Allgemeine Zeitung, Nr. 168, 16. Juni 1860.Sonnabend 16 Junius 1860.Beilage zu Nr. 168 der Allg. Zeitung. Uebersicht. Die Gräfin Dora d'Istria über die Frauen im Orient. (II. Fortsetzung und Schluß.) -- Deutschland. (München: Die Leipziger Musikzeitung. Wien: Aus dem Reichsrath.) -- Schweiz. (Genf: Die beiden ersten Tage des Schützenfests. Aus den Reden Carterets und Fazy's. Waadtländer De- putationen.) -- Afrika. (Neue Post von der Westküste.) -- China. (Die Rüstungen auf Hongkong.) Neueste Posten. Frankfurt. (Bundestagssitzung. Die Ver- ständigung zwischen Oesterreich und Preußen.) -- München. (Ankunft Ihrer Maj. der Königin. Fünfzigjähriges Dienstjubiläum des Prinzen Karl.) -- Stuttgart. (Abreise Sr. Maj. des Königs nach Baden.) -- Baden. (Ankunft des Prinz-Regenten.) -- Kassel. (Einschreiten gegen die städti- schen Behörden.) -- Hannover. (Angeblicher Ministerwechsel. Be- vorstehender Schritt der braunschweigischen Stände. Schluß des Landtags.) -- Berlin. (Tagesbericht.) -- Wien. (Kaiserliche Verordnung.) -- Genf. (Die Franzosen in Nordsavoyen. Das Schützenfest.) -- London. (Aus Reapel.) -- Malta. (Flottenbewegung.) -- Paris. (Inhalt der Tages- blätter. Die Annexionsfeier.) -- Marseille. (Aus der Levante.) -- Turin. (Aus Sicilien. Die Annexation.) -- Konstantinopel. (Amnestie Graf Dudzeele.) Telegraphische Berichte. Frankfurt a. M., 15 Jun. Die Könige von Han- * Frankfurt a. M., 15 Jun. Oesterr. 5proc. National-Anleihe 60 3/8 ; * Wien, 15 Jun. Oesterr. 5proc. National-Anleihe 79.30; 5proc. Metall. * London, 14 Jun. 3proc. Consols 93 5/8 . Weitere Depeschen s. Neueste Posten.Die Gräfin Dora d'Istria über die Fraueu im Orient. Les femmes en Orient, par Madame la Comtesse Dora d'Istria, 2 vol., pag. VII. 1008. Zurich 1860. II. (Fortsetzung und Schluß.) ++ In der Absicht Mit- und Nachwelt zu täuschen ein ganzes Jahr- Wollte man bloß aus den beiden von Athen und Nauplia datirten Brie- Wir bitten die edle Parganiotin voraus um Verzeihung, wenn wir ihre In Nauplia findet Madame la Comtesse den Peloponnes ebenfalls Die Geschichte nennt sogar die Slavinenstämme die sich auf beiden Diese Aufstellungen als das zu bezeichnen was sie eigentlich sind dürfen *) Speciell über Attika sind bekanntlich die meisten Gelehrten anderer Ansicht
Wir citiren nur Dr. W. Bischer, Professor zu Basel, der in der neuern Zeit Griechenland bereist hat, und in Bezug darauf Seite 54 seines Werkes (Erinnerungen und Eindrücke aus Griechenland) sagt: "So weit wir zurückschauen können, hat Attika seine Bewohner nie ganz verändert, nie sind sie von Eroberern vertrieben oder unterjocht worden, was man schon im Alterthum dem verhältnißmäßig wenig fruchtbaren Boden zuschrieb, welcher Eroberer nicht anlockte. Aehnlich lauten die Urtheile von Thiersch, Roß und andern. Wir können daher das unbedingte Votum des "Fragmentisten," der die Slavisirung fast des ganzen hellenischen Volkes an- nimmt, natürlich nicht unterschreiben, sondern überlassen das dem Strett der Fachgelehrten. Die Bevölkerung die gegenwärtig Griechenland bewohnt, mag sie nun mehr slavisches oder mehr altgriechisches Blut in ihren Adern haben, strebt jedenfalls empor, was sie wesentlich von den trägen, apathischen Türken unterscheidet, und immer unterschied. Es ist das Bewegliche dem Todten ge- genüber. Schon die wissenschaftlichen Anstalten, die von den Griechen aller Länder unterstützt werden, zeigen daß Leben und Geist in diesem Volke ist, während kein Gras mehr wächst wo der Türke den Fuß hinsetzt. Dieser Borzug wird ihnen bleiben, wie auch Geschichte und Naturforschung zuletzt jene Frage entscheiden mögen. Der Fragmentist hat hier die gewichtigsten sei- ner Gründe für die Slavisirung der Hellenen zusammengestellt, aber mit all diesen Gründen läßt sich doch das sichtbare Aufblühen des griechischen Staats, das Wachsen Athens (von 10,000 Einwohnern vor der Revolution bis gegen 40,000 jetzt) so wie aller Städte und Inseln nicht bestreiten. Und das hat ganz Griechenland gethan, nicht bloß sein König, dem es getreu blieb in der größten Versuchung, in die es die englische Blokade unter Palmerston, und die verschiedenen, vom Ausland angestisteten Aufftände gebracht. Wo hat man dergleichen in den rein slavischen Ländern von Bosnien, Serbien, Montenegro etc. erlebt? Möge es nun der griechische Himmel oder die Reste des althellenischen Bluts seyn die diese glückliche Mischung des griechischen Blutes hervorgebracht haben -- genug sie besteht, und wird bestehen, wenn die Türken längst aus Europa vertrieben seyn werden. R. d. A. Z. Sonnabend 16 Junius 1860.Beilage zu Nr. 168 der Allg. Zeitung. Ueberſicht. Die Gräfin Dora d’Iſtria über die Frauen im Orient. (II. Fortſetzung und Schluß.) — Deutſchland. (München: Die Leipziger Muſikzeitung. Wien: Aus dem Reichsrath.) — Schweiz. (Genf: Die beiden erſten Tage des Schützenfeſts. Aus den Reden Carterets und Fazy’s. Waadtländer De- putationen.) — Afrika. (Neue Poſt von der Weſtküſte.) — China. (Die Rüſtungen auf Hongkong.) Neueſte Poſten. Frankfurt. (Bundestagsſitzung. Die Ver- ſtändigung zwiſchen Oeſterreich und Preußen.) — München. (Ankunft Ihrer Maj. der Königin. Fünfzigjähriges Dienſtjubiläum des Prinzen Karl.) — Stuttgart. (Abreiſe Sr. Maj. des Königs nach Baden.) — Baden. (Ankunft des Prinz-Regenten.) — Kaſſel. (Einſchreiten gegen die ſtädti- ſchen Behörden.) — Hannover. (Angeblicher Miniſterwechſel. Be- vorſtehender Schritt der braunſchweigiſchen Stände. Schluß des Landtags.) — Berlin. (Tagesbericht.) — Wien. (Kaiſerliche Verordnung.) — Genf. (Die Franzoſen in Nordſavoyen. Das Schützenfeſt.) — London. (Aus Reapel.) — Malta. (Flottenbewegung.) — Paris. (Inhalt der Tages- blätter. Die Annexionsfeier.) — Marſeille. (Aus der Levante.) — Turin. (Aus Sicilien. Die Annexation.) — Konſtantinopel. (Amneſtie Graf Dudzeele.) Telegraphiſche Berichte. ⸫ Frankfurt a. M., 15 Jun. Die Könige von Han- * Frankfurt a. M., 15 Jun. Oeſterr. 5proc. National-Anleihe 60⅜; • Wien, 15 Jun. Oeſterr. 5proc. National-Anleihe 79.30; 5proc. Metall. * London, 14 Jun. 3proc. Conſols 93⅝. Weitere Depeſchen ſ. Neueſte Poſten.Die Gräfin Dora d’Iſtria über die Fraueu im Orient. Les femmes en Orient, par Madame la Comtesse Dora d’Istria, 2 vol., pag. VII. 1008. Zurich 1860. II. (Fortſetzung und Schluß.) ‡ In der Abſicht Mit- und Nachwelt zu täuſchen ein ganzes Jahr- Wollte man bloß aus den beiden von Athen und Nauplia datirten Brie- Wir bitten die edle Parganiotin voraus um Verzeihung, wenn wir ihre In Nauplia findet Madame la Comteſſe den Peloponnes ebenfalls Die Geſchichte nennt ſogar die Slavinenſtämme die ſich auf beiden Dieſe Aufſtellungen als das zu bezeichnen was ſie eigentlich ſind dürfen *) Speciell über Attika ſind bekanntlich die meiſten Gelehrten anderer Anſicht
Wir citiren nur Dr. W. Biſcher, Profeſſor zu Baſel, der in der neuern Zeit Griechenland bereist hat, und in Bezug darauf Seite 54 ſeines Werkes (Erinnerungen und Eindrücke aus Griechenland) ſagt: „So weit wir zurückſchauen können, hat Attika ſeine Bewohner nie ganz verändert, nie ſind ſie von Eroberern vertrieben oder unterjocht worden, was man ſchon im Alterthum dem verhältnißmäßig wenig fruchtbaren Boden zuſchrieb, welcher Eroberer nicht anlockte. Aehnlich lauten die Urtheile von Thierſch, Roß und andern. Wir können daher das unbedingte Votum des „Fragmentiſten,“ der die Slaviſirung faſt des ganzen helleniſchen Volkes an- nimmt, natürlich nicht unterſchreiben, ſondern überlaſſen das dem Strett der Fachgelehrten. Die Bevölkerung die gegenwärtig Griechenland bewohnt, mag ſie nun mehr ſlaviſches oder mehr altgriechiſches Blut in ihren Adern haben, ſtrebt jedenfalls empor, was ſie weſentlich von den trägen, apathiſchen Türken unterſcheidet, und immer unterſchied. Es iſt das Bewegliche dem Todten ge- genüber. Schon die wiſſenſchaftlichen Anſtalten, die von den Griechen aller Länder unterſtützt werden, zeigen daß Leben und Geiſt in dieſem Volke iſt, während kein Gras mehr wächst wo der Türke den Fuß hinſetzt. Dieſer Borzug wird ihnen bleiben, wie auch Geſchichte und Naturforſchung zuletzt jene Frage entſcheiden mögen. Der Fragmentiſt hat hier die gewichtigſten ſei- ner Gründe für die Slaviſirung der Hellenen zuſammengeſtellt, aber mit all dieſen Gründen läßt ſich doch das ſichtbare Aufblühen des griechiſchen Staats, das Wachſen Athens (von 10,000 Einwohnern vor der Revolution bis gegen 40,000 jetzt) ſo wie aller Städte und Inſeln nicht beſtreiten. Und das hat ganz Griechenland gethan, nicht bloß ſein König, dem es getreu blieb in der größten Verſuchung, in die es die engliſche Blokade unter Palmerſton, und die verſchiedenen, vom Ausland angeſtiſteten Aufftände gebracht. Wo hat man dergleichen in den rein ſlaviſchen Ländern von Bosnien, Serbien, Montenegro ꝛc. erlebt? Möge es nun der griechiſche Himmel oder die Reſte des althelleniſchen Bluts ſeyn die dieſe glückliche Miſchung des griechiſchen Blutes hervorgebracht haben — genug ſie beſteht, und wird beſtehen, wenn die Türken längſt aus Europa vertrieben ſeyn werden. R. d. A. Z. <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0009"/> <div n="1"> <floatingText> <front> <titlePage type="heading"> <docDate> <hi rendition="#b">Sonnabend</hi> </docDate> <docTitle> <titlePart type="main"> <hi rendition="#b">Beilage zu Nr. 168 der Allg. Zeitung.</hi> </titlePart> </docTitle> </titlePage> <docDate> <hi rendition="#b">16 Junius 1860.</hi> </docDate><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </front><lb/> <cb/> <body> <div type="contents" n="1"> <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#g">Ueberſicht.</hi> </hi> </hi> </head><lb/> <list> <item>Die Gräfin Dora d’Iſtria über die Frauen im Orient. (II. 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Zurich 1860.<lb/> II.</hi><lb/> (Fortſetzung und Schluß.)</head><lb/> <p>‡ In der Abſicht Mit- und Nachwelt zu täuſchen ein ganzes Jahr-<lb/> tauſend, weil es mißliebige Begebenheiten erzählt, aus der Geſchichte des öſt-<lb/> lichen Europa wegzuſtreichen, iſt ein deſperates Spiel, deſſen Folgen ich nicht<lb/> verantworten möchte.</p><lb/> <p>Wollte man bloß aus den beiden von Athen und Nauplia datirten Brie-<lb/> fen urtheilen, ſo wäre Grund zur Beſorgniß vorhanden die edle Gräfin möchte<lb/> trotz ihrer glänzenden Begabung und ihres umfaſſenden Wiſſens von dem ge-<lb/> fährlichen Irrthum nicht unberührt geblieben, ja tiefer als viele ihrer gleich<lb/> hellenomanen Zeitgenoſſen im Schlamm verſunken ſeyn.</p><lb/> <p>Wir bitten die edle Parganiotin voraus um Verzeihung, wenn wir ihre<lb/> Befunde in Attika und im Peloponnes weder gründlich, noch hiſtoriſch wahr,<lb/> noch ihrer Gelehrſamkeit und ihres Ruhms würdig finden, und wenn wir<lb/> uns verwundern wie die geiſtvolle Lobrednerin des helleniſchen Weibes uns<lb/> Europäern hohle Phantaſiegebilde als geſchichtliche Realität zum Beſten<lb/> geben mag. In den heutigen Bewohnern von Attika und Athen erkennt<lb/> die edle Verfaſſerin das reine Blut des witzigen, geiſtreichen, kunſtſinnigen,<lb/> claſſiſch gebildeten und dem Dorismus des Peloponneſes noch heute anti-<lb/> pathiſchen Geſchlechts der Jonier, während heut in Europa doch jedermann<lb/> weiß daß die Bevölkerung der Landſchaft Attika, und zum Theil ſelbſt der<lb/> Stadt Athen, nicht einmal griechiſchredende Byzantiner, noch viel weniger<lb/> „Marathonomachen,“ wie der Idealiſt Perrhäbos will, ſondern ehrbare aus<lb/> der Toskerai eingewanderte und ihre eigene Mutterſprache redende Albaneſen<lb/> ſind, und daß ſich nur in der Stadt Athen in neueſter Zeit eine elegant griechiſch-<lb/> ſprechende, aus allen vier Winden zuſammengewehte, täglich wachſende Be-<lb/> völkerung geſammelt hat, die weder vom Jonismus noch vom Dorismus etwas<lb/> weiß. Die Albaneſen Attika’s ſind wie alle ihre Landsleute ein hartes,<lb/> arbeitsluſtiges, ſparſames und kriegeriſches Geſchlecht, das die Türken liebte,<lb/><cb/> vom Aufſtand nichts wiſſen wollte, und in einigen Ortſchaften ſogar auf die<lb/> griechiſchen Inſurgenten Feuer gegeben hat.<note place="foot" n="*)">Speciell über Attika ſind bekanntlich die meiſten Gelehrten anderer Anſicht<lb/> Wir citiren nur <hi rendition="#aq">Dr.</hi> W. Biſcher, Profeſſor zu Baſel, der in der neuern<lb/> Zeit Griechenland bereist hat, und in Bezug darauf Seite 54 ſeines<lb/> Werkes (Erinnerungen und Eindrücke aus Griechenland) ſagt: „So weit<lb/> wir zurückſchauen können, hat Attika ſeine Bewohner nie ganz verändert,<lb/> nie ſind ſie von Eroberern vertrieben oder unterjocht worden, was man<lb/> ſchon im Alterthum dem verhältnißmäßig wenig fruchtbaren Boden zuſchrieb,<lb/> welcher Eroberer nicht anlockte. Aehnlich lauten die Urtheile von<lb/> Thierſch, Roß und andern. Wir können daher das unbedingte Votum des<lb/> „Fragmentiſten,“ der die Slaviſirung faſt des ganzen helleniſchen Volkes an-<lb/> nimmt, natürlich nicht unterſchreiben, ſondern überlaſſen das dem Strett der<lb/> Fachgelehrten. Die Bevölkerung die gegenwärtig Griechenland bewohnt, mag<lb/> ſie nun mehr ſlaviſches oder mehr altgriechiſches Blut in ihren Adern haben,<lb/> ſtrebt jedenfalls empor, was ſie weſentlich von den trägen, apathiſchen Türken<lb/> unterſcheidet, und immer unterſchied. Es iſt das Bewegliche dem Todten ge-<lb/> genüber. Schon die wiſſenſchaftlichen Anſtalten, die von den Griechen aller<lb/> Länder unterſtützt werden, zeigen daß Leben und Geiſt in dieſem Volke iſt,<lb/> während kein Gras mehr wächst wo der Türke den Fuß hinſetzt. Dieſer<lb/> Borzug wird ihnen bleiben, wie auch Geſchichte und Naturforſchung zuletzt<lb/> jene Frage entſcheiden mögen. Der Fragmentiſt hat hier die gewichtigſten ſei-<lb/> ner Gründe für die Slaviſirung der Hellenen zuſammengeſtellt, aber mit all<lb/> dieſen Gründen läßt ſich doch das ſichtbare Aufblühen des griechiſchen Staats,<lb/> das Wachſen Athens (von 10,000 Einwohnern vor der Revolution bis gegen<lb/> 40,000 jetzt) ſo wie aller Städte und Inſeln nicht beſtreiten. Und das hat<lb/> ganz Griechenland gethan, nicht bloß ſein König, dem es getreu blieb in der<lb/> größten Verſuchung, in die es die engliſche Blokade unter Palmerſton, und die<lb/> verſchiedenen, vom Ausland angeſtiſteten Aufftände gebracht. Wo hat man<lb/> dergleichen in den rein ſlaviſchen Ländern von Bosnien, Serbien, Montenegro ꝛc.<lb/> erlebt? Möge es nun der griechiſche Himmel oder die Reſte des althelleniſchen<lb/> Bluts ſeyn die dieſe glückliche Miſchung des griechiſchen Blutes hervorgebracht<lb/> haben — genug ſie beſteht, und wird beſtehen, wenn die Türken längſt aus<lb/> Europa vertrieben ſeyn werden. R. d. A. Z.</note></p><lb/> <p>In Nauplia findet Madame la Comteſſe den Peloponnes ebenfalls<lb/> noch ganz doriſch, und den Gegenſatz zwiſchen Athen und Sparta noch ganz ſo<lb/> lebendig wie im Alterthum; nur habe ſich das <hi rendition="#aq">ingenium Spartanum</hi> in den<lb/> Taygetus zurückgezogen. Aber eben der Taygetus war zugleich mit Arkadien,<lb/> wie die Byzantiner ſagen, der ſlaviniſirteſte Theil des Peloponneſes, und hat<lb/> ſeinen „ſarmatiſchen“ Habitus länger bewahrt als die übrigen Diſtricte der<lb/> Halbinſel.</p><lb/> <p>Die Geſchichte nennt ſogar die Slavinenſtämme die ſich auf beiden<lb/> Halden des Gebirges niedergelaſſen haben. In Arkadien dagegen war die<lb/> ſcharfſinnige Gräfin ſo glücklich nicht etwa Griechen von Byzanz oder Helle-<lb/> nen des poloponneſiſchen Kriegs, ſondern die antediluvianiſchen Pelasger des<lb/> fabelhaften Königs Lykaon zu finden, in deſſen Palaſt einſt Zeus ein Abend-<lb/> eſſen eingenommen hat. Zur Ehre der Verfaſſerin müſſen wir glauben daß<lb/> ſie vom Peloponnes nur wenig, von Arkadien aber gar nichts geſehen hat,<lb/> und daß ihr Dictum aus der Einbildung und nicht aus redlicher Beobachtung<lb/> gefloſſen iſt.</p><lb/> <p>Dieſe Aufſtellungen als das zu bezeichnen was ſie eigentlich ſind dürfen<lb/> wir, ohne der hochgebornen Gräfin zu mißfallen, in keinem Fall wagen.<lb/> Eine edle Dame ſchulgerecht zu widerlegen und durch unabwehrbare Argu-<lb/> mente zu beängſtigen wäre ungalant, und vielleicht nicht einmal ſchicklich.<lb/> Wir verſagen uns daher dieſes Vergnügen aus Artigkeit, und erlauben uns<lb/> nur die edle Verfaſſerin auf die ganz anders lautenden Nachrichten aufmerk-<lb/> ſam zu machen welche uns ihre Kirchengenoſſen, die griechiſchen Chroniſten<lb/> von Byzanz, über die peloponneſiſchen Zuſtände im Mittelalter hinterlaſſen<lb/> haben. Dieſe helleniſchen Hiſtoriker ſagen ganz unverhohlen und klar: nicht<lb/> bloß Hellas und Epirus, auch der Peloponnes ſey nach Vertilgung der alten<lb/> dünngeſäeten Bevölkerung, mit Ausnahme weniger Küſtenorte, von ſcythiſch-<lb/> redenden Slaven beſetzt geweſen, und zwar ſo dicht und excluſiv daß ſich über<lb/> zweihundert Jahre lang kein griechiſchredender Chriſt, ohne ermordet zu wer-<lb/> den, in das Innere der heidniſchen Halbinſel wagen durfte. Den ſtrengen<lb/> Idealiſten gegenüber, für welche die Geſchichte von Byzanz gar nicht exiſtirt,<lb/> und welche in ihren hiſtoriſchen Concepten von den Zeiten des trojaniſchen<lb/> Kriegs unmittelbar auf König Otto überſpringen, macht die edle Gräfin doch<lb/> eine rühmliche Ausnahme. Das Gewicht der Thatſachen wiegt in ihrem<lb/> Sinn ſo ſchwer, daß ſie, zwar ohne zu ſagen <hi rendition="#g">wann</hi> und <hi rendition="#g">wie,</hi> die Beſetzung<lb/> des Peloponneſes durch die Race der „ſcythiſchen“ Slaven willig eingeſteht.<lb/> Gleichſam als hätte ſich aber die Verfaſſerin durch dieſe Conceſſion ſchon zu<lb/> viel vergeben, läßt ſie die Eindringlinge durch die Kaiſerin St. Irene wieder<lb/> aus dem Lande treiben. (<hi rendition="#aq">I,</hi> S. 352.) In dieſem Satz iſt die ganze Streit-<lb/> frage über die Geſchichte Griechenlands im Mittelalter concentrirt. Wenn<lb/> die Verfaſſerin durch hinreichende, nicht aus der Phantaſie und dem Gefühl,<lb/> ſondern aus den griechiſchen Chroniken von Byzanz geſchöpfte Argumente<lb/> beweiſen kann daß im Peloponnes niemals ein radicaler Bevölkerungswechſel<lb/></p> </div> </div> </body> </floatingText> </div> </body> </text> </TEI> [0009]
Sonnabend Beilage zu Nr. 168 der Allg. Zeitung. 16 Junius 1860.
Ueberſicht.
Die Gräfin Dora d’Iſtria über die Frauen im Orient. (II. Fortſetzung
und Schluß.) — Deutſchland. (München: Die Leipziger Muſikzeitung.
Wien: Aus dem Reichsrath.) — Schweiz. (Genf: Die beiden erſten Tage
des Schützenfeſts. Aus den Reden Carterets und Fazy’s. Waadtländer De-
putationen.) — Afrika. (Neue Poſt von der Weſtküſte.) — China. (Die
Rüſtungen auf Hongkong.)
Neueſte Poſten. Frankfurt. (Bundestagsſitzung. Die Ver-
ſtändigung zwiſchen Oeſterreich und Preußen.) — München. (Ankunft
Ihrer Maj. der Königin. Fünfzigjähriges Dienſtjubiläum des Prinzen Karl.)
— Stuttgart. (Abreiſe Sr. Maj. des Königs nach Baden.) — Baden.
(Ankunft des Prinz-Regenten.) — Kaſſel. (Einſchreiten gegen die ſtädti-
ſchen Behörden.) — Hannover. (Angeblicher Miniſterwechſel. Be-
vorſtehender Schritt der braunſchweigiſchen Stände. Schluß des Landtags.)
— Berlin. (Tagesbericht.) — Wien. (Kaiſerliche Verordnung.) — Genf.
(Die Franzoſen in Nordſavoyen. Das Schützenfeſt.) — London. (Aus
Reapel.) — Malta. (Flottenbewegung.) — Paris. (Inhalt der Tages-
blätter. Die Annexionsfeier.) — Marſeille. (Aus der Levante.) —
Turin. (Aus Sicilien. Die Annexation.) — Konſtantinopel. (Amneſtie
Graf Dudzeele.)
Telegraphiſche Berichte.
⸫ Frankfurt a. M., 15 Jun. Die Könige von Han-
nover und Sachſen ſind heute Vormittags hier angelangt, und mit
nächſtem Bahnzug nach Baden-Baden abgereist.
* Frankfurt a. M., 15 Jun. Oeſterr. 5proc. National-Anleihe 60⅜;
5proc. Metall. 52½; Bankactien 784; Lotterie-Anlehenslooſe von 1854 75¼;
von 1858 95½; von 1860 75; Ludwigshaſen-Bexbacher E.-B.-A. 126; bayer.
Oſtbahn-Actien 101⅛; voll eingezahlt 101¾; öſterr. Credit-Mobilier-Actien
173. Wechſelcurſe: Paris 93; London 117; Wien 91 ſehr günſtig.
• Wien, 15 Jun. Oeſterr. 5proc. National-Anleihe 79.30; 5proc. Metall.
69.40; Lotterie-Anlehenslooſe von 1854 99.50; von 1858 106.25; von 1860
95.50; Bankactien 861; öſterr. Credit-Mobilieractien 187.80; Donaudampfſchiff-
fahrtsactien 441; Staatsbahuactien 266; Norbbahnactien 188.40. Wechſel-
eurſe: Augsburg 3 Monat 109.75; London 127.25.
* London, 14 Jun. 3proc. Conſols 93⅝.
Weitere Depeſchen ſ. Neueſte Poſten.
Die Gräfin Dora d’Iſtria über die Fraueu im Orient.
Les femmes en Orient, par Madame la Comtesse Dora d’Istria, 2 vol.,
pag. VII. 1008. Zurich 1860.
II.
(Fortſetzung und Schluß.)
‡ In der Abſicht Mit- und Nachwelt zu täuſchen ein ganzes Jahr-
tauſend, weil es mißliebige Begebenheiten erzählt, aus der Geſchichte des öſt-
lichen Europa wegzuſtreichen, iſt ein deſperates Spiel, deſſen Folgen ich nicht
verantworten möchte.
Wollte man bloß aus den beiden von Athen und Nauplia datirten Brie-
fen urtheilen, ſo wäre Grund zur Beſorgniß vorhanden die edle Gräfin möchte
trotz ihrer glänzenden Begabung und ihres umfaſſenden Wiſſens von dem ge-
fährlichen Irrthum nicht unberührt geblieben, ja tiefer als viele ihrer gleich
hellenomanen Zeitgenoſſen im Schlamm verſunken ſeyn.
Wir bitten die edle Parganiotin voraus um Verzeihung, wenn wir ihre
Befunde in Attika und im Peloponnes weder gründlich, noch hiſtoriſch wahr,
noch ihrer Gelehrſamkeit und ihres Ruhms würdig finden, und wenn wir
uns verwundern wie die geiſtvolle Lobrednerin des helleniſchen Weibes uns
Europäern hohle Phantaſiegebilde als geſchichtliche Realität zum Beſten
geben mag. In den heutigen Bewohnern von Attika und Athen erkennt
die edle Verfaſſerin das reine Blut des witzigen, geiſtreichen, kunſtſinnigen,
claſſiſch gebildeten und dem Dorismus des Peloponneſes noch heute anti-
pathiſchen Geſchlechts der Jonier, während heut in Europa doch jedermann
weiß daß die Bevölkerung der Landſchaft Attika, und zum Theil ſelbſt der
Stadt Athen, nicht einmal griechiſchredende Byzantiner, noch viel weniger
„Marathonomachen,“ wie der Idealiſt Perrhäbos will, ſondern ehrbare aus
der Toskerai eingewanderte und ihre eigene Mutterſprache redende Albaneſen
ſind, und daß ſich nur in der Stadt Athen in neueſter Zeit eine elegant griechiſch-
ſprechende, aus allen vier Winden zuſammengewehte, täglich wachſende Be-
völkerung geſammelt hat, die weder vom Jonismus noch vom Dorismus etwas
weiß. Die Albaneſen Attika’s ſind wie alle ihre Landsleute ein hartes,
arbeitsluſtiges, ſparſames und kriegeriſches Geſchlecht, das die Türken liebte,
vom Aufſtand nichts wiſſen wollte, und in einigen Ortſchaften ſogar auf die
griechiſchen Inſurgenten Feuer gegeben hat. *)
In Nauplia findet Madame la Comteſſe den Peloponnes ebenfalls
noch ganz doriſch, und den Gegenſatz zwiſchen Athen und Sparta noch ganz ſo
lebendig wie im Alterthum; nur habe ſich das ingenium Spartanum in den
Taygetus zurückgezogen. Aber eben der Taygetus war zugleich mit Arkadien,
wie die Byzantiner ſagen, der ſlaviniſirteſte Theil des Peloponneſes, und hat
ſeinen „ſarmatiſchen“ Habitus länger bewahrt als die übrigen Diſtricte der
Halbinſel.
Die Geſchichte nennt ſogar die Slavinenſtämme die ſich auf beiden
Halden des Gebirges niedergelaſſen haben. In Arkadien dagegen war die
ſcharfſinnige Gräfin ſo glücklich nicht etwa Griechen von Byzanz oder Helle-
nen des poloponneſiſchen Kriegs, ſondern die antediluvianiſchen Pelasger des
fabelhaften Königs Lykaon zu finden, in deſſen Palaſt einſt Zeus ein Abend-
eſſen eingenommen hat. Zur Ehre der Verfaſſerin müſſen wir glauben daß
ſie vom Peloponnes nur wenig, von Arkadien aber gar nichts geſehen hat,
und daß ihr Dictum aus der Einbildung und nicht aus redlicher Beobachtung
gefloſſen iſt.
Dieſe Aufſtellungen als das zu bezeichnen was ſie eigentlich ſind dürfen
wir, ohne der hochgebornen Gräfin zu mißfallen, in keinem Fall wagen.
Eine edle Dame ſchulgerecht zu widerlegen und durch unabwehrbare Argu-
mente zu beängſtigen wäre ungalant, und vielleicht nicht einmal ſchicklich.
Wir verſagen uns daher dieſes Vergnügen aus Artigkeit, und erlauben uns
nur die edle Verfaſſerin auf die ganz anders lautenden Nachrichten aufmerk-
ſam zu machen welche uns ihre Kirchengenoſſen, die griechiſchen Chroniſten
von Byzanz, über die peloponneſiſchen Zuſtände im Mittelalter hinterlaſſen
haben. Dieſe helleniſchen Hiſtoriker ſagen ganz unverhohlen und klar: nicht
bloß Hellas und Epirus, auch der Peloponnes ſey nach Vertilgung der alten
dünngeſäeten Bevölkerung, mit Ausnahme weniger Küſtenorte, von ſcythiſch-
redenden Slaven beſetzt geweſen, und zwar ſo dicht und excluſiv daß ſich über
zweihundert Jahre lang kein griechiſchredender Chriſt, ohne ermordet zu wer-
den, in das Innere der heidniſchen Halbinſel wagen durfte. Den ſtrengen
Idealiſten gegenüber, für welche die Geſchichte von Byzanz gar nicht exiſtirt,
und welche in ihren hiſtoriſchen Concepten von den Zeiten des trojaniſchen
Kriegs unmittelbar auf König Otto überſpringen, macht die edle Gräfin doch
eine rühmliche Ausnahme. Das Gewicht der Thatſachen wiegt in ihrem
Sinn ſo ſchwer, daß ſie, zwar ohne zu ſagen wann und wie, die Beſetzung
des Peloponneſes durch die Race der „ſcythiſchen“ Slaven willig eingeſteht.
Gleichſam als hätte ſich aber die Verfaſſerin durch dieſe Conceſſion ſchon zu
viel vergeben, läßt ſie die Eindringlinge durch die Kaiſerin St. Irene wieder
aus dem Lande treiben. (I, S. 352.) In dieſem Satz iſt die ganze Streit-
frage über die Geſchichte Griechenlands im Mittelalter concentrirt. Wenn
die Verfaſſerin durch hinreichende, nicht aus der Phantaſie und dem Gefühl,
ſondern aus den griechiſchen Chroniken von Byzanz geſchöpfte Argumente
beweiſen kann daß im Peloponnes niemals ein radicaler Bevölkerungswechſel
*) Speciell über Attika ſind bekanntlich die meiſten Gelehrten anderer Anſicht
Wir citiren nur Dr. W. Biſcher, Profeſſor zu Baſel, der in der neuern
Zeit Griechenland bereist hat, und in Bezug darauf Seite 54 ſeines
Werkes (Erinnerungen und Eindrücke aus Griechenland) ſagt: „So weit
wir zurückſchauen können, hat Attika ſeine Bewohner nie ganz verändert,
nie ſind ſie von Eroberern vertrieben oder unterjocht worden, was man
ſchon im Alterthum dem verhältnißmäßig wenig fruchtbaren Boden zuſchrieb,
welcher Eroberer nicht anlockte. Aehnlich lauten die Urtheile von
Thierſch, Roß und andern. Wir können daher das unbedingte Votum des
„Fragmentiſten,“ der die Slaviſirung faſt des ganzen helleniſchen Volkes an-
nimmt, natürlich nicht unterſchreiben, ſondern überlaſſen das dem Strett der
Fachgelehrten. Die Bevölkerung die gegenwärtig Griechenland bewohnt, mag
ſie nun mehr ſlaviſches oder mehr altgriechiſches Blut in ihren Adern haben,
ſtrebt jedenfalls empor, was ſie weſentlich von den trägen, apathiſchen Türken
unterſcheidet, und immer unterſchied. Es iſt das Bewegliche dem Todten ge-
genüber. Schon die wiſſenſchaftlichen Anſtalten, die von den Griechen aller
Länder unterſtützt werden, zeigen daß Leben und Geiſt in dieſem Volke iſt,
während kein Gras mehr wächst wo der Türke den Fuß hinſetzt. Dieſer
Borzug wird ihnen bleiben, wie auch Geſchichte und Naturforſchung zuletzt
jene Frage entſcheiden mögen. Der Fragmentiſt hat hier die gewichtigſten ſei-
ner Gründe für die Slaviſirung der Hellenen zuſammengeſtellt, aber mit all
dieſen Gründen läßt ſich doch das ſichtbare Aufblühen des griechiſchen Staats,
das Wachſen Athens (von 10,000 Einwohnern vor der Revolution bis gegen
40,000 jetzt) ſo wie aller Städte und Inſeln nicht beſtreiten. Und das hat
ganz Griechenland gethan, nicht bloß ſein König, dem es getreu blieb in der
größten Verſuchung, in die es die engliſche Blokade unter Palmerſton, und die
verſchiedenen, vom Ausland angeſtiſteten Aufftände gebracht. Wo hat man
dergleichen in den rein ſlaviſchen Ländern von Bosnien, Serbien, Montenegro ꝛc.
erlebt? Möge es nun der griechiſche Himmel oder die Reſte des althelleniſchen
Bluts ſeyn die dieſe glückliche Miſchung des griechiſchen Blutes hervorgebracht
haben — genug ſie beſteht, und wird beſtehen, wenn die Türken längſt aus
Europa vertrieben ſeyn werden. R. d. A. Z.
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(2022-04-08T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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