Allgemeine Zeitung, Nr. 160, 8. Juni 1860.[Spaltenumbruch]
nicht nach diesem Sitz der Wissenschaft und Aufklärung zu pilgern, und sie Der Redner wendet sich nun an seine jüngern Zuhörer, und ermahnt Sofort kommt Brougham auf ein Lieblingsthema: er empfiehlt der brit- Deutschland. Gr. Baden. * Karlsruhe, 5 Jun. Trotz der ernsten Stimmung [Spaltenumbruch]
nicht nach dieſem Sitz der Wiſſenſchaft und Aufklärung zu pilgern, und ſie Der Redner wendet ſich nun an ſeine jüngern Zuhörer, und ermahnt Sofort kommt Brougham auf ein Lieblingsthema: er empfiehlt der brit- Deutſchland. Gr. Baden. * Karlsruhe, 5 Jun. Trotz der ernſten Stimmung <TEI> <text> <body> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div type="jArticle" n="2"> <p><pb facs="#f0002" n="2666"/><cb/> nicht nach dieſem Sitz der Wiſſenſchaft und Aufklärung zu pilgern, und ſie<lb/> müſſen ohne unſern Unterricht, wenn nicht ſchon durch die Erfahrung belehrt,<lb/> das Naturell eines Tyrannen kennen lernen: <hi rendition="#aq">„Non ullum monstrum, nec<lb/> fœdius, nec tetrius, neque dîs hominibusque magis invisum terra<lb/> genuit, quam qui, formâ hominis, tamen immanitate morum vastis-<lb/> simas vincit belluas.“</hi> Aber auch unſere engliſchen Nachbarn mögen ſich<lb/> bei uns Gewinn erholen, nicht bloß aus unſern Lehrvorträgen, ſondern auch<lb/> aus den Principien worauf unſer Lehrſyſtem gegründet iſt.“ Hier berührt<lb/> Brougham die Frage welche Methode die vorzüglichere ſey, die des Unter-<lb/> richts durch Collegiallehrer <hi rendition="#aq">(tutors),</hi> welche an den alten engliſchen Univer-<lb/> ſitäten vorherrſcht, oder die in Schottland allein übliche „profeſſorliche“ Me-<lb/> thode, und meint: eine gleichgewogene Verbindung beider Unterrichtsarten ſey<lb/> wohl das beſte. Zugleich bemerkt er: das Wohnen der Studenten bei ihren<lb/> Eltern, Verwandten, oder ſonſt in anſtändigen Familien, verdiene den Vorzug<lb/> vor ihrem Zuſammenwohnen in Collegienhäuſern, und auch in Oxford und<lb/> Cambridge ſey letzteres nur durch den zufälligen Umſtand aufgekommen daß<lb/> dieſe kleinen Städte urſprünglich bloße Dörfer waren, in denen es bald an<lb/> Unterkunft für die zuſtrömende Jugend fehlte.</p><lb/> <p>Der Redner wendet ſich nun an ſeine jüngern Zuhörer, und ermahnt<lb/> ſie ihr Augenmerk auf <hi rendition="#g">ein</hi> Hauptziel ihrer Studien zu richten. „Er-<lb/> klärt euch eh ihr weiter geht, was wählt ihr für eine Facultät?“ — Me-<lb/> phiſto erläutert dieſen Satz freilich viel pikanter, indeſſen Mephiſto iſt auch<lb/> weder Reichspeer noch Univerfitätskanzler. „Obgleich die Erwerbung allge-<lb/> meiner Kenntniſſe,“ ſagte Brougham, „eine Pflicht iſt, und die Beſchränkung<lb/> unſeres Studiums auf die engen Gränzen einer oder zweier Wiſſenszweige<lb/> den Geiſt ſchwächt und beengt, und ſelbſt eine vollſtändige Bemeiſterung der<lb/> gewählten Materien verhindert, weil keine Wiſſenſchaft vereinzelt daſteht, ſo<lb/> iſt es doch in jeder Beziehung rathſam, ja abſolut nothwendig, euch <hi rendition="#g">eine</hi><lb/> Wiſſenſchaft als Hauptanfgabe des Lebens zu ſetzen, um jene gefährlichſte<lb/> aller Klippen, jenes ſchlimmſte aller Uebel zu vermeiden, Oberſlächlichkeit<lb/> des Wiſſens, eine eitle, hohle und dreiſte Polymathie. Es ſey euch<lb/> eine unverbrüchliche Regel: keine Materie, oder keinen Theil einer Materie,<lb/> zu ſtudieren ohne dabei bis auf den Grund zu gehen, jedes Studium, das ihr<lb/> euch vornehmt, auf gewiſſe Gränzen zu beſchränken, aber innerhalb derſelben<lb/> den Gegenſtand ganz zu bewältigen. Wir erlangen mit dieſer Beſcheidung<lb/> und Selbſtbegränzung den großen Vortheil daß wir uns gleichſam eine<lb/> Meridianlinie ziehen, von welcher fortan alle unſere Schritte nach andern<lb/> Richtungen ausgehen und wieder dahin einlenken. Alles was wir dann noch<lb/> unſerm Geiſt aneignen, gewinnt erhöhtes Intereſſe durch ſeinen Zuſammen-<lb/> hang mit unſerm Hauptſtudium; unſer Gedächtniß hält die acceſſoriſchen oder<lb/> untergeordneten Gegenſtände um ſo feſter, während ſie jenem zur Hülfe und<lb/> zur Beleuchtung dienen. Wer alles lernen und wiſſen will, wird es in allem<lb/> nur bis zur Mittelmäßigkeit bringen, und, ſelbſt bei ſeltenen Geiſtesgaben<lb/> und großem Fleiß, nichts ſchaffen was ächten und bleibenden Werth hat, ähn-<lb/> lich der amerikaniſchen Spottdroſſel <hi rendition="#aq">(mocking-bird)</hi>, welche alle Vogelſtim-<lb/> men im Walde nachmacht, aber keinen eigenen Geſang hat. Auch die großen<lb/> Leuchten der Welt beſtätigen dieſe Regel. Wäre Barrow durch ſeine äußern<lb/> Berufsgeſchäfte und ſein Amt als Kanzelredner nicht in ſeinen mathematiſchen<lb/> Forſchungen geſtört worden, ſo würde er wahrſcheinlich die große Entdeckung<lb/> des Calculs gemacht haben, welcher er, ſowie unter ähnlichen Umſtänden<lb/> Fermat, ſo nahe war. Was hätte ſich nicht von den kühnen und glücklichen<lb/> Conjecturen Franklins unter Leitung der ihm in all ihrer Strenge ſo ver-<lb/> trauten inductiven Methode erhoffen laſſen, hätte er nicht ſein Leben der,<lb/> allerdings wichtigern, Sache ſeines Vaterlandes und der Freiheit gewidmet?“<lb/> So nennt Brougham noch eine Anzahl berühmter Männer, und fragt: was ſie<lb/> wohl nicht alles in <hi rendition="#g">dem</hi> Fach geleiſtet haben würden, wenn ſie ſich nicht zugleich<lb/> auf <hi rendition="#g">jenes</hi> geworfen hätten? Sonderbar klingt es wenn er bedauert daß Car-<lb/> teſius durch ſeine metaphyſiſche Speculation ſich von ſeinen phyſikaliſchen<lb/> Studien habe ableiten laſſen, in denen er größeres geleiſtet haben würde.<lb/> Ebenſo würde Leibnitz dem dynamiſchen Syſtem Newtons nahe gekommen<lb/> ſeyn, wenn er ſeine Kraft nicht gleichfalls in Metaphyſik und mancherlei amt-<lb/> lichen Geſchäften zerſplittert hätte. Was hingegen eine concentrirte Geiſtes-<lb/> kraft vermöge, habe auf das glücklichſte Bacon bewieſen, als welcher ſich der<lb/> praktiſchen Anwendung ſeiner eigenen Philoſophie weislich enthielt, als er<lb/> fand daß ihm die gehörige Vorbereitung zu phyſikaliſchen Unterſuchungen<lb/> fehlte. Leonardo da Vinci würde nicht der große Maler geworden ſeyn, wenn<lb/> er ſeinem, zwar bedentenden, aber doch gegen ſein Künſtlergenie untergeord-<lb/> neten Talent für naturwiſſenſchaftliche Forſchung nachgehangen hätte. Be-<lb/> denklich war Broughams letztes Beiſpiel: „Wenn Voltaire ſein Studium der<lb/> Chemie verfolgt hätte, in welcher er nahe daran war zwei der größten Ent-<lb/> deckungen zu machen, ſo würde die Welt ſeine Tragödien, ſeine Romane und<lb/> ſeine — allgemeine Weltgeſchichte ſchwerlich erhalten haben.“ Würde das ein<lb/> ſehr beweinenswerther Verluſt geweſen ſeyn?</p><lb/> <p>Sofort kommt Brougham auf ein Lieblingsthema: er empfiehlt der brit-<lb/> tiſchen Jugend, welche ſich zu forenſiſcher, Parlaments- oder Kanzelrednern<lb/><cb/> ausbilden ſoll, ein gründliches Studium der attiſchen Redner, namentlich des<lb/> Demoſthenes, und zwar in ähnlichen Worten wie in ſeinem bekannten (vor<lb/> einiger Zeit auch in der Allg. Ztg. erwähnten) Brief an Hrn. Zachary<lb/> Macaulay, als ihn dieſer wegen der Erziehung ſeines Sohns, des nachher<lb/> berühmt gewordenen Staatsmanns und Schriftſtellers, um Rath gefragt<lb/> hatte. Zugleich empfiehlt er die griechiſchen Mathematiker. „In der Mathe-<lb/> matik vernachläſſigt man heutzutage die griechiſche Geometrie; in den huma-<lb/> niſtiſchen Studien pflegt man zwar griechiſche Sprache und Litteratur, bevor-<lb/> zugt aber die Poeten vor den Rednern. Die unermeßliche Ueberlegenheit der<lb/> griechiſchen Beredſamkeit über die römiſche erhellt nicht bloß aus dem Eifer<lb/> womit der größte Meiſter der letztern ſein Leben lang, bis in ſein Alter hin-<lb/> auf, die attiſchen Muſter ſtudierte, überſetzte, nachahmte, ſondern für uns<lb/> iſt vor allem der Umſtand entſcheidend daß die griechiſche Beredſamkeit für unſere<lb/> moderne Debatte, unſere politiſche Geſchäftsbehandlung unvergleichlich beſſere<lb/> Vorbilder liefert als die römiſche. Während ſich in Wahrheit behaupten läßt<lb/> daß, bei all ihrer Vortrefflichkeit, kaum eine von Cicero’s Reden auch nur<lb/> theilweis in unſerem Parlament oder auf unſerem Forum erträglich wäre,<lb/> könnte jede griechiſche Rede unter ähnlichen Umſtänden, und mit geringen<lb/> Aenderungen, vor unſern Tribunalen und politiſchen Verſammlungen gehal-<lb/> ten werden. Einige von den ſchönſten Reden des Demoſthenes drehen ſich<lb/> um Privatrechtshändel; dieſe werden jetzt wenig ſtudiert, aber ſie verdienen<lb/> nach Form und Inhalt alle Beachtung u. ſ. w.“ Wovor Brougham beſon-<lb/> ders warnt, das iſt — unter Hinweis auf Demoſthenes, der dem Extempo-<lb/> riren erklärtermaßen abhold war — das öffentliche Sprechen ohne Vorberei-<lb/> tung. „Wer keine natürliche Anlage zum Redner hat, wird in dieſem Falle<lb/> ganz ſchlecht ſprechen, der von Natur Begabte wenigſtens ohne Beredſamkeit.<lb/> Eine feine Bemerkung oder ein zutreffendes Bilo mag ihm einfallen; aber die<lb/> lockere, liederliche und ärmliche Diction, die Kunſtloſtgkeit in Verbindung und<lb/> Anordnung der Ideen, die Unfähigkeit ſeine Gedanken in einer gewiſſen Fülle<lb/> vorzuführen, und dieß namentlich in beſter und wirkſamſter Form zu thun —<lb/> alles das wird den Stegreifſprecher als einen gewöhnlichen Plauderer erſcheinen<lb/> laſſen. Mancher Sprecher der Art iſt niemals um ein Wort verlegen, aber<lb/> kaum eines ſeiner Worte iſt des Anhörens werth. <hi rendition="#aq">„Sine hac quidem con-<lb/> seientiâ“</hi> (d. h. ohne klar durchdachte Gedankenfolge), ſagt Quinctilian,<lb/><hi rendition="#aq">„ipsa illa extempore dicendi facultas inanem modo loquacitatem dabit,<lb/> et verba in labris nascentia.“</hi> Ein gewöhnlicher Irrthum iſt es das natür-<lb/> liche Beredſamkeit zu nennen; es iſt das Gegentheil, weder natürlich, noch<lb/> beredt. Ein Menſch unter dem Einfluß ſtarker Gefühle oder Leidenſchaften,<lb/> der von allem was ſeine Seele füllt überſtrömt, bringt freilich einen mächti-<lb/> gen Eindruck auf ſeine Hörer hervor, und erringt manchmal ohne Kunſt die<lb/> höchſten Schönheiten der Rhetorik. Die Sprache der Leidenſchaft fließt leicht,<lb/> aber iſt gedrungen und einfach, das gerade Gegentheil jenes Wortſchwalls.<lb/> Dem ungeübten Redner gelingt das zuweilen vollkommen, aber dem geübten<lb/> wird es jedenfalls noch viel beſſer gelingen; dieſer beherrſcht die Gefühle ſeiner<lb/> Zuhörer, was auch immer der Zuſtand ſeiner eigenen ſeyn mag. Darin beſteht<lb/> der Werth des Studiums: es befähigt den Menſchen jederzeit das zu leiſten was<lb/> die Natur nur in ſeltenen Fällen lehrt. Für die Fehler der gern ins Breite<lb/> und Lehrhafte auseinander gehenden modernen Beredſamkeit gibt es jedenfalls<lb/> kein beſſeres Correctiv als die fleißige Betrachtung der antiken Muſter, beſon-<lb/> ders jener züchtigen Schönheit der griechiſchen Compoſition, und dazu die<lb/> ſtrenge Praxis ſchriftlicher Vorbereitung.“</p><lb/> <trailer> <hi rendition="#c">(Beſchluß folgt.)</hi> </trailer> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div n="2"> <head> <hi rendition="#b">Deutſchland.</hi> </head><lb/> <div n="3"> <head> <hi rendition="#g">Gr. Baden.</hi> </head><lb/> <div type="jArticle" n="4"> <dateline><hi rendition="#b">* Karlsruhe,</hi> 5 Jun.</dateline> <p>Trotz der ernſten Stimmung<lb/> im großen Vaterland, und bedenklicher Zeichen am Horizont, erhalten Sie aus<lb/> unſerm Lande nur Berichte von Jubel und von Feſten. Sind wir minder<lb/> deutſch oder leichtſinniger als unſere Brüder? Beides nicht. Unſere Feſte<lb/> haben ein eigenthümliches Gepräge und eine ernſte Bedeutung. Der Groß-<lb/> herzog in Begleitung der Großherzogin beſucht, bald nachdem die Landſtände<lb/> ſich verlagt haben, die Stadt Mannheim; er erſcheint beim Sängerfeſt in<lb/> Freiburg, er begibt ſich darauf nach Heidelberg. Die beiden Pfälzer Städte<lb/> empfangen ihn im ſchönſten Schmuck, ſie begleiten jeden ſeiner Schritte mit<lb/> Jubel, die Maſſe der Bevölkerung — einer ſehr beweglichen Bevölkerung,<lb/> welche ihre Geſinnung nicht zu entſtellen noch zurückzuhalten gewohnt iſt —<lb/> im ganzen, einzeln und durch ihre Vertreter, ſtrömt auf jeder Straße zu,<lb/> zeigt ihre Freude in ſtürmiſchen Zurufen, und wird nicht müde vom Empfang<lb/> bis zum Abſchied in Zeichen und Ausdrücken der Anhänglichkeit, der Befrie-<lb/> digung. Der Großherzog hat es herausgeſehen aus all dieſen Feuerzeichen<lb/> die ſie ihm anzündeten, und herausgehört aus ihrem Jauchzen — es war die<lb/> Antwort des Volks auf ſein Manifeſt vom 7 April, die Antwort auf ſeinen<lb/> Entſchluß das Concordat ſo nicht auszuführen. Dieſelbe freudige Stimmung<lb/> kam ihm von der Bürgerſchaft in Freiburg entgegen, und den Ausdruck der-<lb/> ſelben Geſinnung empfieng der jetzige Miniſterialpräſident, der bisherige<lb/> Freiburger Profeſſor Lamey, von der Feſtverſammlung wie von ſeinen dama-<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [2666/0002]
nicht nach dieſem Sitz der Wiſſenſchaft und Aufklärung zu pilgern, und ſie
müſſen ohne unſern Unterricht, wenn nicht ſchon durch die Erfahrung belehrt,
das Naturell eines Tyrannen kennen lernen: „Non ullum monstrum, nec
fœdius, nec tetrius, neque dîs hominibusque magis invisum terra
genuit, quam qui, formâ hominis, tamen immanitate morum vastis-
simas vincit belluas.“ Aber auch unſere engliſchen Nachbarn mögen ſich
bei uns Gewinn erholen, nicht bloß aus unſern Lehrvorträgen, ſondern auch
aus den Principien worauf unſer Lehrſyſtem gegründet iſt.“ Hier berührt
Brougham die Frage welche Methode die vorzüglichere ſey, die des Unter-
richts durch Collegiallehrer (tutors), welche an den alten engliſchen Univer-
ſitäten vorherrſcht, oder die in Schottland allein übliche „profeſſorliche“ Me-
thode, und meint: eine gleichgewogene Verbindung beider Unterrichtsarten ſey
wohl das beſte. Zugleich bemerkt er: das Wohnen der Studenten bei ihren
Eltern, Verwandten, oder ſonſt in anſtändigen Familien, verdiene den Vorzug
vor ihrem Zuſammenwohnen in Collegienhäuſern, und auch in Oxford und
Cambridge ſey letzteres nur durch den zufälligen Umſtand aufgekommen daß
dieſe kleinen Städte urſprünglich bloße Dörfer waren, in denen es bald an
Unterkunft für die zuſtrömende Jugend fehlte.
Der Redner wendet ſich nun an ſeine jüngern Zuhörer, und ermahnt
ſie ihr Augenmerk auf ein Hauptziel ihrer Studien zu richten. „Er-
klärt euch eh ihr weiter geht, was wählt ihr für eine Facultät?“ — Me-
phiſto erläutert dieſen Satz freilich viel pikanter, indeſſen Mephiſto iſt auch
weder Reichspeer noch Univerfitätskanzler. „Obgleich die Erwerbung allge-
meiner Kenntniſſe,“ ſagte Brougham, „eine Pflicht iſt, und die Beſchränkung
unſeres Studiums auf die engen Gränzen einer oder zweier Wiſſenszweige
den Geiſt ſchwächt und beengt, und ſelbſt eine vollſtändige Bemeiſterung der
gewählten Materien verhindert, weil keine Wiſſenſchaft vereinzelt daſteht, ſo
iſt es doch in jeder Beziehung rathſam, ja abſolut nothwendig, euch eine
Wiſſenſchaft als Hauptanfgabe des Lebens zu ſetzen, um jene gefährlichſte
aller Klippen, jenes ſchlimmſte aller Uebel zu vermeiden, Oberſlächlichkeit
des Wiſſens, eine eitle, hohle und dreiſte Polymathie. Es ſey euch
eine unverbrüchliche Regel: keine Materie, oder keinen Theil einer Materie,
zu ſtudieren ohne dabei bis auf den Grund zu gehen, jedes Studium, das ihr
euch vornehmt, auf gewiſſe Gränzen zu beſchränken, aber innerhalb derſelben
den Gegenſtand ganz zu bewältigen. Wir erlangen mit dieſer Beſcheidung
und Selbſtbegränzung den großen Vortheil daß wir uns gleichſam eine
Meridianlinie ziehen, von welcher fortan alle unſere Schritte nach andern
Richtungen ausgehen und wieder dahin einlenken. Alles was wir dann noch
unſerm Geiſt aneignen, gewinnt erhöhtes Intereſſe durch ſeinen Zuſammen-
hang mit unſerm Hauptſtudium; unſer Gedächtniß hält die acceſſoriſchen oder
untergeordneten Gegenſtände um ſo feſter, während ſie jenem zur Hülfe und
zur Beleuchtung dienen. Wer alles lernen und wiſſen will, wird es in allem
nur bis zur Mittelmäßigkeit bringen, und, ſelbſt bei ſeltenen Geiſtesgaben
und großem Fleiß, nichts ſchaffen was ächten und bleibenden Werth hat, ähn-
lich der amerikaniſchen Spottdroſſel (mocking-bird), welche alle Vogelſtim-
men im Walde nachmacht, aber keinen eigenen Geſang hat. Auch die großen
Leuchten der Welt beſtätigen dieſe Regel. Wäre Barrow durch ſeine äußern
Berufsgeſchäfte und ſein Amt als Kanzelredner nicht in ſeinen mathematiſchen
Forſchungen geſtört worden, ſo würde er wahrſcheinlich die große Entdeckung
des Calculs gemacht haben, welcher er, ſowie unter ähnlichen Umſtänden
Fermat, ſo nahe war. Was hätte ſich nicht von den kühnen und glücklichen
Conjecturen Franklins unter Leitung der ihm in all ihrer Strenge ſo ver-
trauten inductiven Methode erhoffen laſſen, hätte er nicht ſein Leben der,
allerdings wichtigern, Sache ſeines Vaterlandes und der Freiheit gewidmet?“
So nennt Brougham noch eine Anzahl berühmter Männer, und fragt: was ſie
wohl nicht alles in dem Fach geleiſtet haben würden, wenn ſie ſich nicht zugleich
auf jenes geworfen hätten? Sonderbar klingt es wenn er bedauert daß Car-
teſius durch ſeine metaphyſiſche Speculation ſich von ſeinen phyſikaliſchen
Studien habe ableiten laſſen, in denen er größeres geleiſtet haben würde.
Ebenſo würde Leibnitz dem dynamiſchen Syſtem Newtons nahe gekommen
ſeyn, wenn er ſeine Kraft nicht gleichfalls in Metaphyſik und mancherlei amt-
lichen Geſchäften zerſplittert hätte. Was hingegen eine concentrirte Geiſtes-
kraft vermöge, habe auf das glücklichſte Bacon bewieſen, als welcher ſich der
praktiſchen Anwendung ſeiner eigenen Philoſophie weislich enthielt, als er
fand daß ihm die gehörige Vorbereitung zu phyſikaliſchen Unterſuchungen
fehlte. Leonardo da Vinci würde nicht der große Maler geworden ſeyn, wenn
er ſeinem, zwar bedentenden, aber doch gegen ſein Künſtlergenie untergeord-
neten Talent für naturwiſſenſchaftliche Forſchung nachgehangen hätte. Be-
denklich war Broughams letztes Beiſpiel: „Wenn Voltaire ſein Studium der
Chemie verfolgt hätte, in welcher er nahe daran war zwei der größten Ent-
deckungen zu machen, ſo würde die Welt ſeine Tragödien, ſeine Romane und
ſeine — allgemeine Weltgeſchichte ſchwerlich erhalten haben.“ Würde das ein
ſehr beweinenswerther Verluſt geweſen ſeyn?
Sofort kommt Brougham auf ein Lieblingsthema: er empfiehlt der brit-
tiſchen Jugend, welche ſich zu forenſiſcher, Parlaments- oder Kanzelrednern
ausbilden ſoll, ein gründliches Studium der attiſchen Redner, namentlich des
Demoſthenes, und zwar in ähnlichen Worten wie in ſeinem bekannten (vor
einiger Zeit auch in der Allg. Ztg. erwähnten) Brief an Hrn. Zachary
Macaulay, als ihn dieſer wegen der Erziehung ſeines Sohns, des nachher
berühmt gewordenen Staatsmanns und Schriftſtellers, um Rath gefragt
hatte. Zugleich empfiehlt er die griechiſchen Mathematiker. „In der Mathe-
matik vernachläſſigt man heutzutage die griechiſche Geometrie; in den huma-
niſtiſchen Studien pflegt man zwar griechiſche Sprache und Litteratur, bevor-
zugt aber die Poeten vor den Rednern. Die unermeßliche Ueberlegenheit der
griechiſchen Beredſamkeit über die römiſche erhellt nicht bloß aus dem Eifer
womit der größte Meiſter der letztern ſein Leben lang, bis in ſein Alter hin-
auf, die attiſchen Muſter ſtudierte, überſetzte, nachahmte, ſondern für uns
iſt vor allem der Umſtand entſcheidend daß die griechiſche Beredſamkeit für unſere
moderne Debatte, unſere politiſche Geſchäftsbehandlung unvergleichlich beſſere
Vorbilder liefert als die römiſche. Während ſich in Wahrheit behaupten läßt
daß, bei all ihrer Vortrefflichkeit, kaum eine von Cicero’s Reden auch nur
theilweis in unſerem Parlament oder auf unſerem Forum erträglich wäre,
könnte jede griechiſche Rede unter ähnlichen Umſtänden, und mit geringen
Aenderungen, vor unſern Tribunalen und politiſchen Verſammlungen gehal-
ten werden. Einige von den ſchönſten Reden des Demoſthenes drehen ſich
um Privatrechtshändel; dieſe werden jetzt wenig ſtudiert, aber ſie verdienen
nach Form und Inhalt alle Beachtung u. ſ. w.“ Wovor Brougham beſon-
ders warnt, das iſt — unter Hinweis auf Demoſthenes, der dem Extempo-
riren erklärtermaßen abhold war — das öffentliche Sprechen ohne Vorberei-
tung. „Wer keine natürliche Anlage zum Redner hat, wird in dieſem Falle
ganz ſchlecht ſprechen, der von Natur Begabte wenigſtens ohne Beredſamkeit.
Eine feine Bemerkung oder ein zutreffendes Bilo mag ihm einfallen; aber die
lockere, liederliche und ärmliche Diction, die Kunſtloſtgkeit in Verbindung und
Anordnung der Ideen, die Unfähigkeit ſeine Gedanken in einer gewiſſen Fülle
vorzuführen, und dieß namentlich in beſter und wirkſamſter Form zu thun —
alles das wird den Stegreifſprecher als einen gewöhnlichen Plauderer erſcheinen
laſſen. Mancher Sprecher der Art iſt niemals um ein Wort verlegen, aber
kaum eines ſeiner Worte iſt des Anhörens werth. „Sine hac quidem con-
seientiâ“ (d. h. ohne klar durchdachte Gedankenfolge), ſagt Quinctilian,
„ipsa illa extempore dicendi facultas inanem modo loquacitatem dabit,
et verba in labris nascentia.“ Ein gewöhnlicher Irrthum iſt es das natür-
liche Beredſamkeit zu nennen; es iſt das Gegentheil, weder natürlich, noch
beredt. Ein Menſch unter dem Einfluß ſtarker Gefühle oder Leidenſchaften,
der von allem was ſeine Seele füllt überſtrömt, bringt freilich einen mächti-
gen Eindruck auf ſeine Hörer hervor, und erringt manchmal ohne Kunſt die
höchſten Schönheiten der Rhetorik. Die Sprache der Leidenſchaft fließt leicht,
aber iſt gedrungen und einfach, das gerade Gegentheil jenes Wortſchwalls.
Dem ungeübten Redner gelingt das zuweilen vollkommen, aber dem geübten
wird es jedenfalls noch viel beſſer gelingen; dieſer beherrſcht die Gefühle ſeiner
Zuhörer, was auch immer der Zuſtand ſeiner eigenen ſeyn mag. Darin beſteht
der Werth des Studiums: es befähigt den Menſchen jederzeit das zu leiſten was
die Natur nur in ſeltenen Fällen lehrt. Für die Fehler der gern ins Breite
und Lehrhafte auseinander gehenden modernen Beredſamkeit gibt es jedenfalls
kein beſſeres Correctiv als die fleißige Betrachtung der antiken Muſter, beſon-
ders jener züchtigen Schönheit der griechiſchen Compoſition, und dazu die
ſtrenge Praxis ſchriftlicher Vorbereitung.“
(Beſchluß folgt.)
Deutſchland.
Gr. Baden.
* Karlsruhe, 5 Jun.Trotz der ernſten Stimmung
im großen Vaterland, und bedenklicher Zeichen am Horizont, erhalten Sie aus
unſerm Lande nur Berichte von Jubel und von Feſten. Sind wir minder
deutſch oder leichtſinniger als unſere Brüder? Beides nicht. Unſere Feſte
haben ein eigenthümliches Gepräge und eine ernſte Bedeutung. Der Groß-
herzog in Begleitung der Großherzogin beſucht, bald nachdem die Landſtände
ſich verlagt haben, die Stadt Mannheim; er erſcheint beim Sängerfeſt in
Freiburg, er begibt ſich darauf nach Heidelberg. Die beiden Pfälzer Städte
empfangen ihn im ſchönſten Schmuck, ſie begleiten jeden ſeiner Schritte mit
Jubel, die Maſſe der Bevölkerung — einer ſehr beweglichen Bevölkerung,
welche ihre Geſinnung nicht zu entſtellen noch zurückzuhalten gewohnt iſt —
im ganzen, einzeln und durch ihre Vertreter, ſtrömt auf jeder Straße zu,
zeigt ihre Freude in ſtürmiſchen Zurufen, und wird nicht müde vom Empfang
bis zum Abſchied in Zeichen und Ausdrücken der Anhänglichkeit, der Befrie-
digung. Der Großherzog hat es herausgeſehen aus all dieſen Feuerzeichen
die ſie ihm anzündeten, und herausgehört aus ihrem Jauchzen — es war die
Antwort des Volks auf ſein Manifeſt vom 7 April, die Antwort auf ſeinen
Entſchluß das Concordat ſo nicht auszuführen. Dieſelbe freudige Stimmung
kam ihm von der Bürgerſchaft in Freiburg entgegen, und den Ausdruck der-
ſelben Geſinnung empfieng der jetzige Miniſterialpräſident, der bisherige
Freiburger Profeſſor Lamey, von der Feſtverſammlung wie von ſeinen dama-
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(2022-02-11T12:00:00Z)
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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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