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Allgemeine Zeitung, Nr. 14, 15. Januar 1924.

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Dienstag, den 15. Januar 1924 Allgemeine Zeitung. Nr. 14
[Spaltenumbruch]
Der neue Kurs in England

(Von unserem Korrespondenten)


In einer Woche wird England eine Antwort
auf die große Frage haben, die gegenwärtig in
allen Versammlungen und Klubs, selbst auf der
Straße erörtert wird: Werden wir eine Arbeiter-
regierung haben oder nicht?

Die gegenwärtige Situation ist ein direktes Er-
gebnis jener berühmten Versammlung des Carl-
ton Clubs, die den allgemeinen Wahlen des Jah-
res 1922 unmittelbar vorausging und sie verur-
sachte. Selbst die unentwegtesten Mitglieder der
Diehard-Gruppe, durch deren Druck die Lösung
der Koalition beschlossen wurde, würden es sich
heute sehr überlegen, den damaligen Schritt noch
einmal zu tun. Bonar Laws Erfolg wurde nur
dadurch möglich, daß er vor den Wahlen zwei
einschneidende Verpflichtungen auf sich nahm:
1. daß die Konservativen keine Gesetzgebung ein-
leiten würden, die tiefgreifende Aenderungen zur
Folge hätte; 2. daß sie vor allem keinen Versuch
machen würden, das fiskalische System zu ändern.
Als Baldwin, um seinen Mißerfolg in der aus-
wärtigen Politik zu verschleiern, die Befreiung
von dieser Verpflichtung verlangte, legte er nicht
nur die Grundlage für den Mißerfolg seiner
Partei bei den jetzigen Wahlen, sondern führte
auch mit einem Schlage die bis dahin für unmög-
lich gehaltene Wiedervereinigung der Liberalen
herbei. Das Eintreten Baldwins für eine ge-
mäßigte Schutzzollpolitik, das den Liberalen er-
möglichte, auf die ihnen gemeinsame Plattform
des Freihandels zu springen, wurde veranlaßt
durch die Haltung der Dominions auf der Reichs-
konferenz. Diese hatten als Entgelt für eine Festi-
gung des Reichsverbandes Vorzugsrechte für ihre
Ausfuhrprodukte gefordert. Baldwin hatte sich
wohl gehütet, von Zöllen auf Korn und Fleisch zu
sprechen, aber die Beschränkung der geforderten
Zollpolitik auf getrocknete Früchte, Tabak, Wein,
Zucker und Büchsenfische, machte es den Liberalen
und besonders dem soeben von seinem amerika-
nischen Triumphzuge zurückgekehrten Lloyd George
leicht, die Unwirksamkeit dieser Maßregeln auf-
zuzeigen. Trotzdem gingen die Konservativen
wiederum als stärkste Partei aus den Wahlen
hervor, jedoch ihre Mehrheit war dahin, und 192
Abgeordnete der Labour Party sahen sich plötzlich
wider eigenes Erwarten vor die Anfgabe gestellt,
eine Regierung zu bilden.

Bis Asquith erklärte, daß die Liberalen keinen
Finger rühren würden, um die Regierung Bald-
[Spaltenumbruch] win zu halten, wurde der Ernst der innerpoli-
tischen Lage noch nicht mit voller Deutlichkeit sicht-
bar. Die Stellungnahme Asquiths ist eine Aus-
wirkung des seit Jahren in England geläufigen
Wortes: Lebour must given its chance, die Ar-
beiterpartei soll einmal ihre Kunst versuchen. Im
jetzigen Augenblick, meinte Asquith, wo den 192
Abgeordneten der Arbeiterpartei 420 Konservative
und Liberale gegenüberstehen, sei das ein völlig
ungefährliches Experiment. Seit dieser Erklärung
läßt die Rothermere-Presse, die vor den Wahlen
mit der einzigen und offen ausgesprochenen Ab-
sicht, Lord Grey zum Außenminister zu machen,
für die Liberalen eingetreten war, keinen Tag
vorübergehen, ohne die Haltung der Liberalen
auf das schärfste anzugreifen und die Gefährlich-
keit dieses Experiments in den schwärzesten Far-
ben auszumalen. Die Morning Post bezeichnete
die liberale Taktik als einen Verrat an der be-
stehenden sozialen Ordnung. Der Daily Tele-
graph, der für eine Verständigung der beiden
großen historischen Parteien, für ein liberales
Ministerium mit Unterstützung der Konservativen
eingetreten war, ist von Tag zu Tag resignierter
geworden. Von der alten Koalition ist nirgends
mehr die Rede. Auch die Londoner Konservativen
haben eine solche nicht im Auge, wenn sie Bald-
win in einer Adresse beschwören, mit Asquith ein
Uebereinkommen zu treffen, bevor das Parlament
zusammentritt. Im Gegensatz zu ihnen hat Lord
Curzon in seinem Neujahrsbrief an die Primrose
League die Taktik empfohlen, keine langen Ver-
handlungen mit den Liberalen anzuknüpfen. Das
beste, was man tun könne, sei, jetzt schon die
nächsten Wahlen vorzubereiten. Derart verworren
ist die parlamentarische Lage. Welche Haltung
nimmt die Arbeiterpartei ein?

Seitdem sich die Labour Party vor die Mög-
lichkeit gestellt sah, die Regierung zu bilden, ist
in keinem Augenblick von der Durchführung ihrer
programmatischen Grundsätze die Rede gewesen.
Am klarsten bezeichnet ihre Taktik ein Artikel im
New Statesman: Was eine Arbeiterregierung
tun könnte. Die in diesem Artikel niedergelegten
Ansichten sind soeben voll und ganz von der Jah-
reskonferenz der schottischen Arbeiterpartei an-
erkannt und übernommen worden. Die Arbeiter-
partei hat die Wahlen unter der Parole der
Kapitalabgabe durchgefochten. Von dieser Forde-
rung ist es bereits still geworden. Die auf der
Glasgower Konferenz gefaßte Resolution be-
schränkte sich auf folgende Punkte: Arbeiten von
öffentlichem Nutzen in großem Maßstabe zur Be-
hebung der Arbeitslosigkeit, wie Wohnungs- und
[Spaltenumbruch] Schulbauten, Anlage von Straßen und Kanälen,
Aufforstungen und Urbarmachungen. Dieses sehr
bescheidene Programm erhält aber durch zwei
außenpolitische Forderungen eine bedeutende Um-
rahmung: umgehende Regelung der Reparations-
frage und Anerkennung der russischen Regierung.
Wenn man sich vor Augen hält, daß zu einer
Aenderung der inneren Politik neue Gesetze not-
wendig sind, von denen die Labour Party nicht
ein einziges von Bedeutung durchbringen könnte,
Aenderungen in der auswärtigen Politik aber
erst nach Vollzug dem Parlament zur nachträg-
lichen Genehmigung vorgelegt werden müssen, so
begreift man fofort die Todesängste der Konser-
vativen. Die Diehards gar sehen bereits den
Untergang Englands voraus. Die Labour Party
steht bereits unter dem Druck der Kommunisten,
und vor kurzem hat die Exekutive der Partei eine
Maßnahme beschlossen, die The Workers Weekly
eine "historische Kapitulation" nennt. Man hat
Delegierten der Kommunisten gestattet, an den
Parteikonferenzen teilzunehmen, und kommunisti-
schen Militanten, Mitglieder der Arbeiterpartei
zu werden. Man kann sich leicht vorstellen --
die Beispiele auf dem Kontinent sind reichlich --,
wie dieser Druck von links anwachsen wird, wenn
die Arbeiterpartei an der Regierung ist, da ja
auch durch rein verwaltungstechnische Maßnah-
men ohne Inanspruchnahme der Gesetzgebungs-
maschine eingreifende Aenderungen auf inner-
politischem Gebiete durchgeführt werden könnten.

Die eigentliche Bedeutung einer Arbeiterregie-
rung liegt jedoch auf außenpolitischem Gebiete.
Wenn die Labour Party sich auf die oben be-
zeichneten außenpolitischen Punkte beschränken
würde, so könnte sie sogar der Unterstützung eines
großen Teiles der Liberalen gewiß sein. Aber die
Tories heulen. Was geschieht mit den Beschlüssen
der Reichskonferenz? Was ist mit der Flotten-
basis in Singapore? Was ist vor allem mit
Indien? Die Swaraj Bewegung ("völlige Unab-
hängigkeit des indischen Volkes") hat dort bei den
letzten Wahlen große Erfolge davongetragen. Der
Kongreß der indischen Liberalen in Allahabad
hat die Freilassung Gandhis gefordert, und Shau-
kat Ali erklärte dort, jeder Moslem müsse Eng-
land heute als den größten Feind des Islams
betrachten.

Trotzdem wäre es möglich, daß eine Arbeiter-
regierung, obschon sie nur 4,5 aus 20 Millionen
Wählern vertritt, sich mit ihrem außenpolitischen
Programm einige Zeit am Ruder halten könnte.
Man kann diese Behauptung wagen, wenn man
die Gedanken betrachtet, die in einem aufsehen-
[Spaltenumbruch] erregenden, mit "Augur" gezeichneten Artikel des
soeben erschienenen Januarheftes der bedeutenden
und einflußreichen Fortnightly Review entwickelt
werden. Hier sieht man die Möglichkeit, daß eine
durch eine Arbeiterregierung eingeleitete Außen-
politik von einem liberalen Ministerium mit
Unterstützung der Konservativen fortgesetzt wer-
den könnte. Es wird folgende interessante Skizze
einer solchen Politik entworfen: Das Aufhören
der Entente cordiale muß notwendig eine Aende-
rung der englischen Politik nach sich ziehen. Man
muß zu dem alten Grundsatz der Aufrechterhal-
tung des europäischen Gleichgewichts zurück-
kehren. Zuerst ist eine Verstärkung der diplomati-
schen Stellung Englands erforderlich, indem der
Völkerbund durch den Eintritt Deutschlands und
Rußlands erweitert wird. Bedingung für Deutsch-
land wäre die Anerkennung des Versailler Ver-
trages, für Rußland Aufgabe des intransigenten
kommunistischen Programms und Einstellung der
ausländischen Propaganda. Die Tschechoslowakei
ist von Frankreich zu trennen, indem England ihr
eine Sicherung gegen einen deutschen Angriff
durch eine im Kriegsfall eintretende Besetzung
Hamburgs anbietet. Eine ähnliche Sicherheit ist
Belgien zu bieten. Hierauf ist die Linie London --
Berlin -- Warschau -- Moskau zu ziehen. Im
Mittelmeer ist ein englisch-italienisch-spanisches
Bündnis durch Preisgabe der griechischen Inter-
essen an Italien zustande zu bringen. Das
Schlimmste, was England zu befürchten hat, ist
eine deutsch-französische Verständigung.

Nach all diesem kann man sich eine Vorstellung
davon machen, in welchem Gärungszustande sich
die englische Politik befindet, und mit welch ängst-
licher Spannung man hier den nächsten Wochen
entgegensieht.

[irrelevantes Material]
[irrelevantes Material]
Dienstag, den 15. Januar 1924 Allgemeine Zeitung. Nr. 14
[Spaltenumbruch]
Der neue Kurs in England

(Von unſerem Korreſpondenten)


In einer Woche wird England eine Antwort
auf die große Frage haben, die gegenwärtig in
allen Verſammlungen und Klubs, ſelbſt auf der
Straße erörtert wird: Werden wir eine Arbeiter-
regierung haben oder nicht?

Die gegenwärtige Situation iſt ein direktes Er-
gebnis jener berühmten Verſammlung des Carl-
ton Clubs, die den allgemeinen Wahlen des Jah-
res 1922 unmittelbar vorausging und ſie verur-
ſachte. Selbſt die unentwegteſten Mitglieder der
Diehard-Gruppe, durch deren Druck die Löſung
der Koalition beſchloſſen wurde, würden es ſich
heute ſehr überlegen, den damaligen Schritt noch
einmal zu tun. Bonar Laws Erfolg wurde nur
dadurch möglich, daß er vor den Wahlen zwei
einſchneidende Verpflichtungen auf ſich nahm:
1. daß die Konſervativen keine Geſetzgebung ein-
leiten würden, die tiefgreifende Aenderungen zur
Folge hätte; 2. daß ſie vor allem keinen Verſuch
machen würden, das fiskaliſche Syſtem zu ändern.
Als Baldwin, um ſeinen Mißerfolg in der aus-
wärtigen Politik zu verſchleiern, die Befreiung
von dieſer Verpflichtung verlangte, legte er nicht
nur die Grundlage für den Mißerfolg ſeiner
Partei bei den jetzigen Wahlen, ſondern führte
auch mit einem Schlage die bis dahin für unmög-
lich gehaltene Wiedervereinigung der Liberalen
herbei. Das Eintreten Baldwins für eine ge-
mäßigte Schutzzollpolitik, das den Liberalen er-
möglichte, auf die ihnen gemeinſame Plattform
des Freihandels zu ſpringen, wurde veranlaßt
durch die Haltung der Dominions auf der Reichs-
konferenz. Dieſe hatten als Entgelt für eine Feſti-
gung des Reichsverbandes Vorzugsrechte für ihre
Ausfuhrprodukte gefordert. Baldwin hatte ſich
wohl gehütet, von Zöllen auf Korn und Fleiſch zu
ſprechen, aber die Beſchränkung der geforderten
Zollpolitik auf getrocknete Früchte, Tabak, Wein,
Zucker und Büchſenfiſche, machte es den Liberalen
und beſonders dem ſoeben von ſeinem amerika-
niſchen Triumphzuge zurückgekehrten Lloyd George
leicht, die Unwirkſamkeit dieſer Maßregeln auf-
zuzeigen. Trotzdem gingen die Konſervativen
wiederum als ſtärkſte Partei aus den Wahlen
hervor, jedoch ihre Mehrheit war dahin, und 192
Abgeordnete der Labour Party ſahen ſich plötzlich
wider eigenes Erwarten vor die Anfgabe geſtellt,
eine Regierung zu bilden.

Bis Aſquith erklärte, daß die Liberalen keinen
Finger rühren würden, um die Regierung Bald-
[Spaltenumbruch] win zu halten, wurde der Ernſt der innerpoli-
tiſchen Lage noch nicht mit voller Deutlichkeit ſicht-
bar. Die Stellungnahme Aſquiths iſt eine Aus-
wirkung des ſeit Jahren in England geläufigen
Wortes: Lebour must given its chance, die Ar-
beiterpartei ſoll einmal ihre Kunſt verſuchen. Im
jetzigen Augenblick, meinte Aſquith, wo den 192
Abgeordneten der Arbeiterpartei 420 Konſervative
und Liberale gegenüberſtehen, ſei das ein völlig
ungefährliches Experiment. Seit dieſer Erklärung
läßt die Rothermere-Preſſe, die vor den Wahlen
mit der einzigen und offen ausgeſprochenen Ab-
ſicht, Lord Grey zum Außenminiſter zu machen,
für die Liberalen eingetreten war, keinen Tag
vorübergehen, ohne die Haltung der Liberalen
auf das ſchärfſte anzugreifen und die Gefährlich-
keit dieſes Experiments in den ſchwärzeſten Far-
ben auszumalen. Die Morning Poſt bezeichnete
die liberale Taktik als einen Verrat an der be-
ſtehenden ſozialen Ordnung. Der Daily Tele-
graph, der für eine Verſtändigung der beiden
großen hiſtoriſchen Parteien, für ein liberales
Miniſterium mit Unterſtützung der Konſervativen
eingetreten war, iſt von Tag zu Tag reſignierter
geworden. Von der alten Koalition iſt nirgends
mehr die Rede. Auch die Londoner Konſervativen
haben eine ſolche nicht im Auge, wenn ſie Bald-
win in einer Adreſſe beſchwören, mit Aſquith ein
Uebereinkommen zu treffen, bevor das Parlament
zuſammentritt. Im Gegenſatz zu ihnen hat Lord
Curzon in ſeinem Neujahrsbrief an die Primroſe
League die Taktik empfohlen, keine langen Ver-
handlungen mit den Liberalen anzuknüpfen. Das
beſte, was man tun könne, ſei, jetzt ſchon die
nächſten Wahlen vorzubereiten. Derart verworren
iſt die parlamentariſche Lage. Welche Haltung
nimmt die Arbeiterpartei ein?

Seitdem ſich die Labour Party vor die Mög-
lichkeit geſtellt ſah, die Regierung zu bilden, iſt
in keinem Augenblick von der Durchführung ihrer
programmatiſchen Grundſätze die Rede geweſen.
Am klarſten bezeichnet ihre Taktik ein Artikel im
New Statesman: Was eine Arbeiterregierung
tun könnte. Die in dieſem Artikel niedergelegten
Anſichten ſind ſoeben voll und ganz von der Jah-
reskonferenz der ſchottiſchen Arbeiterpartei an-
erkannt und übernommen worden. Die Arbeiter-
partei hat die Wahlen unter der Parole der
Kapitalabgabe durchgefochten. Von dieſer Forde-
rung iſt es bereits ſtill geworden. Die auf der
Glasgower Konferenz gefaßte Reſolution be-
ſchränkte ſich auf folgende Punkte: Arbeiten von
öffentlichem Nutzen in großem Maßſtabe zur Be-
hebung der Arbeitsloſigkeit, wie Wohnungs- und
[Spaltenumbruch] Schulbauten, Anlage von Straßen und Kanälen,
Aufforſtungen und Urbarmachungen. Dieſes ſehr
beſcheidene Programm erhält aber durch zwei
außenpolitiſche Forderungen eine bedeutende Um-
rahmung: umgehende Regelung der Reparations-
frage und Anerkennung der ruſſiſchen Regierung.
Wenn man ſich vor Augen hält, daß zu einer
Aenderung der inneren Politik neue Geſetze not-
wendig ſind, von denen die Labour Party nicht
ein einziges von Bedeutung durchbringen könnte,
Aenderungen in der auswärtigen Politik aber
erſt nach Vollzug dem Parlament zur nachträg-
lichen Genehmigung vorgelegt werden müſſen, ſo
begreift man fofort die Todesängſte der Konſer-
vativen. Die Diehards gar ſehen bereits den
Untergang Englands voraus. Die Labour Party
ſteht bereits unter dem Druck der Kommuniſten,
und vor kurzem hat die Exekutive der Partei eine
Maßnahme beſchloſſen, die The Workers Weekly
eine „hiſtoriſche Kapitulation“ nennt. Man hat
Delegierten der Kommuniſten geſtattet, an den
Parteikonferenzen teilzunehmen, und kommuniſti-
ſchen Militanten, Mitglieder der Arbeiterpartei
zu werden. Man kann ſich leicht vorſtellen —
die Beiſpiele auf dem Kontinent ſind reichlich —,
wie dieſer Druck von links anwachſen wird, wenn
die Arbeiterpartei an der Regierung iſt, da ja
auch durch rein verwaltungstechniſche Maßnah-
men ohne Inanſpruchnahme der Geſetzgebungs-
maſchine eingreifende Aenderungen auf inner-
politiſchem Gebiete durchgeführt werden könnten.

Die eigentliche Bedeutung einer Arbeiterregie-
rung liegt jedoch auf außenpolitiſchem Gebiete.
Wenn die Labour Party ſich auf die oben be-
zeichneten außenpolitiſchen Punkte beſchränken
würde, ſo könnte ſie ſogar der Unterſtützung eines
großen Teiles der Liberalen gewiß ſein. Aber die
Tories heulen. Was geſchieht mit den Beſchlüſſen
der Reichskonferenz? Was iſt mit der Flotten-
baſis in Singapore? Was iſt vor allem mit
Indien? Die Swaraj Bewegung („völlige Unab-
hängigkeit des indiſchen Volkes“) hat dort bei den
letzten Wahlen große Erfolge davongetragen. Der
Kongreß der indiſchen Liberalen in Allahabad
hat die Freilaſſung Gandhis gefordert, und Shau-
kat Ali erklärte dort, jeder Moslem müſſe Eng-
land heute als den größten Feind des Islams
betrachten.

Trotzdem wäre es möglich, daß eine Arbeiter-
regierung, obſchon ſie nur 4,5 aus 20 Millionen
Wählern vertritt, ſich mit ihrem außenpolitiſchen
Programm einige Zeit am Ruder halten könnte.
Man kann dieſe Behauptung wagen, wenn man
die Gedanken betrachtet, die in einem aufſehen-
[Spaltenumbruch] erregenden, mit „Augur“ gezeichneten Artikel des
ſoeben erſchienenen Januarheftes der bedeutenden
und einflußreichen Fortnightly Review entwickelt
werden. Hier ſieht man die Möglichkeit, daß eine
durch eine Arbeiterregierung eingeleitete Außen-
politik von einem liberalen Miniſterium mit
Unterſtützung der Konſervativen fortgeſetzt wer-
den könnte. Es wird folgende intereſſante Skizze
einer ſolchen Politik entworfen: Das Aufhören
der Entente cordiale muß notwendig eine Aende-
rung der engliſchen Politik nach ſich ziehen. Man
muß zu dem alten Grundſatz der Aufrechterhal-
tung des europäiſchen Gleichgewichts zurück-
kehren. Zuerſt iſt eine Verſtärkung der diplomati-
ſchen Stellung Englands erforderlich, indem der
Völkerbund durch den Eintritt Deutſchlands und
Rußlands erweitert wird. Bedingung für Deutſch-
land wäre die Anerkennung des Verſailler Ver-
trages, für Rußland Aufgabe des intranſigenten
kommuniſtiſchen Programms und Einſtellung der
ausländiſchen Propaganda. Die Tſchechoſlowakei
iſt von Frankreich zu trennen, indem England ihr
eine Sicherung gegen einen deutſchen Angriff
durch eine im Kriegsfall eintretende Beſetzung
Hamburgs anbietet. Eine ähnliche Sicherheit iſt
Belgien zu bieten. Hierauf iſt die Linie London —
Berlin — Warſchau — Moskau zu ziehen. Im
Mittelmeer iſt ein engliſch-italieniſch-ſpaniſches
Bündnis durch Preisgabe der griechiſchen Inter-
eſſen an Italien zuſtande zu bringen. Das
Schlimmſte, was England zu befürchten hat, iſt
eine deutſch-franzöſiſche Verſtändigung.

Nach all dieſem kann man ſich eine Vorſtellung
davon machen, in welchem Gärungszuſtande ſich
die engliſche Politik befindet, und mit welch ängſt-
licher Spannung man hier den nächſten Wochen
entgegenſieht.

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[Seite 7[7]/0007] Dienstag, den 15. Januar 1924 Allgemeine Zeitung. Nr. 14 Der neue Kurs in England (Von unſerem Korreſpondenten) London, 9. Jan. In einer Woche wird England eine Antwort auf die große Frage haben, die gegenwärtig in allen Verſammlungen und Klubs, ſelbſt auf der Straße erörtert wird: Werden wir eine Arbeiter- regierung haben oder nicht? Die gegenwärtige Situation iſt ein direktes Er- gebnis jener berühmten Verſammlung des Carl- ton Clubs, die den allgemeinen Wahlen des Jah- res 1922 unmittelbar vorausging und ſie verur- ſachte. Selbſt die unentwegteſten Mitglieder der Diehard-Gruppe, durch deren Druck die Löſung der Koalition beſchloſſen wurde, würden es ſich heute ſehr überlegen, den damaligen Schritt noch einmal zu tun. Bonar Laws Erfolg wurde nur dadurch möglich, daß er vor den Wahlen zwei einſchneidende Verpflichtungen auf ſich nahm: 1. daß die Konſervativen keine Geſetzgebung ein- leiten würden, die tiefgreifende Aenderungen zur Folge hätte; 2. daß ſie vor allem keinen Verſuch machen würden, das fiskaliſche Syſtem zu ändern. Als Baldwin, um ſeinen Mißerfolg in der aus- wärtigen Politik zu verſchleiern, die Befreiung von dieſer Verpflichtung verlangte, legte er nicht nur die Grundlage für den Mißerfolg ſeiner Partei bei den jetzigen Wahlen, ſondern führte auch mit einem Schlage die bis dahin für unmög- lich gehaltene Wiedervereinigung der Liberalen herbei. Das Eintreten Baldwins für eine ge- mäßigte Schutzzollpolitik, das den Liberalen er- möglichte, auf die ihnen gemeinſame Plattform des Freihandels zu ſpringen, wurde veranlaßt durch die Haltung der Dominions auf der Reichs- konferenz. Dieſe hatten als Entgelt für eine Feſti- gung des Reichsverbandes Vorzugsrechte für ihre Ausfuhrprodukte gefordert. Baldwin hatte ſich wohl gehütet, von Zöllen auf Korn und Fleiſch zu ſprechen, aber die Beſchränkung der geforderten Zollpolitik auf getrocknete Früchte, Tabak, Wein, Zucker und Büchſenfiſche, machte es den Liberalen und beſonders dem ſoeben von ſeinem amerika- niſchen Triumphzuge zurückgekehrten Lloyd George leicht, die Unwirkſamkeit dieſer Maßregeln auf- zuzeigen. Trotzdem gingen die Konſervativen wiederum als ſtärkſte Partei aus den Wahlen hervor, jedoch ihre Mehrheit war dahin, und 192 Abgeordnete der Labour Party ſahen ſich plötzlich wider eigenes Erwarten vor die Anfgabe geſtellt, eine Regierung zu bilden. Bis Aſquith erklärte, daß die Liberalen keinen Finger rühren würden, um die Regierung Bald- win zu halten, wurde der Ernſt der innerpoli- tiſchen Lage noch nicht mit voller Deutlichkeit ſicht- bar. Die Stellungnahme Aſquiths iſt eine Aus- wirkung des ſeit Jahren in England geläufigen Wortes: Lebour must given its chance, die Ar- beiterpartei ſoll einmal ihre Kunſt verſuchen. Im jetzigen Augenblick, meinte Aſquith, wo den 192 Abgeordneten der Arbeiterpartei 420 Konſervative und Liberale gegenüberſtehen, ſei das ein völlig ungefährliches Experiment. Seit dieſer Erklärung läßt die Rothermere-Preſſe, die vor den Wahlen mit der einzigen und offen ausgeſprochenen Ab- ſicht, Lord Grey zum Außenminiſter zu machen, für die Liberalen eingetreten war, keinen Tag vorübergehen, ohne die Haltung der Liberalen auf das ſchärfſte anzugreifen und die Gefährlich- keit dieſes Experiments in den ſchwärzeſten Far- ben auszumalen. Die Morning Poſt bezeichnete die liberale Taktik als einen Verrat an der be- ſtehenden ſozialen Ordnung. Der Daily Tele- graph, der für eine Verſtändigung der beiden großen hiſtoriſchen Parteien, für ein liberales Miniſterium mit Unterſtützung der Konſervativen eingetreten war, iſt von Tag zu Tag reſignierter geworden. Von der alten Koalition iſt nirgends mehr die Rede. Auch die Londoner Konſervativen haben eine ſolche nicht im Auge, wenn ſie Bald- win in einer Adreſſe beſchwören, mit Aſquith ein Uebereinkommen zu treffen, bevor das Parlament zuſammentritt. Im Gegenſatz zu ihnen hat Lord Curzon in ſeinem Neujahrsbrief an die Primroſe League die Taktik empfohlen, keine langen Ver- handlungen mit den Liberalen anzuknüpfen. Das beſte, was man tun könne, ſei, jetzt ſchon die nächſten Wahlen vorzubereiten. Derart verworren iſt die parlamentariſche Lage. Welche Haltung nimmt die Arbeiterpartei ein? Seitdem ſich die Labour Party vor die Mög- lichkeit geſtellt ſah, die Regierung zu bilden, iſt in keinem Augenblick von der Durchführung ihrer programmatiſchen Grundſätze die Rede geweſen. Am klarſten bezeichnet ihre Taktik ein Artikel im New Statesman: Was eine Arbeiterregierung tun könnte. Die in dieſem Artikel niedergelegten Anſichten ſind ſoeben voll und ganz von der Jah- reskonferenz der ſchottiſchen Arbeiterpartei an- erkannt und übernommen worden. Die Arbeiter- partei hat die Wahlen unter der Parole der Kapitalabgabe durchgefochten. Von dieſer Forde- rung iſt es bereits ſtill geworden. Die auf der Glasgower Konferenz gefaßte Reſolution be- ſchränkte ſich auf folgende Punkte: Arbeiten von öffentlichem Nutzen in großem Maßſtabe zur Be- hebung der Arbeitsloſigkeit, wie Wohnungs- und Schulbauten, Anlage von Straßen und Kanälen, Aufforſtungen und Urbarmachungen. Dieſes ſehr beſcheidene Programm erhält aber durch zwei außenpolitiſche Forderungen eine bedeutende Um- rahmung: umgehende Regelung der Reparations- frage und Anerkennung der ruſſiſchen Regierung. Wenn man ſich vor Augen hält, daß zu einer Aenderung der inneren Politik neue Geſetze not- wendig ſind, von denen die Labour Party nicht ein einziges von Bedeutung durchbringen könnte, Aenderungen in der auswärtigen Politik aber erſt nach Vollzug dem Parlament zur nachträg- lichen Genehmigung vorgelegt werden müſſen, ſo begreift man fofort die Todesängſte der Konſer- vativen. Die Diehards gar ſehen bereits den Untergang Englands voraus. Die Labour Party ſteht bereits unter dem Druck der Kommuniſten, und vor kurzem hat die Exekutive der Partei eine Maßnahme beſchloſſen, die The Workers Weekly eine „hiſtoriſche Kapitulation“ nennt. Man hat Delegierten der Kommuniſten geſtattet, an den Parteikonferenzen teilzunehmen, und kommuniſti- ſchen Militanten, Mitglieder der Arbeiterpartei zu werden. Man kann ſich leicht vorſtellen — die Beiſpiele auf dem Kontinent ſind reichlich —, wie dieſer Druck von links anwachſen wird, wenn die Arbeiterpartei an der Regierung iſt, da ja auch durch rein verwaltungstechniſche Maßnah- men ohne Inanſpruchnahme der Geſetzgebungs- maſchine eingreifende Aenderungen auf inner- politiſchem Gebiete durchgeführt werden könnten. Die eigentliche Bedeutung einer Arbeiterregie- rung liegt jedoch auf außenpolitiſchem Gebiete. Wenn die Labour Party ſich auf die oben be- zeichneten außenpolitiſchen Punkte beſchränken würde, ſo könnte ſie ſogar der Unterſtützung eines großen Teiles der Liberalen gewiß ſein. Aber die Tories heulen. Was geſchieht mit den Beſchlüſſen der Reichskonferenz? Was iſt mit der Flotten- baſis in Singapore? Was iſt vor allem mit Indien? Die Swaraj Bewegung („völlige Unab- hängigkeit des indiſchen Volkes“) hat dort bei den letzten Wahlen große Erfolge davongetragen. Der Kongreß der indiſchen Liberalen in Allahabad hat die Freilaſſung Gandhis gefordert, und Shau- kat Ali erklärte dort, jeder Moslem müſſe Eng- land heute als den größten Feind des Islams betrachten. Trotzdem wäre es möglich, daß eine Arbeiter- regierung, obſchon ſie nur 4,5 aus 20 Millionen Wählern vertritt, ſich mit ihrem außenpolitiſchen Programm einige Zeit am Ruder halten könnte. Man kann dieſe Behauptung wagen, wenn man die Gedanken betrachtet, die in einem aufſehen- erregenden, mit „Augur“ gezeichneten Artikel des ſoeben erſchienenen Januarheftes der bedeutenden und einflußreichen Fortnightly Review entwickelt werden. Hier ſieht man die Möglichkeit, daß eine durch eine Arbeiterregierung eingeleitete Außen- politik von einem liberalen Miniſterium mit Unterſtützung der Konſervativen fortgeſetzt wer- den könnte. Es wird folgende intereſſante Skizze einer ſolchen Politik entworfen: Das Aufhören der Entente cordiale muß notwendig eine Aende- rung der engliſchen Politik nach ſich ziehen. Man muß zu dem alten Grundſatz der Aufrechterhal- tung des europäiſchen Gleichgewichts zurück- kehren. Zuerſt iſt eine Verſtärkung der diplomati- ſchen Stellung Englands erforderlich, indem der Völkerbund durch den Eintritt Deutſchlands und Rußlands erweitert wird. Bedingung für Deutſch- land wäre die Anerkennung des Verſailler Ver- trages, für Rußland Aufgabe des intranſigenten kommuniſtiſchen Programms und Einſtellung der ausländiſchen Propaganda. Die Tſchechoſlowakei iſt von Frankreich zu trennen, indem England ihr eine Sicherung gegen einen deutſchen Angriff durch eine im Kriegsfall eintretende Beſetzung Hamburgs anbietet. Eine ähnliche Sicherheit iſt Belgien zu bieten. Hierauf iſt die Linie London — Berlin — Warſchau — Moskau zu ziehen. Im Mittelmeer iſt ein engliſch-italieniſch-ſpaniſches Bündnis durch Preisgabe der griechiſchen Inter- eſſen an Italien zuſtande zu bringen. Das Schlimmſte, was England zu befürchten hat, iſt eine deutſch-franzöſiſche Verſtändigung. Nach all dieſem kann man ſich eine Vorſtellung davon machen, in welchem Gärungszuſtande ſich die engliſche Politik befindet, und mit welch ängſt- licher Spannung man hier den nächſten Wochen entgegenſieht. _ _

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 14, 15. Januar 1924, S. Seite 7[7]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine14_1924/7>, abgerufen am 24.11.2024.