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Allgemeine Zeitung, Nr. 161, 9. Juni 1860.

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Beilage zu Nr. 161 der Allg. Zeitung.
Sonnabend 9 Junius 1860.


Uebersicht.
Deutschlands Zukunft. 1860 - 1806? -- Thiers über den Marsch
der verbündeten Heere nach Paris im März 1814. -- Aus meinem Amns-
leben. Von Dr. Aloys Fischer. -- Italien. (Neapel: Aus Sicilien.)
Reneste Posten. Berlin. (Tagesbericht.) -- Wien. (Tages-
ericht.) -- Paris. (Inhalt der Tagesblätter. Nachrichten aus Sicilien.)


Telegraphische Berichte.

Bundestagssitzung.
Der handelspolitische Ausschuß beantragte eine Commission aus De-
legirten zur Begutachtung des Antrags auf einheitliches Maß und
Gewicht.


Officielle hier angelangte Berichte sagen
daß die von Frankreich angenommene Bermittlung zwischen der nea-
politanischen Regierung und Garibaldi zu spät eingetreten sey, und
die königl. Truppen gezwungen worden Catania, Trapani und Palermo
zu räumen.


Oesterr. 5proc. Rational-Anleihe 57 5/8 ;
5proc. Metall. 503/4; Bankactien 745; Lotterie-Anleheusloose von 1854 721/2; von
1858 921/4; von 1860 721/4; Lubwigshafen-Bexbacher E.-B.-A. 1223/4; bayer.
Ostbahu-Actien 100 7/8 ; voll eingezahlt 1011/4; österr. Credit-Mobilier-Actien 1621/2.
Wechselcurse: Paris 92 7/8 ; London 1163/4; Wien 88.


Oesterr. 5proc. National-Anleihe 79; 5proc. Metall
69.10; Lotterie-Anleh. von 1854 99.75; von 1858 105.50; von 1860 95.50; Bank-
actien 859; öfterr. Credit-Mobilieractien 183.80; Donaudampffchifffahrtsactien 438;
Staatsbahnactien 267; Nordbahnactien 183.60. Wechselcurse: Augsburg 3 M.
113; London 131.90.


3proc. Consols 951/4.



Deutschlands Zukunft.
1860 - 1806?
Einepatriotische Phantasie.

b Wenn man den Lauf der Weltgeschichte aufmerksam betrachtet, und
fieht wie gewisse machiavellistische Grundfätze immer mit gleichem Erfolg
angewendet werden, ohne daß die durch solche Künste schwer getäuschten Völker
darum zu der Erkenntniß kommen sich vor den ihnen gelegten Fallstricken zu
hüten, so läßt sich zur Erklärung dieses so auffälligen Mangels an fortschrei-
tender politischer Bildung anführen: daß die Masse eines Volkes die Geschichte
der Staaten nie in ausreichender Weise erlernen kann, um daraus zum eige-
nen Gebrauch politische Grundsätze zu entnehmen. Wenn wir aber sehen
daß das noch lebende Geschlecht eines und desselben Volkes -- und zwar
Fürsten wie Unterthanen -- an Rande derselben Grube steht in welche beide
zusammen schon einmal gestürzt sind, und aus der sie sich nur mit den schwer-
sten Opfern wieder emporgearbeitet haben, und daß sie dennoch, anstatt vor
demselben verhängnißvollen Schritt zurückzubeben, vielmehr mit vollem Be-
wußtseyn dem unzweifelhaften Verderben entgegengehen, dann fragen wir mit
Recht: ist es denn eine für Deutschland unabwendbare Nothwendigkeit daß
sich im Jahr 1860 das Jahr 1806 wiederhole?

Wir sehen daß England die durch die theuer erkauften Verträge von
1815 gewährleistete Neutralität der savoyischen Provinzen für ein Linsenge-
richt hinzugeben im Begriff steht, während Rußland seinen orientalischen
Hoffnungen auch noch mehr zu opfern keinen Anstand nehmen dürfte. Was
aber Deutschland von Italien und von Dänemark sich zu gewärtigen hat,
darüber kann man noch weniger im Zweifel seyn. Im günstigsten Fall steht
also Deutschland ganz allein der im Augenblick krampfhaft concentritten
Macht des Frankenreiches gegenüber; und wenn wir auch wohl überzeugt
seyn dürsen daß das vereinte Deutschland jedem seiner Nachbarn gewachsen
ist, so wird doch kein Sachkundiger in Abrede stellen können daß die eraste
Kriegsschule welche Frankreich seit 30 Jahren in Algier durchgemacht hat,
und deren Erfolge sich sowohl in der Krim, als auch in Italien vollstän-
dig bewährt haben, dem französischen Heer gegenwärtig eine Kriegserfah-
rung und ein Selbstvertrauen verschafft hat, dem wir nur das Bewußtseyn
entgegenzusetzen haben daß wir für eine gerechte Sache, für Haus und Hof
und für die Unabhängigkeit des Vaterlandes in den Kampf gehen werden, so
bald es dem Franken beliebt seine Hand wieder nach deutschen Landen auszu-
strecken.

Was würde indeß aller persönliche Muth und alle Opferbereitschaft der
Einzelnen nützen, wenn der Feind wieder ein uneiniges oder auch nur ein in
Haupt und Gliedern rathloses Deutschland finden sollte? Die Antwort auf
diese Frage lesen wir in den Annalen des tausendjährigen Reiches deutscher
Nation, welches im Jahr 1806 so schmachvoll endete. Wir sehen sie aber
auch in dem Schicksal des unglücklichen Polens, dessen Dynasten die Rechte
und die Freiheit ihres Vaterlandes sammt ihrer eignen an das Ausland ver-
riethen und verkauften, wobei sie sich auf jene heillose Verfassung steiften,
nach welcher zu allen rettenden Entschlüssen "Stimmeneinhelligkeit" erfordert
wurde, während verderbliche Maßregeln, als Beschlüsse einer "Conföderation"
(oder auch des permanenten Raths), durch "einfache Stimmenmehrheit" Gel-
tung erhielten. Und so wird ein jeder Staat unrettbar untergehen wenn er
eine solche Verfassung nicht aus eigener Kraft umzuwandeln vermag, sondern
diese Sorge den feindlichen Nachbarn überlassen muß.

Nun aber findet sich diese Uneinigkeit und diese Rathlofigkeit wieder in
unserm dentschen Vaterland gerade in einem Zeitpunkt wo es sich darum han-
delt die Karte von Europa nach französischen Entwürfen umzugestalten. Oder
sind etwa die deutschen Fürsten über die Frage einig: was in Beziehung auf
die Neutralität der savoyischen Bezirke (- der Annexion der Schweiz und
des Königreichs Belgien) von Seite Deutschlands geschehen muß? und nun gar
über die Frage: durch welche Mittel? Und ist erwa das deutsche Bolk -- wir
meinen hier vorzugsweise "die Besten" desselben, deren Stimmen Geltung
haben bei Tausenden und abermals Tausenden -- in diesen letzteren
Fragen einiger als seine Fürsten? Ja, das deutsche Vol! ist gottlob eini-
ger als je in dem festen Entschlusse:

"keinen Fußbreit deutscher Erde unter fremde Bot-
mäßigkeit gelangen zu lassen,
"

und kann darum auch die neutralisirten Gränzländer nicht antasten lassen.
Aber wenn wir zu den nächsten praktischen Fragen kommen: Wer soll Deutsch-
lands Kräfte sammeln, leiten, wehrhaft machen und anführen? Da gehen
auch die Ansichten der Besten auseinander! Da verfallen wir alle der Erb-
sünde unseres deutschen Stammes: "dem Kantönligeist," den jedoch die
Schweiz endlich in den wesentlichsten Punkten überwunden hat. In Deutschland
aber hat er von Anfang an im Kampfe der Reichsstände gegen das Reichs-
oberhaupt Fleisch und Blut gewonnen, und hat die ewigen Reibungen veran-
laßt welche wie ein langsames Feuer erst die Kraft und endlich auch den
Stamm des deutschen Reiches aufgezehrt haben. Leider hat derselbe sogar
den Untergang des Reiches überlebt, und ist in dem deutschen Bund wieder
neu erstanden als Antagonismus zwischen Oesterreich und Preußen, und als
Eifersucht der übrigen Kleinstaaten gegen diese beiden europäischen Mächte.
Die traurigen Folgen dieser beklagenswerthen Thatsachen haben Deutschland
dergestalt wieder in das Jahr 1805 zurückversetzt, daß wahrlich kein propheti-
scher Geist dazu gehört um die Klagen der Kassandra anzustimmen. Allen
Vaterlandsfreunden aber liegt es ob die Frage lösen zu helfen: ob die Welt-
geschichte einem solchen Fatalismus verfallen ist, daß keine Einsicht und keine
Anstrengung eines großen und tapfern Volks gegen den eisernen Gang
eines unabwendbaren Geschickes etwas auszurichten vermag, oder ob es nur
dem deutschen Volk an dieser Einsicht und an dieser Aufopferungsfähigkeit
gebricht?

Bei der Untersuchung dieser Lösung dürfen wir uns auch keineswegs
auf die Schranken unseres besondern Standes berufen um die Schuld auf
andere zu wälzen; denn wenn es auch scheint daß die Schuld zunächst an den
deutschen Fürsten liege, die ja mit Einer Abstimmung den Gliedern wieder
ein Haupt geben könnten, so sind ja auch sie wieder nur Einzelne die ohne die
Zustimmung aller nichts ausrichten können; daß es aber der Mehrzahl dersel-
ben weder an Einsicht in Beziehung auf das was noththut, noch an Selbst-
verläugnung fehlt, das beweist jenes Dreikönigsbündniß vom Jahr 1849,
welches zum gemeinsamen Schaden aller Betheiligten endlich doch an dem
polnischen Nie poz walam*) scheiterte.

Auch dem deutschen Adel dürfen wir diese politische Zerfahrenheit nicht
vorzugsweise ins Gewissen schieben. Allerdings ist dieser Stand, theils von
Haus aus, theils mittelst Pergamente von der verschiedensten Herkunft, so zahl-
reich geworden daß, wenn jede Familie bei drohender Gefahr auch nur "Ein
Ritterpferd" zum Dienste des Vaterlandes stellte, der deutschen Volkswehr
eine achtunggebietende Reiterschaar zur Seite stehen würde; indessen ist der
niedere Adel, weil sowohl der größere Grundbesitz als auch die höhere geistige
Bildung und Arbeitskraft sich in weiteren Kreisen verbreitet hat, wohl nur
dafür verantwortlich zu machen, wenn er bei seinem, keineswegs gering anzu-
schlagenden, Einfluß an den deutschen Fürstenhöfen für die wahren Interessen
des deutschen Vaterlandes nach Kräften zu wirken keinen Muth oder kein
Herz hat. Ein noch eindringlicheres Wort möchten wir aber unserm hohen
Adel, namentlich den Mediatisirten, ans Herz legen, die nicht nur durch ihre
Geburt berufen sind im Rathe der Fürsten zu sitzen, sondern die auch durch die

*) Bekanntlich die Formel des Liberum Veto.
Beilage zu Nr. 161 der Allg. Zeitung.
Sonnabend 9 Junius 1860.


Ueberſicht.
Deutſchlands Zukunft. 1860 ═ 1806? — Thiers über den Marſch
der verbündeten Heere nach Paris im März 1814. — Aus meinem Amns-
leben. Von Dr. Aloys Fiſcher. — Italien. (Neapel: Aus Sicilien.)
Reneſte Poſten. Berlin. (Tagesbericht.) — Wien. (Tages-
ericht.) — Paris. (Inhalt der Tagesblätter. Nachrichten aus Sicilien.)


Telegraphiſche Berichte.

Bundestagsſitzung.
Der handelspolitiſche Ausſchuß beantragte eine Commiſſion aus De-
legirten zur Begutachtung des Antrags auf einheitliches Maß und
Gewicht.


Officielle hier angelangte Berichte ſagen
daß die von Frankreich angenommene Bermittlung zwiſchen der nea-
politaniſchen Regierung und Garibaldi zu ſpät eingetreten ſey, und
die königl. Truppen gezwungen worden Catania, Trapani und Palermo
zu räumen.


Oeſterr. 5proc. Rational-Anleihe 57⅝;
5proc. Metall. 50¾; Bankactien 745; Lotterie-Anleheuslooſe von 1854 72½; von
1858 92¼; von 1860 72¼; Lubwigshafen-Bexbacher E.-B.-A. 122¾; bayer.
Oſtbahu-Actien 100⅞; voll eingezahlt 101¼; öſterr. Credit-Mobilier-Actien 162½.
Wechſelcurſe: Paris 92⅞; London 116¾; Wien 88.


Oeſterr. 5proc. National-Anleihe 79; 5proc. Metall
69.10; Lotterie-Anleh. von 1854 99.75; von 1858 105.50; von 1860 95.50; Bank-
actien 859; öfterr. Credit-Mobilieractien 183.80; Donaudampffchifffahrtsactien 438;
Staatsbahnactien 267; Nordbahnactien 183.60. Wechſelcurſe: Augsburg 3 M.
113; London 131.90.


3proc. Conſols 95¼.



Deutſchlands Zukunft.
1860 ═ 1806?
Einepatriotiſche Phantaſie.

β Wenn man den Lauf der Weltgeſchichte aufmerkſam betrachtet, und
fieht wie gewiſſe machiavelliſtiſche Grundfätze immer mit gleichem Erfolg
angewendet werden, ohne daß die durch ſolche Künſte ſchwer getäuſchten Völker
darum zu der Erkenntniß kommen ſich vor den ihnen gelegten Fallſtricken zu
hüten, ſo läßt ſich zur Erklärung dieſes ſo auffälligen Mangels an fortſchrei-
tender politiſcher Bildung anführen: daß die Maſſe eines Volkes die Geſchichte
der Staaten nie in ausreichender Weiſe erlernen kann, um daraus zum eige-
nen Gebrauch politiſche Grundſätze zu entnehmen. Wenn wir aber ſehen
daß das noch lebende Geſchlecht eines und desſelben Volkes — und zwar
Fürſten wie Unterthanen — an Rande derſelben Grube ſteht in welche beide
zuſammen ſchon einmal geſtürzt ſind, und aus der ſie ſich nur mit den ſchwer-
ſten Opfern wieder emporgearbeitet haben, und daß ſie dennoch, anſtatt vor
demſelben verhängnißvollen Schritt zurückzubeben, vielmehr mit vollem Be-
wußtſeyn dem unzweifelhaften Verderben entgegengehen, dann fragen wir mit
Recht: iſt es denn eine für Deutſchland unabwendbare Nothwendigkeit daß
ſich im Jahr 1860 das Jahr 1806 wiederhole?

Wir ſehen daß England die durch die theuer erkauften Verträge von
1815 gewährleiſtete Neutralität der ſavoyiſchen Provinzen für ein Linſenge-
richt hinzugeben im Begriff ſteht, während Rußland ſeinen orientaliſchen
Hoffnungen auch noch mehr zu opfern keinen Anſtand nehmen dürfte. Was
aber Deutſchland von Italien und von Dänemark ſich zu gewärtigen hat,
darüber kann man noch weniger im Zweifel ſeyn. Im günſtigſten Fall ſteht
alſo Deutſchland ganz allein der im Augenblick krampfhaft concentritten
Macht des Frankenreiches gegenüber; und wenn wir auch wohl überzeugt
ſeyn dürſen daß das vereinte Deutſchland jedem ſeiner Nachbarn gewachſen
iſt, ſo wird doch kein Sachkundiger in Abrede ſtellen können daß die eraſte
Kriegsſchule welche Frankreich ſeit 30 Jahren in Algier durchgemacht hat,
und deren Erfolge ſich ſowohl in der Krim, als auch in Italien vollſtän-
dig bewährt haben, dem franzöſiſchen Heer gegenwärtig eine Kriegserfah-
rung und ein Selbſtvertrauen verſchafft hat, dem wir nur das Bewußtſeyn
entgegenzuſetzen haben daß wir für eine gerechte Sache, für Haus und Hof
und für die Unabhängigkeit des Vaterlandes in den Kampf gehen werden, ſo
bald es dem Franken beliebt ſeine Hand wieder nach deutſchen Landen auszu-
ſtrecken.

Was würde indeß aller perſönliche Muth und alle Opferbereitſchaft der
Einzelnen nützen, wenn der Feind wieder ein uneiniges oder auch nur ein in
Haupt und Gliedern rathloſes Deutſchland finden ſollte? Die Antwort auf
dieſe Frage leſen wir in den Annalen des tauſendjährigen Reiches deutſcher
Nation, welches im Jahr 1806 ſo ſchmachvoll endete. Wir ſehen ſie aber
auch in dem Schickſal des unglücklichen Polens, deſſen Dynaſten die Rechte
und die Freiheit ihres Vaterlandes ſammt ihrer eignen an das Ausland ver-
riethen und verkauften, wobei ſie ſich auf jene heilloſe Verfaſſung ſteiften,
nach welcher zu allen rettenden Entſchlüſſen „Stimmeneinhelligkeit“ erfordert
wurde, während verderbliche Maßregeln, als Beſchlüſſe einer „Conföderation“
(oder auch des permanenten Raths), durch „einfache Stimmenmehrheit“ Gel-
tung erhielten. Und ſo wird ein jeder Staat unrettbar untergehen wenn er
eine ſolche Verfaſſung nicht aus eigener Kraft umzuwandeln vermag, ſondern
dieſe Sorge den feindlichen Nachbarn überlaſſen muß.

Nun aber findet ſich dieſe Uneinigkeit und dieſe Rathlofigkeit wieder in
unſerm dentſchen Vaterland gerade in einem Zeitpunkt wo es ſich darum han-
delt die Karte von Europa nach franzöſiſchen Entwürfen umzugeſtalten. Oder
ſind etwa die deutſchen Fürſten über die Frage einig: was in Beziehung auf
die Neutralität der ſavoyiſchen Bezirke (═ der Annexion der Schweiz und
des Königreichs Belgien) von Seite Deutſchlands geſchehen muß? und nun gar
über die Frage: durch welche Mittel? Und iſt erwa das deutſche Bolk — wir
meinen hier vorzugsweiſe „die Beſten“ desſelben, deren Stimmen Geltung
haben bei Tauſenden und abermals Tauſenden — in dieſen letzteren
Fragen einiger als ſeine Fürſten? Ja, das deutſche Vol! iſt gottlob eini-
ger als je in dem feſten Entſchluſſe:

keinen Fußbreit deutſcher Erde unter fremde Bot-
mäßigkeit gelangen zu laſſen,

und kann darum auch die neutraliſirten Gränzländer nicht antaſten laſſen.
Aber wenn wir zu den nächſten praktiſchen Fragen kommen: Wer ſoll Deutſch-
lands Kräfte ſammeln, leiten, wehrhaft machen und anführen? Da gehen
auch die Anſichten der Beſten auseinander! Da verfallen wir alle der Erb-
ſünde unſeres deutſchen Stammes: „dem Kantönligeiſt,“ den jedoch die
Schweiz endlich in den weſentlichſten Punkten überwunden hat. In Deutſchland
aber hat er von Anfang an im Kampfe der Reichsſtände gegen das Reichs-
oberhaupt Fleiſch und Blut gewonnen, und hat die ewigen Reibungen veran-
laßt welche wie ein langſames Feuer erſt die Kraft und endlich auch den
Stamm des deutſchen Reiches aufgezehrt haben. Leider hat derſelbe ſogar
den Untergang des Reiches überlebt, und iſt in dem deutſchen Bund wieder
neu erſtanden als Antagonismus zwiſchen Oeſterreich und Preußen, und als
Eiferſucht der übrigen Kleinſtaaten gegen dieſe beiden europäiſchen Mächte.
Die traurigen Folgen dieſer beklagenswerthen Thatſachen haben Deutſchland
dergeſtalt wieder in das Jahr 1805 zurückverſetzt, daß wahrlich kein propheti-
ſcher Geiſt dazu gehört um die Klagen der Kaſſandra anzuſtimmen. Allen
Vaterlandsfreunden aber liegt es ob die Frage löſen zu helfen: ob die Welt-
geſchichte einem ſolchen Fatalismus verfallen iſt, daß keine Einſicht und keine
Anſtrengung eines großen und tapfern Volks gegen den eiſernen Gang
eines unabwendbaren Geſchickes etwas auszurichten vermag, oder ob es nur
dem deutſchen Volk an dieſer Einſicht und an dieſer Aufopferungsfähigkeit
gebricht?

Bei der Unterſuchung dieſer Löſung dürfen wir uns auch keineswegs
auf die Schranken unſeres beſondern Standes berufen um die Schuld auf
andere zu wälzen; denn wenn es auch ſcheint daß die Schuld zunächſt an den
deutſchen Fürſten liege, die ja mit Einer Abſtimmung den Gliedern wieder
ein Haupt geben könnten, ſo ſind ja auch ſie wieder nur Einzelne die ohne die
Zuſtimmung aller nichts ausrichten können; daß es aber der Mehrzahl derſel-
ben weder an Einſicht in Beziehung auf das was noththut, noch an Selbſt-
verläugnung fehlt, das beweist jenes Dreikönigsbündniß vom Jahr 1849,
welches zum gemeinſamen Schaden aller Betheiligten endlich doch an dem
polniſchen Nie poz walam*) ſcheiterte.

Auch dem deutſchen Adel dürfen wir dieſe politiſche Zerfahrenheit nicht
vorzugsweiſe ins Gewiſſen ſchieben. Allerdings iſt dieſer Stand, theils von
Haus aus, theils mittelſt Pergamente von der verſchiedenſten Herkunft, ſo zahl-
reich geworden daß, wenn jede Familie bei drohender Gefahr auch nur „Ein
Ritterpferd“ zum Dienſte des Vaterlandes ſtellte, der deutſchen Volkswehr
eine achtunggebietende Reiterſchaar zur Seite ſtehen würde; indeſſen iſt der
niedere Adel, weil ſowohl der größere Grundbeſitz als auch die höhere geiſtige
Bildung und Arbeitskraft ſich in weiteren Kreiſen verbreitet hat, wohl nur
dafür verantwortlich zu machen, wenn er bei ſeinem, keineswegs gering anzu-
ſchlagenden, Einfluß an den deutſchen Fürſtenhöfen für die wahren Intereſſen
des deutſchen Vaterlandes nach Kräften zu wirken keinen Muth oder kein
Herz hat. Ein noch eindringlicheres Wort möchten wir aber unſerm hohen
Adel, namentlich den Mediatiſirten, ans Herz legen, die nicht nur durch ihre
Geburt berufen ſind im Rathe der Fürſten zu ſitzen, ſondern die auch durch die

*) Bekanntlich die Formel des Liberum Veto.
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[0009] Beilage zu Nr. 161 der Allg. Zeitung.Sonnabend 9 Junius 1860. Ueberſicht. Deutſchlands Zukunft. 1860 ═ 1806? — Thiers über den Marſch der verbündeten Heere nach Paris im März 1814. — Aus meinem Amns- leben. Von Dr. Aloys Fiſcher. — Italien. (Neapel: Aus Sicilien.) Reneſte Poſten. Berlin. (Tagesbericht.) — Wien. (Tages- ericht.) — Paris. (Inhalt der Tagesblätter. Nachrichten aus Sicilien.) Telegraphiſche Berichte. ⁂ Frankfurt a. M., 8 Jun. Bundestagsſitzung. Der handelspolitiſche Ausſchuß beantragte eine Commiſſion aus De- legirten zur Begutachtung des Antrags auf einheitliches Maß und Gewicht. &#xfffc; Bern, 8 Jun. Officielle hier angelangte Berichte ſagen daß die von Frankreich angenommene Bermittlung zwiſchen der nea- politaniſchen Regierung und Garibaldi zu ſpät eingetreten ſey, und die königl. Truppen gezwungen worden Catania, Trapani und Palermo zu räumen. * Fraukfurt a. M., 8 Jun. Oeſterr. 5proc. Rational-Anleihe 57⅝; 5proc. Metall. 50¾; Bankactien 745; Lotterie-Anleheuslooſe von 1854 72½; von 1858 92¼; von 1860 72¼; Lubwigshafen-Bexbacher E.-B.-A. 122¾; bayer. Oſtbahu-Actien 100⅞; voll eingezahlt 101¼; öſterr. Credit-Mobilier-Actien 162½. Wechſelcurſe: Paris 92⅞; London 116¾; Wien 88. &#xfffc; Wien, 8 Jun. Oeſterr. 5proc. National-Anleihe 79; 5proc. Metall 69.10; Lotterie-Anleh. von 1854 99.75; von 1858 105.50; von 1860 95.50; Bank- actien 859; öfterr. Credit-Mobilieractien 183.80; Donaudampffchifffahrtsactien 438; Staatsbahnactien 267; Nordbahnactien 183.60. Wechſelcurſe: Augsburg 3 M. 113; London 131.90. * London, 7 Jun. 3proc. Conſols 95¼. Deutſchlands Zukunft. 1860 ═ 1806? Einepatriotiſche Phantaſie. β Wenn man den Lauf der Weltgeſchichte aufmerkſam betrachtet, und fieht wie gewiſſe machiavelliſtiſche Grundfätze immer mit gleichem Erfolg angewendet werden, ohne daß die durch ſolche Künſte ſchwer getäuſchten Völker darum zu der Erkenntniß kommen ſich vor den ihnen gelegten Fallſtricken zu hüten, ſo läßt ſich zur Erklärung dieſes ſo auffälligen Mangels an fortſchrei- tender politiſcher Bildung anführen: daß die Maſſe eines Volkes die Geſchichte der Staaten nie in ausreichender Weiſe erlernen kann, um daraus zum eige- nen Gebrauch politiſche Grundſätze zu entnehmen. Wenn wir aber ſehen daß das noch lebende Geſchlecht eines und desſelben Volkes — und zwar Fürſten wie Unterthanen — an Rande derſelben Grube ſteht in welche beide zuſammen ſchon einmal geſtürzt ſind, und aus der ſie ſich nur mit den ſchwer- ſten Opfern wieder emporgearbeitet haben, und daß ſie dennoch, anſtatt vor demſelben verhängnißvollen Schritt zurückzubeben, vielmehr mit vollem Be- wußtſeyn dem unzweifelhaften Verderben entgegengehen, dann fragen wir mit Recht: iſt es denn eine für Deutſchland unabwendbare Nothwendigkeit daß ſich im Jahr 1860 das Jahr 1806 wiederhole? Wir ſehen daß England die durch die theuer erkauften Verträge von 1815 gewährleiſtete Neutralität der ſavoyiſchen Provinzen für ein Linſenge- richt hinzugeben im Begriff ſteht, während Rußland ſeinen orientaliſchen Hoffnungen auch noch mehr zu opfern keinen Anſtand nehmen dürfte. Was aber Deutſchland von Italien und von Dänemark ſich zu gewärtigen hat, darüber kann man noch weniger im Zweifel ſeyn. Im günſtigſten Fall ſteht alſo Deutſchland ganz allein der im Augenblick krampfhaft concentritten Macht des Frankenreiches gegenüber; und wenn wir auch wohl überzeugt ſeyn dürſen daß das vereinte Deutſchland jedem ſeiner Nachbarn gewachſen iſt, ſo wird doch kein Sachkundiger in Abrede ſtellen können daß die eraſte Kriegsſchule welche Frankreich ſeit 30 Jahren in Algier durchgemacht hat, und deren Erfolge ſich ſowohl in der Krim, als auch in Italien vollſtän- dig bewährt haben, dem franzöſiſchen Heer gegenwärtig eine Kriegserfah- rung und ein Selbſtvertrauen verſchafft hat, dem wir nur das Bewußtſeyn entgegenzuſetzen haben daß wir für eine gerechte Sache, für Haus und Hof und für die Unabhängigkeit des Vaterlandes in den Kampf gehen werden, ſo bald es dem Franken beliebt ſeine Hand wieder nach deutſchen Landen auszu- ſtrecken. Was würde indeß aller perſönliche Muth und alle Opferbereitſchaft der Einzelnen nützen, wenn der Feind wieder ein uneiniges oder auch nur ein in Haupt und Gliedern rathloſes Deutſchland finden ſollte? Die Antwort auf dieſe Frage leſen wir in den Annalen des tauſendjährigen Reiches deutſcher Nation, welches im Jahr 1806 ſo ſchmachvoll endete. Wir ſehen ſie aber auch in dem Schickſal des unglücklichen Polens, deſſen Dynaſten die Rechte und die Freiheit ihres Vaterlandes ſammt ihrer eignen an das Ausland ver- riethen und verkauften, wobei ſie ſich auf jene heilloſe Verfaſſung ſteiften, nach welcher zu allen rettenden Entſchlüſſen „Stimmeneinhelligkeit“ erfordert wurde, während verderbliche Maßregeln, als Beſchlüſſe einer „Conföderation“ (oder auch des permanenten Raths), durch „einfache Stimmenmehrheit“ Gel- tung erhielten. Und ſo wird ein jeder Staat unrettbar untergehen wenn er eine ſolche Verfaſſung nicht aus eigener Kraft umzuwandeln vermag, ſondern dieſe Sorge den feindlichen Nachbarn überlaſſen muß. Nun aber findet ſich dieſe Uneinigkeit und dieſe Rathlofigkeit wieder in unſerm dentſchen Vaterland gerade in einem Zeitpunkt wo es ſich darum han- delt die Karte von Europa nach franzöſiſchen Entwürfen umzugeſtalten. Oder ſind etwa die deutſchen Fürſten über die Frage einig: was in Beziehung auf die Neutralität der ſavoyiſchen Bezirke (═ der Annexion der Schweiz und des Königreichs Belgien) von Seite Deutſchlands geſchehen muß? und nun gar über die Frage: durch welche Mittel? Und iſt erwa das deutſche Bolk — wir meinen hier vorzugsweiſe „die Beſten“ desſelben, deren Stimmen Geltung haben bei Tauſenden und abermals Tauſenden — in dieſen letzteren Fragen einiger als ſeine Fürſten? Ja, das deutſche Vol! iſt gottlob eini- ger als je in dem feſten Entſchluſſe: „keinen Fußbreit deutſcher Erde unter fremde Bot- mäßigkeit gelangen zu laſſen,“ und kann darum auch die neutraliſirten Gränzländer nicht antaſten laſſen. Aber wenn wir zu den nächſten praktiſchen Fragen kommen: Wer ſoll Deutſch- lands Kräfte ſammeln, leiten, wehrhaft machen und anführen? Da gehen auch die Anſichten der Beſten auseinander! Da verfallen wir alle der Erb- ſünde unſeres deutſchen Stammes: „dem Kantönligeiſt,“ den jedoch die Schweiz endlich in den weſentlichſten Punkten überwunden hat. In Deutſchland aber hat er von Anfang an im Kampfe der Reichsſtände gegen das Reichs- oberhaupt Fleiſch und Blut gewonnen, und hat die ewigen Reibungen veran- laßt welche wie ein langſames Feuer erſt die Kraft und endlich auch den Stamm des deutſchen Reiches aufgezehrt haben. 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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-02-11T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.




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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 161, 9. Juni 1860, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine161_1860/9>, abgerufen am 22.11.2024.