Allgemeine Zeitung, Nr. 14, 14. Januar 1872.[Spaltenumbruch]
Pompei und seine Wandinschriften. III. * Es verlockt sehr in diesem pompejanischen Garten gemächlich spazieren zu Scribenti mi dictat Amor mostratque Cupido glauben wir Dante's quando welches bei anderen Nationen*) sich zu dem Ausspruch verallgemeinert daß Liebe Nein, wir wollen den fachlichen Werth der pompejanischen Wandinschriften, Ohne Zweifel machen die Wandinschriften und besonders die Graffiti den Hat man eine Inschrift herausbuchstabirt, so gilt es sie wirklich zu lesen; *) Z. B. Fra Guittone: Cha trovare non sa, ne valer punto Uomo d'amor non punto. Berni: Amor primo trovo le rime e i versi. *) Die Inschrift 2953-Taf. XLVIII, 6: C VIVI || ITALII || FRVNIS || CARVS-
SATI || ATVA erklärt Zangemeister: Phrynis C. Vibi Itali (servus), Carus S. Ati Atua (servns); ließeu sich nicht zwei Punkte Preichen, so daß man läse: C. Vivi Itale, fruniscarns satia tua? Das vorletzte Wort bleibt zwar dunkel; [unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]uniscarus aber (vgl. sigarus Nr. 2082) ist nicht alterthümlicher als Prunis. [Spaltenumbruch]
Pompeï und ſeine Wandinſchriften. III. * Es verlockt ſehr in dieſem pompejaniſchen Garten gemächlich ſpazieren zu Scribenti mi dictat Amor mostratque Cupido glauben wir Dante’s quando welches bei anderen Nationen*) ſich zu dem Ausſpruch verallgemeinert daß Liebe Nein, wir wollen den fachlichen Werth der pompejaniſchen Wandinſchriften, Ohne Zweifel machen die Wandinſchriften und beſonders die Graffiti den Hat man eine Inſchrift herausbuchſtabirt, ſo gilt es ſie wirklich zu leſen; *) Z. B. Fra Guittone: Cha trovare non ſa, nè valer punto Uomo d’amor non punto. Berni: Amor primo trovo le rime e i versi. *) Die Inſchrift 2953-Taf. XLVIII, 6: C VIVI || ITALII || FRVNIS || CARVS-
SATI || ATVA erklärt Zangemeiſter: Phrynis C. Vibi Itali (servus), Carus S. Ati Atua (servns); ließeu ſich nicht zwei Punkte Preichen, ſo daß man läſe: C. Vivi Itale, fruniscarns satia tua? Das vorletzte Wort bleibt zwar dunkel; [unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt]uniscarus aber (vgl. ſigarus Nr. 2082) iſt nicht alterthümlicher als Prunis. <TEI> <text> <body> <div> <p> <floatingText> <body> <div type="jFeuilleton" n="1"> <div type="jComment" n="2"> <pb facs="#f0011" n="203"/> <cb/> </div> </div> <div type="jCulturalNews" n="1"><lb/> <div type="jComment" n="2"> <head> <hi rendition="#b">Pompeï und ſeine Wandinſchriften.</hi><lb/> <hi rendition="#aq">III.</hi> </head><lb/> <p>* Es verlockt ſehr in dieſem pompejaniſchen Garten gemächlich ſpazieren zu<lb/> wandeln und dabei einen Strauß epigraphiſcher Blumen zu pflücken, durch den<lb/> ſich dann alle mögliche claſſiſche Gelehrſamkeit ausduften ließe; wenigſtens würde<lb/> dieſe kaum auf anmuthigere Weiſe an den Mann zu bringen ſein. Daher gibt<lb/> Pompeï nebſt ſeinen Inſchriften einen beliebten Gegenſtand öffentlicher Vorträge<lb/> und gemeinverſtändlicher Aufſätze ab. Wir brauchen aber darum nicht zu fürch-<lb/> ten daß uns nichts zu thun übrig bliebe; denn ſtatt nicht weniger Blumen, von<lb/> denen es ſich nun erſt herausgeſtellt hat daß ſie keine wirklichen <hi rendition="#aq">parietariae,</hi> daß<lb/> ſie nicht ſowohl auf den Mauern Pompeï’s als in irgendeinem modernen Treib-<lb/> haus, d. h. einem allzu hitzigen gelehrten Kopf, aufgeblüht ſind, vermöchten wir<lb/> neue und echte einzubinden. Ganz im Gegentheil fürchten wir daß wir deſſen<lb/> ſchwer ein Ende fänden. Wir widerſtehen alſo der Verſuchung jenen Inſchriften<lb/> Auskunft über alle Beſonderheiten des alten Lebens abzudringen. Wir ſchreiten<lb/> vorüber an ABC-Schützenübungen, Haushaltsnotizen, Andenken verliebter Stell-<lb/> dichein u. ſ. w., als wären ſie von heut und geſtern, vorüber an den rothen und<lb/> ſchwarzen Buchſtaben, als ob ſie uns einen Parlamentscandidaten empfehlen oder<lb/> uns zu einer Kunſtreitervorſtellung einlüden; die <hi rendition="#aq">infelicia, uneum, tabescas,<lb/> suspendere, in cruce ſigarir</hi> ſind uns nur die verſteinerten <hi rendition="#aq">accidenti, mannag-<lb/> gia, si’ ammazzato</hi> u. ſ. w., die noch heute die italieniſche Luft durchſchwirren;<lb/> darüber daß Venus, die Veherrſcherin und Behüterin von Pompeï, bald ehr-<lb/> furchtsvoll angerufen, bald Seelenverkäuferin geſcholten und mit Prügeln bedroht<lb/> wird, wundern wir uns ſo wenig als über das ebenſo wechſelnde Benehmen der<lb/> heutigen Napoletaner gegen ihre Schutzheiligen; wir ſehen die Arme des <hi rendition="#aq">Y</hi> in<lb/> dem Worte <hi rendition="#aq">PSYCE</hi> (Herz!) ſich zu jenem Umriß fortſetzen der heute wie damals<lb/> der Sitz der menſchlichen Gefühle vorſtellt, und in dem Verſe:</p><lb/> <p> <hi rendition="#aq">Scribenti mi dictat Amor mostratque Cupido</hi> </p><lb/> <p>glauben wir Dante’s</p><lb/> <p> <hi rendition="#et"> <hi rendition="#aq">quando<lb/> Amor mi spira, noto; ed in quel modo<lb/> Ch’ei detta dentro, vo signiſicando,</hi> </hi> </p><lb/> <p>welches bei anderen Nationen<note place="foot" n="*)">Z. B. Fra Guittone: <hi rendition="#aq">Cha trovare non ſa, nè valer punto<lb/> Uomo d’amor non punto.</hi><lb/> Berni: <hi rendition="#aq">Amor primo trovo le rime e i versi.</hi></note> ſich zu dem Ausſpruch verallgemeinert daß Liebe<lb/> allen Dichtens Urſprung ſei.</p><lb/> <p>Nein, wir wollen den fachlichen Werth der pompejaniſchen Wandinſchriften,<lb/> den wir ſchon genügend hervorgehoben haben, nicht im Einzelnen auseinander-<lb/> ſetzen; wir wollen nur noch von ihrem Werth als des Gegenſtandes geiſtiger Ar-<lb/> beit, von ihrem eigentlich wiſſenſchaftlichen Werthe reden. Denn der Kern der<lb/> Wiſſenſchaft — dieß unterſcheidet ſie von der Gelehrſamkeit — beſteht nicht in dem<lb/> was wir wiſſen, ſondern darin wie wir lernen (dieß iſt beſſer im Fremdwort<lb/> „Diſciplin“ ausgedrückt). Sollte etwa das breit in den Weg gelegte Geſchenk<lb/> des Zufalls, wenn es uns auch auf unſerer Weiterwanderung noch ſo ſehr fördert,<lb/> uns höher gelten als das mit unſerer beſten Kraft Erworbene? Iſt nicht mit dem<lb/> größeren Verdienſt auch der größere Genuß? Wenn darum der Herausgeber der<lb/> pompejaniſchen Dipinti und Graffiti, K. Zangemeiſter, am Schluß der Vorrede<lb/> meint: das Werk welches er in Angriff genommen habe ſei oft ſo beſchaffen, <hi rendition="#aq">ut<lb/> inde laboris plus haurire mali sit, quam ex re decerpere fructus,</hi> ſo halten<lb/> wir ihm zu ſeinem eigenen Troſt entgegen daß die Forſchung Selbſtzweck iſt, und<lb/> daß wir, mehr als aus irgendeiner Thatſache an ſich, aus den Mitteln und Wegen<lb/> zur Feſtſtellung dieſer Thatſache Gewinn ziehen.</p><lb/> <p>Ohne Zweifel machen die Wandinſchriften und beſonders die Graffiti den<lb/> ſchwierigſten Theil der römiſchen Inſchriftenkunde aus. Die Schwierigkeit der<lb/> Leſung und Erklärung iſt in der Geſetzloſigkeit dieſer Gattung begründet, welche<lb/> ſich vor allem in der Schrift äußert. Die Graffiti (und ebenſo die Kohle-,<lb/> Röthel- und Kreide-Inſchriften) ſind meiſtens in einer Schriftart abgefaßt welche<lb/> im Alterthum noch auf Wachstafeln, kaum auf Stein oder in Büchern vorkommt,<lb/> aus welcher ſich aber dann zu allgemeinerem Gebrauche die laufende Schrift des<lb/> Mittelalters entwickelte. Die Züge der älteren Pinſel-Inſchriften ſind die vier-<lb/> eckigen der Denkmäler-Inſchriften, die der jüngeren aber nähern ſich ſchon den<lb/> runden der Graffiti. Zangemeiſter bietet uns (auf Tafel 1) eine ſorgfältige<lb/> Ueberſicht der verſchiedenen in den pompejaniſchen Wandinſchriften erſcheinenden<lb/> Buchſtabenformen (mit ausführlichem Quellennachweis zu den ſelteneren), und<lb/> veranſchaulicht uns ſo zum erſtenmal auf urkundliche Weiſe den Uebergang der<lb/> lateiniſchen Geviertſchrift in die laufende. Aus dem individuellen Charakter der<lb/> Graffiti folgt daß die Mannichfaltigkeit der Schrift hier eine ganz außerordent-<lb/> liche (ſogar innerhalb eines und desſelben Graffito oft ſehr anſehnliche) iſt. Nicht<lb/> nur in den einzelnen Buchſtaben, deren manche ſich ſo abändern daß ſie ſich ſelbſt<lb/> ganz unähnlich, anderen aber dafür zum Verwechſeln ähnlich werden, ſondern<lb/> auch in der Aneinanderfügung derſelben. Bald ſtehen ſie keck auf feſten Füßen<lb/> da, und gehen gar vor Behäbigkeit faſt aus den Fugen; bald ſtolpern ſie ängſtlich<lb/> und hinfällig einher, hocken aufeinander, verwickeln ſich ineinander; oder kühn<lb/> geſchweift, wie Kometenſchwänze, kreuzen ſie fremde Schriftbahnen. Größe, Ab-<lb/> ſtand, Richtung, Zeilenlänge u. ſ. w., alles wechſelt aufs willkürlichſte. Die<lb/> Unvollkommenheit des Schreibwerkzeugs oder beſondere Hinderniſſe im Stuck ma-<lb/> chen ſich ebenfalls geltend; zuweilen erſcheinen die Ränder tiefer Einritzungen<lb/> ſtark geſplittert. Dazu kommen noch alle die ſtörenden Linien die von der Hand<lb/> des Schreibers ſelbſt herrühren, entweder ganz unbeabſichtigte oder wenigſtens<lb/> gedankenloſe oder falſche Anſätze, nicht ſelten wirkliche Verbeſſerungen des einen<lb/> Buchſtaben in den anderen. Welchen Fährlichkeiten iſt aber nicht erſt die fertige<lb/> Inſchrift ausgeſetzt! Mit welchen Verſehrungen bedroht ſie nicht die Mißgunſt<lb/> der Leſer und die Gleichgültigkeit anderer Wandſchriftſteller, die Einflüſſe der<lb/> Witterung und alle möglichen Stöße feindſeligen Geſchickes. Sie kann durchſtri-<lb/> chen, ausgekratzt, entſtellt, überſchrieben werden; die Tünche kann ſich abwetzen,<lb/> Sprünge erhalten, in ganzen Stücken abfallen. Dieſer letztere Fall erzeugt Lücken.<lb/> Wie viel in denſelben fehlt läßt ſich beſonders dann, wenn ſie die erhaltene Ju-<lb/><cb/> ſchrift an irgendeiner Seite begränzen, kaum ermeſſen, während in einer guten<lb/> monumentalen Inſchrift man die Maſſe des Ausgefallenen ziemlich genau zu be-<lb/> rechnen vermag, und ſo eine ſichere Grundlage für die wahrſcheinliche Ergänzung<lb/> des Tertes gewinnt. Den Dipinti, obwohl ſie durch die regelmäßigere Schrift<lb/> viel vor den Graffiti voraus haben, iſt doch wiederum mancher Nachtheil eigen-<lb/> thümlich, wie der daß die Buchſtaben ohne irgendeine wahrnehmbare Beſchädi-<lb/> gung der Wand (alſo Spur einer Lücke) ſchwinden, oder der daß zwei ſich deckende<lb/> Inſchriften ſich zu einer ſcheinbar einzigen vermiſchen, indem von der Ueberwei-<lb/> ßung der älteren, auf welche die jüngere gemalt iſt, ſich einzelne Theile abbröckeln.<lb/> Kurz, die Wandinſchriften beider Claſſen machen Mühe genug. Zuerſt müſſen<lb/> die Augen ſcharf ſein um alles zu erkennen was vorhanden iſt, dann aber eigens<lb/> geübt um ſofort das Weſentliche aus allem Beiwerk herauszuheben. Dieſe Uebung<lb/> wird durch eine gewiſſe Begabung geſtützt und gefördert; denn auch bei ganz glei-<lb/> chen Anſtrengungen eine Inſchrift zu leſen, iſt der eine nicht immer ſo glücklich<lb/> wie der andere. Die bei der Wiſſenſchaft ſo verrufene Einbildungskraft, welche<lb/> allerdings gerade unter dieſen Inſchriften, ohne Beſchränkung und Aufſicht, übel<lb/> genug gewirthſchaftet hat, mag doch auch gutes ſchaffen. Manche der einzelnen<lb/> uns hier geſtellten Aufgaben haben auch inſofern wenig Aehnlichkeit mit einem<lb/> Rechenerempel, als ſie nur in Unterbrechungen gelöst werden können, als nämlich<lb/> eine wiederholte Beſichtigung erforderlich iſt, ſei es wegen der verſchiedenen Be-<lb/> leuchtung des Gegenſtandes, ſei es wegen der verſchiedenen Stimmung des Un-<lb/> terſuchers. Gibt es demnach einen bevorzugten Blick, der nicht nur ſchärfer, ſon-<lb/> dern ſchließlich auch richtiger ſieht, ebenſowohl für die Räthſel einer Inſchrift als<lb/> für die Eigenthümlichkeit und die Bedeutung eines Menſchenantlitzes, oder eines<lb/> Kunſtwerkes, oder einer Landſchaft, ſo ſtehen wir nicht an bei Zangemeiſter einen<lb/> ſolchen epigraphiſchen Blick in hohem Grade vorauszuſetzen. Wie viel er zu lei-<lb/> ſten hatte und geleiſtet hat, davon erhält ſchon einen Begriff wer nur die 47 dem<lb/> Werke beigegebenen Tafeln durchblättert, auf denen die merkwürdigſten (etwa<lb/> ein Drittel) der pompejaniſchen Wandinſchriften, zumeiſt wahre Krikelkrakel, durch<lb/> den Steindruck wiedergegeben ſind, der größte Theil nach Abzeichnungen, andere<lb/> nach Durchzeichnungen, Abdrücken oder Photographien.</p><lb/> <p>Hat man eine Inſchrift herausbuchſtabirt, ſo gilt es ſie wirklich zu leſen;<lb/> auf das Verſtändniß der Schrift folgt, oft nach einem ziemlichen Zwiſchenraum,<lb/> das Verſtändniß der <hi rendition="#g">Sprache.</hi> Dieſes wird durch manche Laune und manchen<lb/> Irrthum der Schreibenden verdunkelt, z. B. durch ungewöhnliche Abkürzungen,<lb/> oder durch mangelnde oder falſche Worttrennung<note place="foot" n="*)">Die Inſchrift 2953-Taf. <hi rendition="#aq">XLVIII, 6: C VIVI || ITALII || FRVNIS || CARVS-<lb/> SATI || ATVA</hi> erklärt Zangemeiſter: <hi rendition="#aq">Phrynis C. Vibi Itali (servus), Carus S.<lb/> Ati Atua (servns);</hi> ließeu ſich nicht zwei Punkte Preichen, ſo daß man läſe:<lb/><hi rendition="#aq">C. Vivi Itale, fruniscarns satia tua?</hi> Das vorletzte Wort bleibt zwar dunkel;<lb/><hi rendition="#aq"><gap reason="illegible" unit="chars" quantity="1"/>uniscarus</hi> aber (vgl. <hi rendition="#aq">ſigarus</hi> Nr. 2082) iſt nicht alterthümlicher als <hi rendition="#aq">Prunis.</hi></note>, oder ein gewiſſer Suimilea,<lb/> welcher an einer Form <hi rendition="#aq">iatromea</hi> nur ſchwachen Anhalt findet, gibt viel zu denken,<lb/> bis wir den Herrn zufälligerweiſe im Rücken ſehen und ihn als Aemilius erkennen.<lb/> Oder es werden Buchſtaben verwechſelt, verſetzt, ausgelaſſen u. ſ. w. Eine tiefer<lb/> eingreifende Störung aber verurſacht der Gegenſatz der Volks- zur Schriftſprache.<lb/> Eigenthümlichkeiten jener drängen ſich maſſenhaft in die Schrift ein; indeſſen durch-<lb/> aus unbewußt. Denn man ſchrieb zwar wie man ſprach: <hi rendition="#aq">ama, onore, presta</hi> für<lb/><hi rendition="#aq">amat, honorem, præsta</hi> — es ſind dieß die Anfänge italieniſcher Schreibung —<lb/> aber man ſchrieb umgekehrt wie man ſprach: <hi rendition="#aq">Helpis, pariens, opscultat</hi> für <hi rendition="#aq">Elpis,<lb/> paries, auscultat</hi> (vgl. <hi rendition="#aq">Oseus = Opscus</hi>). Ganz in dem gleichen dunkeln Drange<lb/> wie ihn die letzteren Formen verrathen, beſſert der allbekannte Neupompejaner<lb/> Naffaele, Sonntags geſteigertem Fremdenbeſuche zur Ehre, ſein Italieniſch auf. In<lb/> ſeiner heimiſchen Mundart enden alle Wörter (wenn nicht die letzte Sylbe den Ton<lb/> hat) in einem flüchtigen <hi rendition="#aq">e;</hi> nur bemerkt er daß das Toscaniſche im Auslaut auch<lb/> die ſchöneren Vocale <hi rendition="#aq">a, i, o</hi> liebt; folglich heißt es am Sonntag z. B. <hi rendition="#aq">il solo tra-<lb/> monta molta rossi</hi> oder <hi rendition="#aq">quell’ Americani è partita.</hi> Vergeblich würde übrigens<lb/> jemand verſuchen aus jenen Schreibweiſen die Grundzüge pompejaniſcher Sprech-<lb/> weiſe zu entwickeln. Denſelben Verſündigungen gegen die Rechtſchreibung begeg-<lb/> nen wir an den verſchiedenſten Punkten des römiſchen Bodens. Es ſoll damit kei-<lb/> neswegs pompejaniſche oder campaniſche Sprachbeſonderheit gelängnet werden;<lb/> gewiß klang ſchon damals die Sprache der Zwölftafeln anders in dem Munde der<lb/> Romanen (d. h. verrömerten Nichtlateiner) von Pompeï und Mailand, Marſeille<lb/> und Sevilla. Bildete man ſich denn wohl heutzutag aus den von Schnitzern wim-<lb/> melnden Briefen eines ſächſiſchen und eines heſſiſchen Ackerknechtes nur eine ent-<lb/> fernte Vorſtellung von dem Unterſchiede zwiſchen der Rede beider Schreibenden?<lb/> Immerhin ſind wir überzeugt daß, wenn etwa im Norden Italiens eine unterge-<lb/> gangene römiſche Stadt mit gleich vielen Wandinſchriften, wie Pompeï, wieder er-<lb/> ſtünde, ein gewiſſer ſprachlicher Gegenſatz hervortreten würde. Alle die bezeichne-<lb/> ten Uebelſtände ſind bei einem längeren fortlaufenden Terte, wie der Handſchrift<lb/> eines alten Dichters, weniger hinderlich, fallen aber, wo es ſich um ſo viele Bruch-<lb/> ſtücke und ſo viel lückenhaftes, im beſten Fall um vereinzelte kurze Sätze handelt,<lb/> ſchwer ins Gewicht. Und zwar beſonders nach einer Seite hin. Die beiden näm-<lb/> lich auf die Leſung einer Inſchrift gerichteten Thätigkeiten, diejenige welche ſich auf<lb/> die Schrift und diejenige welche ſich auf die Sprache bezieht, verſchmelzen oft völlig<lb/> mit einander; ja, dieſe arbeitet geradezu jener vor, ſo daß entweder die zahlreichen<lb/> Zuſammenſtellungen für eine Reihe von Buchſtabenreſten, deren jedem verſchiedene<lb/> mögliche We the entſprechen, durch die Schranken der Sprache auf wenige oder<lb/> gar nur auf eine zurückgeführt werden, oder daß eine angeſtrengte Beſichtigung<lb/> dasjenige deſſen Vorhandenſein zuerſt nur durch eine ſprachliche Erwägung wahr-<lb/> ſcheinlich gemacht wird als wirklich vorhanden beſtätigt. Jedem aber wird es ein-<lb/> leuchten daß die Sprache mit um ſo geringerem Erfolge zur Feſtſtellung der Schrift<lb/> herangezogen werden kann, je weiter ihre eigenen Schranken hinausgerückt ſind.<lb/> Z. B. an der Stelle einer Inſchrift an welcher ſich Spuren von fünf Buchſtaben<lb/> erhalten haben, könnte dem Zuſammenhange nach entweder <hi rendition="#aq">habeas</hi> oder <hi rendition="#aq">parias</hi> ge-<lb/> ſtanden haben; nun läßt ſich bei genauerer Beſichtigung der vierte Buchſtabe als <hi rendition="#aq">i</hi><lb/> noch deutlich ermitteln; die eine Möglichkeit iſt dadurch in einer claſſiſch geſchriebe-<lb/> nen Inſchrift ſofort beſeitigt, und es bleibt nur die andere; in einem pompejani-<lb/> ſchen Graffito indeſſen würde <hi rendition="#aq">habias</hi> für <hi rendition="#aq">habeas</hi> durchaus nicht auffallen, und hier<lb/></p> </div> </div> </body> </floatingText> </p> </div> </body> </text> </TEI> [203/0011]
Pompeï und ſeine Wandinſchriften.
III.
* Es verlockt ſehr in dieſem pompejaniſchen Garten gemächlich ſpazieren zu
wandeln und dabei einen Strauß epigraphiſcher Blumen zu pflücken, durch den
ſich dann alle mögliche claſſiſche Gelehrſamkeit ausduften ließe; wenigſtens würde
dieſe kaum auf anmuthigere Weiſe an den Mann zu bringen ſein. Daher gibt
Pompeï nebſt ſeinen Inſchriften einen beliebten Gegenſtand öffentlicher Vorträge
und gemeinverſtändlicher Aufſätze ab. Wir brauchen aber darum nicht zu fürch-
ten daß uns nichts zu thun übrig bliebe; denn ſtatt nicht weniger Blumen, von
denen es ſich nun erſt herausgeſtellt hat daß ſie keine wirklichen parietariae, daß
ſie nicht ſowohl auf den Mauern Pompeï’s als in irgendeinem modernen Treib-
haus, d. h. einem allzu hitzigen gelehrten Kopf, aufgeblüht ſind, vermöchten wir
neue und echte einzubinden. Ganz im Gegentheil fürchten wir daß wir deſſen
ſchwer ein Ende fänden. Wir widerſtehen alſo der Verſuchung jenen Inſchriften
Auskunft über alle Beſonderheiten des alten Lebens abzudringen. Wir ſchreiten
vorüber an ABC-Schützenübungen, Haushaltsnotizen, Andenken verliebter Stell-
dichein u. ſ. w., als wären ſie von heut und geſtern, vorüber an den rothen und
ſchwarzen Buchſtaben, als ob ſie uns einen Parlamentscandidaten empfehlen oder
uns zu einer Kunſtreitervorſtellung einlüden; die infelicia, uneum, tabescas,
suspendere, in cruce ſigarir ſind uns nur die verſteinerten accidenti, mannag-
gia, si’ ammazzato u. ſ. w., die noch heute die italieniſche Luft durchſchwirren;
darüber daß Venus, die Veherrſcherin und Behüterin von Pompeï, bald ehr-
furchtsvoll angerufen, bald Seelenverkäuferin geſcholten und mit Prügeln bedroht
wird, wundern wir uns ſo wenig als über das ebenſo wechſelnde Benehmen der
heutigen Napoletaner gegen ihre Schutzheiligen; wir ſehen die Arme des Y in
dem Worte PSYCE (Herz!) ſich zu jenem Umriß fortſetzen der heute wie damals
der Sitz der menſchlichen Gefühle vorſtellt, und in dem Verſe:
Scribenti mi dictat Amor mostratque Cupido
glauben wir Dante’s
quando
Amor mi spira, noto; ed in quel modo
Ch’ei detta dentro, vo signiſicando,
welches bei anderen Nationen *) ſich zu dem Ausſpruch verallgemeinert daß Liebe
allen Dichtens Urſprung ſei.
Nein, wir wollen den fachlichen Werth der pompejaniſchen Wandinſchriften,
den wir ſchon genügend hervorgehoben haben, nicht im Einzelnen auseinander-
ſetzen; wir wollen nur noch von ihrem Werth als des Gegenſtandes geiſtiger Ar-
beit, von ihrem eigentlich wiſſenſchaftlichen Werthe reden. Denn der Kern der
Wiſſenſchaft — dieß unterſcheidet ſie von der Gelehrſamkeit — beſteht nicht in dem
was wir wiſſen, ſondern darin wie wir lernen (dieß iſt beſſer im Fremdwort
„Diſciplin“ ausgedrückt). Sollte etwa das breit in den Weg gelegte Geſchenk
des Zufalls, wenn es uns auch auf unſerer Weiterwanderung noch ſo ſehr fördert,
uns höher gelten als das mit unſerer beſten Kraft Erworbene? Iſt nicht mit dem
größeren Verdienſt auch der größere Genuß? Wenn darum der Herausgeber der
pompejaniſchen Dipinti und Graffiti, K. Zangemeiſter, am Schluß der Vorrede
meint: das Werk welches er in Angriff genommen habe ſei oft ſo beſchaffen, ut
inde laboris plus haurire mali sit, quam ex re decerpere fructus, ſo halten
wir ihm zu ſeinem eigenen Troſt entgegen daß die Forſchung Selbſtzweck iſt, und
daß wir, mehr als aus irgendeiner Thatſache an ſich, aus den Mitteln und Wegen
zur Feſtſtellung dieſer Thatſache Gewinn ziehen.
Ohne Zweifel machen die Wandinſchriften und beſonders die Graffiti den
ſchwierigſten Theil der römiſchen Inſchriftenkunde aus. Die Schwierigkeit der
Leſung und Erklärung iſt in der Geſetzloſigkeit dieſer Gattung begründet, welche
ſich vor allem in der Schrift äußert. Die Graffiti (und ebenſo die Kohle-,
Röthel- und Kreide-Inſchriften) ſind meiſtens in einer Schriftart abgefaßt welche
im Alterthum noch auf Wachstafeln, kaum auf Stein oder in Büchern vorkommt,
aus welcher ſich aber dann zu allgemeinerem Gebrauche die laufende Schrift des
Mittelalters entwickelte. Die Züge der älteren Pinſel-Inſchriften ſind die vier-
eckigen der Denkmäler-Inſchriften, die der jüngeren aber nähern ſich ſchon den
runden der Graffiti. Zangemeiſter bietet uns (auf Tafel 1) eine ſorgfältige
Ueberſicht der verſchiedenen in den pompejaniſchen Wandinſchriften erſcheinenden
Buchſtabenformen (mit ausführlichem Quellennachweis zu den ſelteneren), und
veranſchaulicht uns ſo zum erſtenmal auf urkundliche Weiſe den Uebergang der
lateiniſchen Geviertſchrift in die laufende. Aus dem individuellen Charakter der
Graffiti folgt daß die Mannichfaltigkeit der Schrift hier eine ganz außerordent-
liche (ſogar innerhalb eines und desſelben Graffito oft ſehr anſehnliche) iſt. Nicht
nur in den einzelnen Buchſtaben, deren manche ſich ſo abändern daß ſie ſich ſelbſt
ganz unähnlich, anderen aber dafür zum Verwechſeln ähnlich werden, ſondern
auch in der Aneinanderfügung derſelben. Bald ſtehen ſie keck auf feſten Füßen
da, und gehen gar vor Behäbigkeit faſt aus den Fugen; bald ſtolpern ſie ängſtlich
und hinfällig einher, hocken aufeinander, verwickeln ſich ineinander; oder kühn
geſchweift, wie Kometenſchwänze, kreuzen ſie fremde Schriftbahnen. Größe, Ab-
ſtand, Richtung, Zeilenlänge u. ſ. w., alles wechſelt aufs willkürlichſte. Die
Unvollkommenheit des Schreibwerkzeugs oder beſondere Hinderniſſe im Stuck ma-
chen ſich ebenfalls geltend; zuweilen erſcheinen die Ränder tiefer Einritzungen
ſtark geſplittert. Dazu kommen noch alle die ſtörenden Linien die von der Hand
des Schreibers ſelbſt herrühren, entweder ganz unbeabſichtigte oder wenigſtens
gedankenloſe oder falſche Anſätze, nicht ſelten wirkliche Verbeſſerungen des einen
Buchſtaben in den anderen. Welchen Fährlichkeiten iſt aber nicht erſt die fertige
Inſchrift ausgeſetzt! Mit welchen Verſehrungen bedroht ſie nicht die Mißgunſt
der Leſer und die Gleichgültigkeit anderer Wandſchriftſteller, die Einflüſſe der
Witterung und alle möglichen Stöße feindſeligen Geſchickes. Sie kann durchſtri-
chen, ausgekratzt, entſtellt, überſchrieben werden; die Tünche kann ſich abwetzen,
Sprünge erhalten, in ganzen Stücken abfallen. Dieſer letztere Fall erzeugt Lücken.
Wie viel in denſelben fehlt läßt ſich beſonders dann, wenn ſie die erhaltene Ju-
ſchrift an irgendeiner Seite begränzen, kaum ermeſſen, während in einer guten
monumentalen Inſchrift man die Maſſe des Ausgefallenen ziemlich genau zu be-
rechnen vermag, und ſo eine ſichere Grundlage für die wahrſcheinliche Ergänzung
des Tertes gewinnt. Den Dipinti, obwohl ſie durch die regelmäßigere Schrift
viel vor den Graffiti voraus haben, iſt doch wiederum mancher Nachtheil eigen-
thümlich, wie der daß die Buchſtaben ohne irgendeine wahrnehmbare Beſchädi-
gung der Wand (alſo Spur einer Lücke) ſchwinden, oder der daß zwei ſich deckende
Inſchriften ſich zu einer ſcheinbar einzigen vermiſchen, indem von der Ueberwei-
ßung der älteren, auf welche die jüngere gemalt iſt, ſich einzelne Theile abbröckeln.
Kurz, die Wandinſchriften beider Claſſen machen Mühe genug. Zuerſt müſſen
die Augen ſcharf ſein um alles zu erkennen was vorhanden iſt, dann aber eigens
geübt um ſofort das Weſentliche aus allem Beiwerk herauszuheben. Dieſe Uebung
wird durch eine gewiſſe Begabung geſtützt und gefördert; denn auch bei ganz glei-
chen Anſtrengungen eine Inſchrift zu leſen, iſt der eine nicht immer ſo glücklich
wie der andere. Die bei der Wiſſenſchaft ſo verrufene Einbildungskraft, welche
allerdings gerade unter dieſen Inſchriften, ohne Beſchränkung und Aufſicht, übel
genug gewirthſchaftet hat, mag doch auch gutes ſchaffen. Manche der einzelnen
uns hier geſtellten Aufgaben haben auch inſofern wenig Aehnlichkeit mit einem
Rechenerempel, als ſie nur in Unterbrechungen gelöst werden können, als nämlich
eine wiederholte Beſichtigung erforderlich iſt, ſei es wegen der verſchiedenen Be-
leuchtung des Gegenſtandes, ſei es wegen der verſchiedenen Stimmung des Un-
terſuchers. Gibt es demnach einen bevorzugten Blick, der nicht nur ſchärfer, ſon-
dern ſchließlich auch richtiger ſieht, ebenſowohl für die Räthſel einer Inſchrift als
für die Eigenthümlichkeit und die Bedeutung eines Menſchenantlitzes, oder eines
Kunſtwerkes, oder einer Landſchaft, ſo ſtehen wir nicht an bei Zangemeiſter einen
ſolchen epigraphiſchen Blick in hohem Grade vorauszuſetzen. Wie viel er zu lei-
ſten hatte und geleiſtet hat, davon erhält ſchon einen Begriff wer nur die 47 dem
Werke beigegebenen Tafeln durchblättert, auf denen die merkwürdigſten (etwa
ein Drittel) der pompejaniſchen Wandinſchriften, zumeiſt wahre Krikelkrakel, durch
den Steindruck wiedergegeben ſind, der größte Theil nach Abzeichnungen, andere
nach Durchzeichnungen, Abdrücken oder Photographien.
Hat man eine Inſchrift herausbuchſtabirt, ſo gilt es ſie wirklich zu leſen;
auf das Verſtändniß der Schrift folgt, oft nach einem ziemlichen Zwiſchenraum,
das Verſtändniß der Sprache. Dieſes wird durch manche Laune und manchen
Irrthum der Schreibenden verdunkelt, z. B. durch ungewöhnliche Abkürzungen,
oder durch mangelnde oder falſche Worttrennung *), oder ein gewiſſer Suimilea,
welcher an einer Form iatromea nur ſchwachen Anhalt findet, gibt viel zu denken,
bis wir den Herrn zufälligerweiſe im Rücken ſehen und ihn als Aemilius erkennen.
Oder es werden Buchſtaben verwechſelt, verſetzt, ausgelaſſen u. ſ. w. Eine tiefer
eingreifende Störung aber verurſacht der Gegenſatz der Volks- zur Schriftſprache.
Eigenthümlichkeiten jener drängen ſich maſſenhaft in die Schrift ein; indeſſen durch-
aus unbewußt. Denn man ſchrieb zwar wie man ſprach: ama, onore, presta für
amat, honorem, præsta — es ſind dieß die Anfänge italieniſcher Schreibung —
aber man ſchrieb umgekehrt wie man ſprach: Helpis, pariens, opscultat für Elpis,
paries, auscultat (vgl. Oseus = Opscus). Ganz in dem gleichen dunkeln Drange
wie ihn die letzteren Formen verrathen, beſſert der allbekannte Neupompejaner
Naffaele, Sonntags geſteigertem Fremdenbeſuche zur Ehre, ſein Italieniſch auf. In
ſeiner heimiſchen Mundart enden alle Wörter (wenn nicht die letzte Sylbe den Ton
hat) in einem flüchtigen e; nur bemerkt er daß das Toscaniſche im Auslaut auch
die ſchöneren Vocale a, i, o liebt; folglich heißt es am Sonntag z. B. il solo tra-
monta molta rossi oder quell’ Americani è partita. Vergeblich würde übrigens
jemand verſuchen aus jenen Schreibweiſen die Grundzüge pompejaniſcher Sprech-
weiſe zu entwickeln. Denſelben Verſündigungen gegen die Rechtſchreibung begeg-
nen wir an den verſchiedenſten Punkten des römiſchen Bodens. Es ſoll damit kei-
neswegs pompejaniſche oder campaniſche Sprachbeſonderheit gelängnet werden;
gewiß klang ſchon damals die Sprache der Zwölftafeln anders in dem Munde der
Romanen (d. h. verrömerten Nichtlateiner) von Pompeï und Mailand, Marſeille
und Sevilla. Bildete man ſich denn wohl heutzutag aus den von Schnitzern wim-
melnden Briefen eines ſächſiſchen und eines heſſiſchen Ackerknechtes nur eine ent-
fernte Vorſtellung von dem Unterſchiede zwiſchen der Rede beider Schreibenden?
Immerhin ſind wir überzeugt daß, wenn etwa im Norden Italiens eine unterge-
gangene römiſche Stadt mit gleich vielen Wandinſchriften, wie Pompeï, wieder er-
ſtünde, ein gewiſſer ſprachlicher Gegenſatz hervortreten würde. Alle die bezeichne-
ten Uebelſtände ſind bei einem längeren fortlaufenden Terte, wie der Handſchrift
eines alten Dichters, weniger hinderlich, fallen aber, wo es ſich um ſo viele Bruch-
ſtücke und ſo viel lückenhaftes, im beſten Fall um vereinzelte kurze Sätze handelt,
ſchwer ins Gewicht. Und zwar beſonders nach einer Seite hin. Die beiden näm-
lich auf die Leſung einer Inſchrift gerichteten Thätigkeiten, diejenige welche ſich auf
die Schrift und diejenige welche ſich auf die Sprache bezieht, verſchmelzen oft völlig
mit einander; ja, dieſe arbeitet geradezu jener vor, ſo daß entweder die zahlreichen
Zuſammenſtellungen für eine Reihe von Buchſtabenreſten, deren jedem verſchiedene
mögliche We the entſprechen, durch die Schranken der Sprache auf wenige oder
gar nur auf eine zurückgeführt werden, oder daß eine angeſtrengte Beſichtigung
dasjenige deſſen Vorhandenſein zuerſt nur durch eine ſprachliche Erwägung wahr-
ſcheinlich gemacht wird als wirklich vorhanden beſtätigt. Jedem aber wird es ein-
leuchten daß die Sprache mit um ſo geringerem Erfolge zur Feſtſtellung der Schrift
herangezogen werden kann, je weiter ihre eigenen Schranken hinausgerückt ſind.
Z. B. an der Stelle einer Inſchrift an welcher ſich Spuren von fünf Buchſtaben
erhalten haben, könnte dem Zuſammenhange nach entweder habeas oder parias ge-
ſtanden haben; nun läßt ſich bei genauerer Beſichtigung der vierte Buchſtabe als i
noch deutlich ermitteln; die eine Möglichkeit iſt dadurch in einer claſſiſch geſchriebe-
nen Inſchrift ſofort beſeitigt, und es bleibt nur die andere; in einem pompejani-
ſchen Graffito indeſſen würde habias für habeas durchaus nicht auffallen, und hier
*) Z. B. Fra Guittone: Cha trovare non ſa, nè valer punto
Uomo d’amor non punto.
Berni: Amor primo trovo le rime e i versi.
*) Die Inſchrift 2953-Taf. XLVIII, 6: C VIVI || ITALII || FRVNIS || CARVS-
SATI || ATVA erklärt Zangemeiſter: Phrynis C. Vibi Itali (servus), Carus S.
Ati Atua (servns); ließeu ſich nicht zwei Punkte Preichen, ſo daß man läſe:
C. Vivi Itale, fruniscarns satia tua? Das vorletzte Wort bleibt zwar dunkel;
_uniscarus aber (vgl. ſigarus Nr. 2082) iſt nicht alterthümlicher als Prunis.
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(2022-04-08T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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