Ursache, Wirkung, Gegenwirkung,
Nachwirkung, Begleiterscheinung, Förderung, Hemmung, Einfluß,
so mag das für ein abgegrenztes, einzelnes Gebiet gelten, aber nicht
für das Verhältnis von Kunst und Staat oder gar das von Geist
und Krieg. Wir wissen nichts davon und werden in alle Ewigkeit
nichts davon wissen. Die Jahrhunderte widersprechen sich, eine
Blütezeit widerlegt die andere, der Geist aber wehet, wo und wann
er will. "Eine Nation," sagt Burckhardt, "will vor allem Macht.
Das kleinstaatliche Dasein wird wie eine bisherige Schande per-
horreßiert. Man will nur zu etwas Großem gehören und verrät
dabei deutlich, daß die Macht das erste, die Kultur höchstens ein ganz
sekundäres Ziel ist." Wie zum Trost fügte er hinzu. "Aber wer
die Macht will, -- vielleicht sind beide blinde Werkzeuge eines
dritten, noch Unbekannten."

Die Zeit nach Siebzig aber, die vielgescholtene, ist nicht nur
besser als ihr Ruf, sie ist ausgezeichnet, und wir alle müßten auf
den Knien danken, wenn für unsere Dichtung ein solches Zeit-
alter aufglänzte wie die Jahre zwischen Siebzig und Ende Achtzig.
Wir verdanken dieser Zeit das Allerbeste unseres Besitzes: alle
großen Erzählungen von Conrad Ferdinand Meyer, die stärksten
Novellen von Heyse und Storm; von Keller Band II der "Leute
von Seldwyla", die "Züricher Novellen" und das "Sinngedicht";
Fontanes "Vor dem Sturm", und die drei großen Romane der

Allgemeine Zeitung 8. Mai 1915.
[Spaltenumbruch] werte — ſehr ſchwach ausgebildet. Man vergleiche die reiche Saat
ſtaatlicher Entwicklungsgedanken, wie ſie Deutſchlands geiſtige
Führer, ein Fichte, Schleiermacher, Arndt, Schelling, ausgeſtreut
haben, mit der Dürre ähnlicher Ideen, wie ſie den Briten von ihren
Vorkämpfern politiſcher Macht als intellektuelle Nahrung vorgeſetzt
worden ſind, und man ſieht in den tiefen Abgrund, der auch hier
beide Nationen trennt. Dort die Erkenntnis des Weſens des Staats
in ſeinen höchſten kulturethiſchen, ja tranſzendentalen Auswirkungen
und ſeine Verherrlichung als „eine eigentümliche Geſtaltung des
göttlichen und geiſtlichen Lebens, an die ſich alles Wirken des Men-
ſchen anſchließen müſſe“, jenſeits des Kanals das Beharren beim
geſellſchaftlichen Atomismus und bei den mancheſterlichen Nützlich-
keitsprinzipien: „Der Staat für das Individuum!“

Damit iſt ſchon klar ins Licht geſtellt, wie und weshalb nicht nur
der Arbeiterſtand, ſondern die ganze bürgerliche Geſellſchaft Groß-
britanniens eine ganz andere Stellung zu dem Krieg und ſeinen
Problemen einnimmt als das deutſche Volk. Dank der allgemeinen
Wehrpflicht und dank einer ethiſch tiefer verankerten vaterländiſchen
und ſtaatsbürgerlichen Erziehung weiß oder fühlt doch triebhaft bei
uns jeder, der Höchſt- wie der Niedrigſtgeſtellte, daß es ſich um Sein
oder Nichtſein unſerer Nation und ihrer Zukunftsgröße handelt, er-
achtet es als ſelbſtverſtändliche Pflicht, dafür Blut und Gut hinzu-
geben, und dieſer Idealismus hat unſerem Kampf eine wunderbare,
unbeſiegbare Schwungkraft gegeben. In England, das gewohnt iſt,
ſeine Kriege mit Söldnerheeren durchzufechten, fehlt ſchon die Pfahl-
wurzel militäriſcher Zucht für den Auftrieb einer ſolchen Begeiſte-
rung; dabei hat die ſeit zehn Jahren das Steuer führende liberale
Regierung alles getan, um durch das Umbuhlen der Volksleidenſchaf-
ten zugunſten der parteipolitiſchen Geſchäftsmache Stein um Stein
aus dem Fundament der autoritären Staatsidee ausbrechen und ſo
jenes Uebel rückgratſchwacher Vaterlandsmoral erſt recht ſich aus-
wuchern zu laſſen. Hätten die Kriegserfolge den Verheißungen der
Miniſter entſprochen, ſo wäre man natürlich bereit geweſen, über
dieſe Kurzfichtigkeit und Torheit an leitender Stelle hinwegzuſehen,
ja hätte ihr als Schrittmacherin echten Demokratismus Lorbeeren ge-
ſtreut. Jetzt werden umgekehrt ein Asquith, ein Grey, ein Churchill
zu Sündenböcken für die Mißerfolge gemacht, die ſchließlich doch
weit mehr als Wirkungen perſönlicher Ungeſchicklichkeit natürliche
Rückſchläge des ganzen herrſchenden politiſchen Syſtems, ſeiner
ideellen und ſittlichen Entwicklungsgründe und Entartung ſind. Die
„Daily News“ ſpottete gewiß nicht ohne Recht, wenn ſie jüngſt an
die Tories die Frage richtete, ob ſie wirklich von dem Wunſch des
Landes überzeugt ſeien, daß für Asquith Bonar Law, für Lloyd
George Chamberlain und für Churchill Lord Beresford in Miniſter-
würden eingeſetzt würden. Tatſächlich iſt der unabweisliche Schluß
aus der ganzen Berwirrung der innerpolitiſchen Lage Englands der,
daß es ſich nicht um ein vorübergehendes Fieber, ſondern um ein
tiefſitzendes Leiden handelt, deſſen Giſtkeime im ganzen Blut und in
allen Teilen des Staatskörpers kreiſen und deſſen zerſetzende
Wirkungen die reinigende Kraft des Krieges wohl zeitweilig
dämpfen, keineswegs aber beſeitigen konnte und vielleicht durch den
Druck weiteren Kriegsunglücks zu verheerender Stärke ſich ſteigern
werden.

Theater und Muſik
Münchener Konzerte.

Der Bericht über die hinter uns liegende Muſikwoche wird zum
Rückblick: Die eigentliche Konzertzeit iſt vorbei, was noch kam
und vorausſichtlich auch noch kommt, ſind Nachzügler, wenn auch
bedeutende Nachzügler. Von den Faktoren des Münchener Muſik-
lebens iſt die Muſikaliſche Akademie an erſter Stelle zu
nennen. Sie hat unter Bruno Walters Leitung in großem
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Beethovens neun Symphonien brachte und, wie herkömmlich, mit
der Matthäuspaſſion abſchloß.

Man hat gegen das Prinzip der Gaſtdirigenten, das der
Konzertverein heuer durchführte, Einwände erhoben, die
wir uns durchaus nicht zu eigen machen können. Es war im
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Dirigenten nacheinander kennen zu lernen, wie Steinbach, Abend-
roth, Weingartner, Reger, Hausegger uſw. Vielleicht war ſogar
dieſe perſönliche Anziehung das einzige Mittel, das Publikum zum
[Spaltenumbruch] Beſuche der Konzerte zu bewegen. Jedenfalls verdient der Konzert-
verein für ſein redliches Bemühen uneingeſchränkte Anerkennung.
Von den vorhin genannten Orcheſterleitern iſt Steinbach einer
der Faktoren unſeres Muſiklebens geworden, die wir uns kaum
mehr wegdenken können. Er, der viel mehr als ein Brahms-
Spezialiſt iſt, wird auch in kommenden Jahren nur anregend und
bedeutend wirken. Es wäre unrecht, nicht auch den Namen
Schwickeraths zu nennen, der ebenfalls durchaus mehr iſt,
als ein Brahms-Spezialiſt, wenn auch die zweimalige Aufführung
des Deutſchen Requiems — wovon die letzte erſt vor einer Woche
durch die Münchener Oſtpreußenhilfe in überaus dankenswerter
Weiſe angeregt worden war — die ſtärkſten Eindrücke hinterließ.

Der Konzertgeſellſchaft für Chorgeſang iſt für
die Energie, mit der ſie unter den ſchwierigſten Verhältniſſen das
Requiem und gar noch Bachs Hohe Meſſe aufführte, nur zu
danken. Die Volksſymphoniekonzerte, meiſt unter
Prills Leitung, wurden im herkömmlichen Rahmen durchgeführt,
wenn auch der Beſuch ſtark reduziert war; deſto anerkennenswerter
war es, daß man ſie nicht unterbrach.

Was die Soliſtenabende betrifft, ſo waren die hinter uns
liegenden Monate vorbildlich in bezug auf die Anzahl. Den ein-
zelnen Künſtlern kam es ſehr zugut, daß nicht jeden Tag durch-
ſchnittlich zwei bis drei Konzerte trafen; auch der Wegfall des
Karnevals wurde in dieſem Sinne als angenehm empfunden. Von
derartigen Veranſtaltungen der letzten Zeit iſt neben Robert
Kothe, deſſen Verdienſte um das Wiedererwachen des echten
deutſchen Lautenliedes gar nicht hoch genug angeſchlagen werden
können, vor allem Anſorge zu nennen, der durch den Vortrag
von vier herrlichen Sonaten Beethovens ſich wieder als jener geiſtig
wie techniſch gleich bedeutende Klavierſpieler zeigte, als welchen
wir ihn im Oktober 1901 kennen gelernt haben.

Kunſt und Literatur
Krieg und Geiſt.

Unter dieſem Titel finden wir im letzten Hefte der „Süd-
deutſchen Monatshefte
“ nachſtehende höchſt beachtenswerte
Betrachtungen:

„Man mag über die Frage, ob der Krieg von Einfluß auf den
Gang der Kulturentwicklung ſei, nachdenken, ſoviel man will: nichts
kommt dabei heraus, aber auch gar nichts. Die hohen Zeiten der
Kunſt fallen mit Zeiten ununterbrochener Kriege zuſammen und mit
ſolchen ununterbrochenen Friedens, mit Zeiten der Tyrannei und
der Reaktion. Wer von dem Aeſtheten- und Literatenquark über
Krieg und Kunſt zu Jakob Burckhardts Weltgeſchichtlichen Betrach-
tungen flieht, wird durch jede Zeile dieſes Buches weiſer, aber durch
keine über die Frage Krieg und Geiſt klüger. Die Kultur bedarf
beſchleunigender Einflüſſe nicht minder als verlangſamender. Sie
braucht Unruhe und Ruhe, Freiheit und Druck, Macht der Ueber-
lieferung, Bruch der Ueberlieferung. Sie braucht die vielen und
den einzigen. Wenn wir ſagen: Urſache, Wirkung, Gegenwirkung,
Nachwirkung, Begleiterſcheinung, Förderung, Hemmung, Einfluß,
ſo mag das für ein abgegrenztes, einzelnes Gebiet gelten, aber nicht
für das Verhältnis von Kunſt und Staat oder gar das von Geiſt
und Krieg. Wir wiſſen nichts davon und werden in alle Ewigkeit
nichts davon wiſſen. Die Jahrhunderte widerſprechen ſich, eine
Blütezeit widerlegt die andere, der Geiſt aber wehet, wo und wann
er will. „Eine Nation,“ ſagt Burckhardt, „will vor allem Macht.
Das kleinſtaatliche Daſein wird wie eine bisherige Schande per-
horreſziert. Man will nur zu etwas Großem gehören und verrät
dabei deutlich, daß die Macht das erſte, die Kultur höchſtens ein ganz
ſekundäres Ziel iſt.“ Wie zum Troſt fügte er hinzu. „Aber wer
die Macht will, — vielleicht ſind beide blinde Werkzeuge eines
dritten, noch Unbekannten.“

Die Zeit nach Siebzig aber, die vielgeſcholtene, iſt nicht nur
beſſer als ihr Ruf, ſie iſt ausgezeichnet, und wir alle müßten auf
den Knien danken, wenn für unſere Dichtung ein ſolches Zeit-
alter aufglänzte wie die Jahre zwiſchen Siebzig und Ende Achtzig.
Wir verdanken dieſer Zeit das Allerbeſte unſeres Beſitzes: alle
großen Erzählungen von Conrad Ferdinand Meyer, die ſtärkſten
Novellen von Heyſe und Storm; von Keller Band II der „Leute
von Seldwyla“, die „Züricher Novellen“ und das „Sinngedicht“;
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[Seite 284.[284]/0010] Allgemeine Zeitung 8. Mai 1915. Theater und Muſik Kunſt und Literatur werte — ſehr ſchwach ausgebildet. Man vergleiche die reiche Saat ſtaatlicher Entwicklungsgedanken, wie ſie Deutſchlands geiſtige Führer, ein Fichte, Schleiermacher, Arndt, Schelling, ausgeſtreut haben, mit der Dürre ähnlicher Ideen, wie ſie den Briten von ihren Vorkämpfern politiſcher Macht als intellektuelle Nahrung vorgeſetzt worden ſind, und man ſieht in den tiefen Abgrund, der auch hier beide Nationen trennt. Dort die Erkenntnis des Weſens des Staats in ſeinen höchſten kulturethiſchen, ja tranſzendentalen Auswirkungen und ſeine Verherrlichung als „eine eigentümliche Geſtaltung des göttlichen und geiſtlichen Lebens, an die ſich alles Wirken des Men- ſchen anſchließen müſſe“, jenſeits des Kanals das Beharren beim geſellſchaftlichen Atomismus und bei den mancheſterlichen Nützlich- keitsprinzipien: „Der Staat für das Individuum!“ Damit iſt ſchon klar ins Licht geſtellt, wie und weshalb nicht nur der Arbeiterſtand, ſondern die ganze bürgerliche Geſellſchaft Groß- britanniens eine ganz andere Stellung zu dem Krieg und ſeinen Problemen einnimmt als das deutſche Volk. Dank der allgemeinen Wehrpflicht und dank einer ethiſch tiefer verankerten vaterländiſchen und ſtaatsbürgerlichen Erziehung weiß oder fühlt doch triebhaft bei uns jeder, der Höchſt- wie der Niedrigſtgeſtellte, daß es ſich um Sein oder Nichtſein unſerer Nation und ihrer Zukunftsgröße handelt, er- achtet es als ſelbſtverſtändliche Pflicht, dafür Blut und Gut hinzu- geben, und dieſer Idealismus hat unſerem Kampf eine wunderbare, unbeſiegbare Schwungkraft gegeben. In England, das gewohnt iſt, ſeine Kriege mit Söldnerheeren durchzufechten, fehlt ſchon die Pfahl- wurzel militäriſcher Zucht für den Auftrieb einer ſolchen Begeiſte- rung; dabei hat die ſeit zehn Jahren das Steuer führende liberale Regierung alles getan, um durch das Umbuhlen der Volksleidenſchaf- ten zugunſten der parteipolitiſchen Geſchäftsmache Stein um Stein aus dem Fundament der autoritären Staatsidee ausbrechen und ſo jenes Uebel rückgratſchwacher Vaterlandsmoral erſt recht ſich aus- wuchern zu laſſen. Hätten die Kriegserfolge den Verheißungen der Miniſter entſprochen, ſo wäre man natürlich bereit geweſen, über dieſe Kurzfichtigkeit und Torheit an leitender Stelle hinwegzuſehen, ja hätte ihr als Schrittmacherin echten Demokratismus Lorbeeren ge- ſtreut. Jetzt werden umgekehrt ein Asquith, ein Grey, ein Churchill zu Sündenböcken für die Mißerfolge gemacht, die ſchließlich doch weit mehr als Wirkungen perſönlicher Ungeſchicklichkeit natürliche Rückſchläge des ganzen herrſchenden politiſchen Syſtems, ſeiner ideellen und ſittlichen Entwicklungsgründe und Entartung ſind. Die „Daily News“ ſpottete gewiß nicht ohne Recht, wenn ſie jüngſt an die Tories die Frage richtete, ob ſie wirklich von dem Wunſch des Landes überzeugt ſeien, daß für Asquith Bonar Law, für Lloyd George Chamberlain und für Churchill Lord Beresford in Miniſter- würden eingeſetzt würden. Tatſächlich iſt der unabweisliche Schluß aus der ganzen Berwirrung der innerpolitiſchen Lage Englands der, daß es ſich nicht um ein vorübergehendes Fieber, ſondern um ein tiefſitzendes Leiden handelt, deſſen Giſtkeime im ganzen Blut und in allen Teilen des Staatskörpers kreiſen und deſſen zerſetzende Wirkungen die reinigende Kraft des Krieges wohl zeitweilig dämpfen, keineswegs aber beſeitigen konnte und vielleicht durch den Druck weiteren Kriegsunglücks zu verheerender Stärke ſich ſteigern werden. Dr. Frhr. v. Mackay. Münchener Konzerte. Der Bericht über die hinter uns liegende Muſikwoche wird zum Rückblick: Die eigentliche Konzertzeit iſt vorbei, was noch kam und vorausſichtlich auch noch kommt, ſind Nachzügler, wenn auch bedeutende Nachzügler. Von den Faktoren des Münchener Muſik- lebens iſt die Muſikaliſche Akademie an erſter Stelle zu nennen. Sie hat unter Bruno Walters Leitung in großem Stil einen groß gedachten Zyklus durchgeführt, der vor allem Beethovens neun Symphonien brachte und, wie herkömmlich, mit der Matthäuspaſſion abſchloß. Man hat gegen das Prinzip der Gaſtdirigenten, das der Konzertverein heuer durchführte, Einwände erhoben, die wir uns durchaus nicht zu eigen machen können. Es war im Gegenteil von höchſtem Intereſſe, eine Anzahl ſo bedeutender Dirigenten nacheinander kennen zu lernen, wie Steinbach, Abend- roth, Weingartner, Reger, Hausegger uſw. Vielleicht war ſogar dieſe perſönliche Anziehung das einzige Mittel, das Publikum zum Beſuche der Konzerte zu bewegen. Jedenfalls verdient der Konzert- verein für ſein redliches Bemühen uneingeſchränkte Anerkennung. Von den vorhin genannten Orcheſterleitern iſt Steinbach einer der Faktoren unſeres Muſiklebens geworden, die wir uns kaum mehr wegdenken können. Er, der viel mehr als ein Brahms- Spezialiſt iſt, wird auch in kommenden Jahren nur anregend und bedeutend wirken. Es wäre unrecht, nicht auch den Namen Schwickeraths zu nennen, der ebenfalls durchaus mehr iſt, als ein Brahms-Spezialiſt, wenn auch die zweimalige Aufführung des Deutſchen Requiems — wovon die letzte erſt vor einer Woche durch die Münchener Oſtpreußenhilfe in überaus dankenswerter Weiſe angeregt worden war — die ſtärkſten Eindrücke hinterließ. Der Konzertgeſellſchaft für Chorgeſang iſt für die Energie, mit der ſie unter den ſchwierigſten Verhältniſſen das Requiem und gar noch Bachs Hohe Meſſe aufführte, nur zu danken. Die Volksſymphoniekonzerte, meiſt unter Prills Leitung, wurden im herkömmlichen Rahmen durchgeführt, wenn auch der Beſuch ſtark reduziert war; deſto anerkennenswerter war es, daß man ſie nicht unterbrach. Was die Soliſtenabende betrifft, ſo waren die hinter uns liegenden Monate vorbildlich in bezug auf die Anzahl. Den ein- zelnen Künſtlern kam es ſehr zugut, daß nicht jeden Tag durch- ſchnittlich zwei bis drei Konzerte trafen; auch der Wegfall des Karnevals wurde in dieſem Sinne als angenehm empfunden. Von derartigen Veranſtaltungen der letzten Zeit iſt neben Robert Kothe, deſſen Verdienſte um das Wiedererwachen des echten deutſchen Lautenliedes gar nicht hoch genug angeſchlagen werden können, vor allem Anſorge zu nennen, der durch den Vortrag von vier herrlichen Sonaten Beethovens ſich wieder als jener geiſtig wie techniſch gleich bedeutende Klavierſpieler zeigte, als welchen wir ihn im Oktober 1901 kennen gelernt haben. H. Krieg und Geiſt. Unter dieſem Titel finden wir im letzten Hefte der „Süd- deutſchen Monatshefte“ nachſtehende höchſt beachtenswerte Betrachtungen: „Man mag über die Frage, ob der Krieg von Einfluß auf den Gang der Kulturentwicklung ſei, nachdenken, ſoviel man will: nichts kommt dabei heraus, aber auch gar nichts. Die hohen Zeiten der Kunſt fallen mit Zeiten ununterbrochener Kriege zuſammen und mit ſolchen ununterbrochenen Friedens, mit Zeiten der Tyrannei und der Reaktion. Wer von dem Aeſtheten- und Literatenquark über Krieg und Kunſt zu Jakob Burckhardts Weltgeſchichtlichen Betrach- tungen flieht, wird durch jede Zeile dieſes Buches weiſer, aber durch keine über die Frage Krieg und Geiſt klüger. Die Kultur bedarf beſchleunigender Einflüſſe nicht minder als verlangſamender. Sie braucht Unruhe und Ruhe, Freiheit und Druck, Macht der Ueber- lieferung, Bruch der Ueberlieferung. Sie braucht die vielen und den einzigen. Wenn wir ſagen: Urſache, Wirkung, Gegenwirkung, Nachwirkung, Begleiterſcheinung, Förderung, Hemmung, Einfluß, ſo mag das für ein abgegrenztes, einzelnes Gebiet gelten, aber nicht für das Verhältnis von Kunſt und Staat oder gar das von Geiſt und Krieg. Wir wiſſen nichts davon und werden in alle Ewigkeit nichts davon wiſſen. Die Jahrhunderte widerſprechen ſich, eine Blütezeit widerlegt die andere, der Geiſt aber wehet, wo und wann er will. „Eine Nation,“ ſagt Burckhardt, „will vor allem Macht. Das kleinſtaatliche Daſein wird wie eine bisherige Schande per- horreſziert. Man will nur zu etwas Großem gehören und verrät dabei deutlich, daß die Macht das erſte, die Kultur höchſtens ein ganz ſekundäres Ziel iſt.“ Wie zum Troſt fügte er hinzu. „Aber wer die Macht will, — vielleicht ſind beide blinde Werkzeuge eines dritten, noch Unbekannten.“ Die Zeit nach Siebzig aber, die vielgeſcholtene, iſt nicht nur beſſer als ihr Ruf, ſie iſt ausgezeichnet, und wir alle müßten auf den Knien danken, wenn für unſere Dichtung ein ſolches Zeit- alter aufglänzte wie die Jahre zwiſchen Siebzig und Ende Achtzig. Wir verdanken dieſer Zeit das Allerbeſte unſeres Beſitzes: alle großen Erzählungen von Conrad Ferdinand Meyer, die ſtärkſten Novellen von Heyſe und Storm; von Keller Band II der „Leute von Seldwyla“, die „Züricher Novellen“ und das „Sinngedicht“; Fontanes „Vor dem Sturm“, und die drei großen Romane der

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 19, 8. Mai 1915, S. Seite 284.[284]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine19_1915/10>, abgerufen am 09.06.2024.