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Allgemeine Zeitung, Nr. 11, 11. Januar 1872.

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als hinreichende Genugthuung in einer Streitangelegenheit angesehen werden
müssen die keine materiellen Nachtheile involvirte; auch ist es nicht denkbar daß
eine Regierung welche sich selbst -- und die Nation welche sie vertritt -- respectirt, im
voraus ihre Zustimmung dazu gibt daß sie sich einer Geldstrafe als Schadenersatz
für irgendein absichtliches oder vorausbeschlossenes Vergehen im Falle der Ueber-
führung unterzöge. Nach der Ansicht der Agenten der Vereinigten Staaten sind
einige von den Fragen die dem Genfer Tribunal unterbreitet werden müssen, fol-
gende: ob England vor dem Kriege den Vereinigten Staaten irgendeine Pflicht der
Dankbarkeit schulde, ob das Benehmen der englischen Regierung zur Zeit des Ab-
falls unfreundlich war, ob die Sprache Lord Russells und des Hrn. Gladstone zu
tadeln war, und endlich ob die Pflichten der Neutralität durch England nicht ver-
letzt worden sind, während alle andern civilisirten Mächte es mit Erfolg vermieden
haben irgendwelchen Anlaß zur Beleidigung zu geben. Die feindliche Absicht der
Urheber des Schriftstückes kann sich nicht offenbarer zeigen als in der Erwähnung
Frankreichs als eines der Staaten welche die Pflichten die England vernachlässigte
beobachtet haben. Unter vielen ungerechten und maßlosen Ergüssen im Laufe der
langathmigen Streitfrage macht die Anklageschrift der amerikanischen Regierung
zuerst den Versuch das Verbrechen Englands durch gehässige Rückblicke auf seine
frühere Geschichte zu steigern. Es scheint daß in mehreren Verhandlungen zwischen
1812 und 1860 die Regierung der Vereinigten Staaten mit einem Theil ihrer
ursprünglichen Forderungen sich begnügte, und es ist kühl dabei bemerkt daß aus
jedem dieser Fälle eine Obligation für England erwachsen sei. Eine dieser zahl-
losen Wohlthaten, die anerkannt werden müssen, war der Abschluß des Reciprocitäts-
vertrags mit Canada, "aus dem den Vereinigten Staaten nicht der geringste Vor-
theil erwuchs." Die Schiedsrichter sind nachdrücklich ersucht den Schadenersatz, der
sich für das Entweichen der Alabama voraussetzen läßt, noch zu steigern, weil man
annehmen kann daß jeder frühere Nachlaß in einer amerikanischen Forderung das
freiwillige Aufgeben eines zugestandenen Rechtes war. Keine ausführliche Rücksicht
hat man natürlich auf den Beginn der San Juan-Frage genommen oder auf die
unfreundliche Entlassung des englischen Gesandten während des Krimkriegs. Kein
englischer Student der politischen Geschichte ist unbekannt mit dem übermüthigen und
brüsken Tone in welchem die amerikanischen Verhandlungen mit England im all-
gemeinen geführt worden sind. Die amerikanische Regierung gibt als englische
Kreuzer, die von englischen Häfen ausliefen, nicht allein die "Alabama" an, die man,
wenn man die Sprache mißbrauchen will, allenfalls so nennen könnte, sondern auch
den "Sumter," der gebaut und ausgerüstet worden ist auf Bundesgebiet, und
andere Schiffe für welche die englische Regierung in keiner Weise aufkommen kann.
Das Schiedsgericht wird aufgefordert die Eigenthümer der Schiffe und ihrer ver-
nichteten Frachten zu entschädigen, die Schiffseigenthümer welche ihren Schiffen
englische Namen gaben, die Assecuraten welche höhere Prämien zahlten, und die
Assecuranzgesellschaften welche den wachsenden Verlust deckten. Die Kosten der
amerikanischen Marine in Verfolgung und Bewachung der Kreuzer der Süd-
staaten sollen also aufgebracht werden, endlich sollen auch die sämmtlichen Kriegs-
kosten von einem oder zwei Jahren bezahlt werden -- eine Summe die vielleicht
die Höhe von sechsmalhundert Millionen Pfund Sterl. erreicht. Der
Tribut den Deutschland von Frankreich nach einem vollständigen Siege beitreibt,
ist läppisch im Vergleich zu dem Schadenersatze welchen die amerikanische Regierung
kraft eines Vertrags fordert, welchen Enthusiasten als den Anfang einer neuen Aera
von Frieden und Freundschaft schildern. Die feindseligsten und hohnvollsten Er-
lasse des Fürsten Bismarck an die französische Regierung sind höflich und freundlich
im Vergleich mit der Anklageschrift, für die der Präsident und sein Cabinet verant-
wortlich sind. Ein müßiger Versuch ist gemacht worden die amerikanische Regie-
rung zu entlasten, indem man die beispiellose Rohheit und Bosheit des Angriffs
den Advocaten zuschrieb die mit der Abfassung betraut waren. Es mag wahr
sein daß die amerikanischen Unterhändler sich selbst entehrt haben, sie haben aber
auch den Charakter ihres Volkes entehrt. Bei einem Privatstreite wird der Klä-
ger oder der Beklagte eigentlich verantwortlich gemacht für eine unvernünftige
Forderung, oder den Widerstand dagegen, und für irgendwelche ungegründete Ver-
dächtigung des Charakters seines Gegners. Der Beklagte in einer Pasquillange-
legenheit der den straffälligen Fall durch seinen Advocaten wiederholen läßt, trägt
selbstverständlich im Fall eines unglücklichen Verdicts die Schuld des erwachsenen
Schadens. Die Annahme wäre absurd daß die amerikanische Regierung es ge-
stattete durch die Gewaltsamkeit oder Maßlosigkeit ihres Geschäftsträgers compro-
mittirt zu werden. Es ist klar daß man die Unterzeichnung des Vertrags in
Washington nicht als eine Genugthuung für einen Anlaß zu Feindseligkeiten aufge-
faßt hat, der England in die Schuhe geschoben wird.

Man hat mit einiger Wahrscheinlichkeit vermuthet daß es den amerikani-
schen Advocaten gar nicht ernst ist, daß sie sich allein populär in der Heimath
machen und allmählich nur die Höhe des Schadenersatzes steigern wollen,
welcher andernfalls von ihren Clienten erwartet werden dürfte. Es ist nicht ab-
solut unmöglich daß ihr Zweck es mehr ist einen Insult als eine Injurie hervorzu-
rufen -- eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Eine beleidigende Sprache würde ver-
hältnißmäßig erträglich sein, wenn man sich ihrer als eines Mittels bediente
mehrere hundert Millionen Geld zu erlangen. Unhöflichkeit ohne praktischen Zweck
würde weit unentschuldbarer sein. Wenn die verkehrte und feindselige Darstellung
nicht den Zweck hat den Schadenansprüchen mehr Gewicht zu geben, so ist sie
eine rein impertinente Beschimpfung. Es ist in der That kaum möglich zu glauben
daß gerade die Fügsamkeit der englischen Regierung und ihrer Unterhändler den
Präsidenten und seine Berather zu der Annahme verleitet hat: man könne England
eine Geldstrafe von fünfhundert Millionen auferlegen. Mit strafbarer Laxheit
ward der Vertrag entworfen, aber er kann nicht in einer Weise interpretirt werden
die den amerikanischen Forderungen Recht gibt. Wenn das Schiedsgericht, wie
nicht zu erwarten ist, den Anspruch auf Anrechnung einer eingebildeten zweijährigen
Verlängerung des Krieges in Betracht ziehen sollte, so bliebe den englischen Agen-
ten keine Wahl als auf das Schiedsgericht zu verzichten. Es ist nicht glaublich
daß unparteiische Juristen, ihre und ihres Landes Ehre im Auge, sich Prätentionen
fügen worden welche die Neutralität kostspieliger machen würden als den offenen
Krieg; doch ist es anzunehmen daß die geschickten amerikanischen Sachwalter nicht
ohne allen Glauben an die Möglichkeit eines Erfolgs ihre Forderungen gestellt
haben. Sollten die Schiedsrichter wider Erwarten der skandalösen Ungerechtig-
keit der Forderer Vorschub leisten, so würde ein Aufgeben für deren Streites den
Sätzen des Vertrags gemäß sein, die Sache aber würde zugleich ein lehrreicher
Commentar zu der gesegneten Neuerung sein an Stelle der gewaltsamen Ent-
scheidung richterliche Schiedsprüche zu setzen. Selten aber sind die Gründe zu einer
Kriegserklärung so bitter aufgetreten als bei der ersten That des großen interna-
tionalen Schiedsgerichts.



Aus Rußland.

Der gestrige Regierungs-An-
zeiger" bringt uns endlich die Gewißheit daß der russische Gesandte in
Washington, Hr. Katakasi, auf ausdrücklichen Wunsch der Unionsregierung abbe-
rufen worden ist -- eine Thatsache die bekanntlich noch vor zwei Monaten, als der
Großfürst Alexis in New-York angelangt war, von hier aus officiös bestritten wurde,
indem das "Journ. de St. Petersbourg" so weit in seinem Dementi gieng, daß
es überhaupt jeden verdrießlichen Zwischenfall läugnete. Jetzt stellt sich heraus
daß das damals dem "Journ. de St. Petersbourg" zugesandte Communique eine
positive Unwahrheit enthielt, indem Fürst Gortschakoff in seiner jetzt veröffentlichten
Note vom 21 Dec. selbst darauf hinweist daß sein Vertreter im auswärtigen Amt,
während er selbst im Auslande weilte, schon damals von der Regierung der Ver-
einigten Staaten den Antrag auf Abberufung Katakasi's empfangen und nur den
Wunsch ausgedrückt hatte: daß derselbe aus Gründen der Convenienz und Oppor-
tunität während des Aufenthaltes des Großfürsten in den Vereinigten Staaten
noch weiter functioniren dürfe. Nach der Note des Fürsten Gortschakoff hatte aber
schon damals Hr. Katakasi von dem Vertreter des Reichskanzlers, Geheimrath von
Westmann, den Befehl erhalten: sobald der Großfürst die Vereinigten Staaten
verlassen, nach Rußland zurückzukehren, um nicht wieder in seine dortigen Functionen
einzutreten. Fürst Gortschakoff spricht in seiner Note aus daß Hr. Katakasi werde
zur Verantwortung gezogen werden, derselbe habe indeß schon jetzt mehrere der
wichtigsten Anschuldigungspunkte als unwahr abgelehnt. Zugleich beklagt sich der
Reichskanzler über die Haltung der amerikanischen Presse in dieser Angelegenheit,
und spricht schließlich die Ueberzeugung aus daß der Zwischenfall keine Störung
in den freundschaftlichen Beziehungen beider Länder herbeiführen werde. Es ist
immer nicht gut und schädigt das Ansehen der Behörden wenn sie Dinge läugnen
wollen die nicht zu läugnen sind, und Hr. v. Westmann hätte klüger gethan sein
Communique damals nicht dem "Journ. de St. Petersb." zuzusenden. Hr. Katakasi
ist übrigens, soweit ich ihn kenne, ein ziemlich träger und einigermaßen verdrehter
Mensch, er ist ein Grieche von Geburt.

Von der Erklärung welche Hr. Katkow in Bezug auf die zwischen ihm und
dem Prinzen Friedrich Karl geführte Unterredung hat veröffentlichen lassen, haben
Sie wohl bereits Notiz genommen. Ich mache Sie aber auf die äußerst pfiffige
Art aufmerksam in welcher er gegen die Veröffentlichung des Inhalts jener Unter-
redung in der "Russischen Welt" protestirt. Er sagt kein Wort darüber ob die
"Welt" den Inhalt richtig oder falsch wiedergegeben hat, sondern bemerkt nur daß
die Unterredung nach dem Besuche des Prinzen im Lyceum, bei Gelegenheit des
Dankbesuches den er dem Prinzen darauf gemacht, nur in Gegenwart weniger hoch-
gestellten Personen stattgefunden habe. Man muß natürlich nach diesem Protest
annehmen daß die "Welt" den Inhalt des Gespräches richtig mitgetheilt habe, und
in der That jubelt das Blatt daß es nach der Katkow'schen Erklärung Recht be-
halte.*) Ich habe Ihnen aber schon mitgetheilt daß die vom Prinzen gesprochenen
Worte ganz anders gelautet haben als die "Welt" glauben machen will, und daß
dabei Hr. Katkow keineswegs so gut weggekommen ist. Indem letzterer aber
darüber schweigt, erweckt er den Glauben daß der Prinz wirklich seine Anerkennung
für Katkow ausgesprochen habe. Erfolgt dann von Berlin aus ein Dementi, nun
-- so bleibt ihm ja immer übrig zu erklären daß er ja gar nicht die Richtigkeit der
Mittheilungen der "Welt" anerkannt habe, und daß in seinem Protest auch ein
Protest gegen die Richtigkeit des Inhalts enthalten sei.

Mit dem letzten Tage des alten Jahres ist nach längerem Interimisticum
der neue Chef der Oberpreßverwaltung, Longinow, in seine Functionen
eingetreten. Derselbe war bisher Gouverneur im Gouvernement Orel,
und in jüngeren Jahren gehörte er der diplomatischen Laufbahn an. In
dieser Beziehung erinnert man sich vielleicht hier und da noch seiner Person
aus den Tagen der Vermählung der Königin Victoria von England, indem er
damals der diplomatischen Mission beigegeben war welche Rußland bei den Hoch-
zeitsfeierlichkeiten repräsentirte. Dem neuen Chef der Oberpreßverwaltung sagt
man zwar nicht eine besonders frische und träftige Initiative nach; dagegen geht
ihm der Ruf eines Mannes von ehrlicher und wohlwollender Denkungsweise

*) Nach der Lesart der "Russ. Welt" sagte Katkow zu dem Prinzen: "Wir wün-
schen daß Rußland in seinen Angelegenheiten und in der Beurtheilung dessen
was ihm fromme ganz selbständig sei. Wir lassen uns in unseren Ansichten
vom russischen Interesse leiten, sind aber keineswegs die wüthenden Deutschenfresser
als welche uns die Deutschen Zeitungen darstellen." Darauf erwiederte der Prinz:
"Ich verstehe Sie. In diesem Sinn würde ich an Ihrer Stelle der enragirteste
Russe sein. Was Deutschland betrifft, so wissen Sie selbst -- Sie lebten ja in
Deutschland -- daß die Deutschen ein friedliebendes Volk sind. Gott sei Dank,
es ist uns gelungen große Siege zu erringen; wir wünschen aber nichts als
den Frieden. Die deutsche Cultur hat, wie ich glaube, einige Vorzüge vor der
französischen, der in Rußland der Vorrang eingeräumt wurde, und es wäre
wünschenswerth daß die Russen sich mit der deutschen Bildung näher bekannt
machten. Wir haben einen großen Erfolg gehabt, aber auch in Rußland ge-
schehen Wunder. Sie vollbringen in einigen Jahren was andere Völker in
Jahrhunderten erreichten. Es ist mir bekannt daß Sie die Reformen Ihres
Kaisers unterstützen. Deutschland wünscht den Frieden und die Freundschaft
mit Rußland. Unsere Interessen collidiren in keiner Weise mit Rußland. Wenn
in Deutschland eine gewisse Unzufriedenheit mit Rußland herrscht, so hat diese
einzig in der zu strengen Abschließung seiner Gränzen und in der übermäßigen Be-
engung des Handels durch die Strenge des Tarifs ihren Grund; was aber ist
dagegen zu thun? Sich darüber zu beklagen hat niemand ein Recht. Was den
Tarif betrifft, so waren wir niemals Fürsprecher der hohen Schutzzölle, und sind
im Gegentheil der Meinung daß sie uns selbst Nachtheil bringen, indem sie
unsere Productivität lahm legen."

als hinreichende Genugthuung in einer Streitangelegenheit angeſehen werden
müſſen die keine materiellen Nachtheile involvirte; auch iſt es nicht denkbar daß
eine Regierung welche ſich ſelbſt — und die Nation welche ſie vertritt — reſpectirt, im
voraus ihre Zuſtimmung dazu gibt daß ſie ſich einer Geldſtrafe als Schadenerſatz
für irgendein abſichtliches oder vorausbeſchloſſenes Vergehen im Falle der Ueber-
führung unterzöge. Nach der Anſicht der Agenten der Vereinigten Staaten ſind
einige von den Fragen die dem Genfer Tribunal unterbreitet werden müſſen, fol-
gende: ob England vor dem Kriege den Vereinigten Staaten irgendeine Pflicht der
Dankbarkeit ſchulde, ob das Benehmen der engliſchen Regierung zur Zeit des Ab-
falls unfreundlich war, ob die Sprache Lord Ruſſells und des Hrn. Gladſtone zu
tadeln war, und endlich ob die Pflichten der Neutralität durch England nicht ver-
letzt worden ſind, während alle andern civiliſirten Mächte es mit Erfolg vermieden
haben irgendwelchen Anlaß zur Beleidigung zu geben. Die feindliche Abſicht der
Urheber des Schriftſtückes kann ſich nicht offenbarer zeigen als in der Erwähnung
Frankreichs als eines der Staaten welche die Pflichten die England vernachläſſigte
beobachtet haben. Unter vielen ungerechten und maßloſen Ergüſſen im Laufe der
langathmigen Streitfrage macht die Anklageſchrift der amerikaniſchen Regierung
zuerſt den Verſuch das Verbrechen Englands durch gehäſſige Rückblicke auf ſeine
frühere Geſchichte zu ſteigern. Es ſcheint daß in mehreren Verhandlungen zwiſchen
1812 und 1860 die Regierung der Vereinigten Staaten mit einem Theil ihrer
urſprünglichen Forderungen ſich begnügte, und es iſt kühl dabei bemerkt daß aus
jedem dieſer Fälle eine Obligation für England erwachſen ſei. Eine dieſer zahl-
loſen Wohlthaten, die anerkannt werden müſſen, war der Abſchluß des Reciprocitäts-
vertrags mit Canada, „aus dem den Vereinigten Staaten nicht der geringſte Vor-
theil erwuchs.“ Die Schiedsrichter ſind nachdrücklich erſucht den Schadenerſatz, der
ſich für das Entweichen der Alabama vorausſetzen läßt, noch zu ſteigern, weil man
annehmen kann daß jeder frühere Nachlaß in einer amerikaniſchen Forderung das
freiwillige Aufgeben eines zugeſtandenen Rechtes war. Keine ausführliche Rückſicht
hat man natürlich auf den Beginn der San Juan-Frage genommen oder auf die
unfreundliche Entlaſſung des engliſchen Geſandten während des Krimkriegs. Kein
engliſcher Student der politiſchen Geſchichte iſt unbekannt mit dem übermüthigen und
brüsken Tone in welchem die amerikaniſchen Verhandlungen mit England im all-
gemeinen geführt worden ſind. Die amerikaniſche Regierung gibt als engliſche
Kreuzer, die von engliſchen Häfen ausliefen, nicht allein die „Alabama“ an, die man,
wenn man die Sprache mißbrauchen will, allenfalls ſo nennen könnte, ſondern auch
den „Sumter,“ der gebaut und ausgerüſtet worden iſt auf Bundesgebiet, und
andere Schiffe für welche die engliſche Regierung in keiner Weiſe aufkommen kann.
Das Schiedsgericht wird aufgefordert die Eigenthümer der Schiffe und ihrer ver-
nichteten Frachten zu entſchädigen, die Schiffseigenthümer welche ihren Schiffen
engliſche Namen gaben, die Aſſecuraten welche höhere Prämien zahlten, und die
Aſſecuranzgeſellſchaften welche den wachſenden Verluſt deckten. Die Koſten der
amerikaniſchen Marine in Verfolgung und Bewachung der Kreuzer der Süd-
ſtaaten ſollen alſo aufgebracht werden, endlich ſollen auch die ſämmtlichen Kriegs-
koſten von einem oder zwei Jahren bezahlt werden — eine Summe die vielleicht
die Höhe von ſechsmalhundert Millionen Pfund Sterl. erreicht. Der
Tribut den Deutſchland von Frankreich nach einem vollſtändigen Siege beitreibt,
iſt läppiſch im Vergleich zu dem Schadenerſatze welchen die amerikaniſche Regierung
kraft eines Vertrags fordert, welchen Enthuſiaſten als den Anfang einer neuen Aera
von Frieden und Freundſchaft ſchildern. Die feindſeligſten und hohnvollſten Er-
laſſe des Fürſten Bismarck an die franzöſiſche Regierung ſind höflich und freundlich
im Vergleich mit der Anklageſchrift, für die der Präſident und ſein Cabinet verant-
wortlich ſind. Ein müßiger Verſuch iſt gemacht worden die amerikaniſche Regie-
rung zu entlaſten, indem man die beiſpielloſe Rohheit und Bosheit des Angriffs
den Advocaten zuſchrieb die mit der Abfaſſung betraut waren. Es mag wahr
ſein daß die amerikaniſchen Unterhändler ſich ſelbſt entehrt haben, ſie haben aber
auch den Charakter ihres Volkes entehrt. Bei einem Privatſtreite wird der Klä-
ger oder der Beklagte eigentlich verantwortlich gemacht für eine unvernünftige
Forderung, oder den Widerſtand dagegen, und für irgendwelche ungegründete Ver-
dächtigung des Charakters ſeines Gegners. Der Beklagte in einer Pasquillange-
legenheit der den ſtraffälligen Fall durch ſeinen Advocaten wiederholen läßt, trägt
ſelbſtverſtändlich im Fall eines unglücklichen Verdicts die Schuld des erwachſenen
Schadens. Die Annahme wäre abſurd daß die amerikaniſche Regierung es ge-
ſtattete durch die Gewaltſamkeit oder Maßloſigkeit ihres Geſchäftsträgers compro-
mittirt zu werden. Es iſt klar daß man die Unterzeichnung des Vertrags in
Waſhington nicht als eine Genugthuung für einen Anlaß zu Feindſeligkeiten aufge-
faßt hat, der England in die Schuhe geſchoben wird.

Man hat mit einiger Wahrſcheinlichkeit vermuthet daß es den amerikani-
ſchen Advocaten gar nicht ernſt iſt, daß ſie ſich allein populär in der Heimath
machen und allmählich nur die Höhe des Schadenerſatzes ſteigern wollen,
welcher andernfalls von ihren Clienten erwartet werden dürfte. Es iſt nicht ab-
ſolut unmöglich daß ihr Zweck es mehr iſt einen Inſult als eine Injurie hervorzu-
rufen — eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Eine beleidigende Sprache würde ver-
hältnißmäßig erträglich ſein, wenn man ſich ihrer als eines Mittels bediente
mehrere hundert Millionen Geld zu erlangen. Unhöflichkeit ohne praktiſchen Zweck
würde weit unentſchuldbarer ſein. Wenn die verkehrte und feindſelige Darſtellung
nicht den Zweck hat den Schadenanſprüchen mehr Gewicht zu geben, ſo iſt ſie
eine rein impertinente Beſchimpfung. Es iſt in der That kaum möglich zu glauben
daß gerade die Fügſamkeit der engliſchen Regierung und ihrer Unterhändler den
Präſidenten und ſeine Berather zu der Annahme verleitet hat: man könne England
eine Geldſtrafe von fünfhundert Millionen auferlegen. Mit ſtrafbarer Laxheit
ward der Vertrag entworfen, aber er kann nicht in einer Weiſe interpretirt werden
die den amerikaniſchen Forderungen Recht gibt. Wenn das Schiedsgericht, wie
nicht zu erwarten iſt, den Anſpruch auf Anrechnung einer eingebildeten zweijährigen
Verlängerung des Krieges in Betracht ziehen ſollte, ſo bliebe den engliſchen Agen-
ten keine Wahl als auf das Schiedsgericht zu verzichten. Es iſt nicht glaublich
daß unparteiiſche Juriſten, ihre und ihres Landes Ehre im Auge, ſich Prätentionen
fügen worden welche die Neutralität koſtſpieliger machen würden als den offenen
Krieg; doch iſt es anzunehmen daß die geſchickten amerikaniſchen Sachwalter nicht
ohne allen Glauben an die Möglichkeit eines Erfolgs ihre Forderungen geſtellt
haben. Sollten die Schiedsrichter wider Erwarten der ſkandalöſen Ungerechtig-
keit der Forderer Vorſchub leiſten, ſo würde ein Aufgeben für deren Streites den
Sätzen des Vertrags gemäß ſein, die Sache aber würde zugleich ein lehrreicher
Commentar zu der geſegneten Neuerung ſein an Stelle der gewaltſamen Ent-
ſcheidung richterliche Schiedſprüche zu ſetzen. Selten aber ſind die Gründe zu einer
Kriegserklärung ſo bitter aufgetreten als bei der erſten That des großen interna-
tionalen Schiedsgerichts.



Aus Rußland.

Der geſtrige Regierungs-An-
zeiger“ bringt uns endlich die Gewißheit daß der ruſſiſche Geſandte in
Waſhington, Hr. Katakaſi, auf ausdrücklichen Wunſch der Unionsregierung abbe-
rufen worden iſt — eine Thatſache die bekanntlich noch vor zwei Monaten, als der
Großfürſt Alexis in New-York angelangt war, von hier aus officiös beſtritten wurde,
indem das „Journ. de St. Pétersbourg“ ſo weit in ſeinem Dementi gieng, daß
es überhaupt jeden verdrießlichen Zwiſchenfall läugnete. Jetzt ſtellt ſich heraus
daß das damals dem „Journ. de St. Pétersbourg“ zugeſandte Communiqué eine
poſitive Unwahrheit enthielt, indem Fürſt Gortſchakoff in ſeiner jetzt veröffentlichten
Note vom 21 Dec. ſelbſt darauf hinweist daß ſein Vertreter im auswärtigen Amt,
während er ſelbſt im Auslande weilte, ſchon damals von der Regierung der Ver-
einigten Staaten den Antrag auf Abberufung Katakaſi’s empfangen und nur den
Wunſch ausgedrückt hatte: daß derſelbe aus Gründen der Convenienz und Oppor-
tunität während des Aufenthaltes des Großfürſten in den Vereinigten Staaten
noch weiter functioniren dürfe. Nach der Note des Fürſten Gortſchakoff hatte aber
ſchon damals Hr. Katakaſi von dem Vertreter des Reichskanzlers, Geheimrath von
Weſtmann, den Befehl erhalten: ſobald der Großfürſt die Vereinigten Staaten
verlaſſen, nach Rußland zurückzukehren, um nicht wieder in ſeine dortigen Functionen
einzutreten. Fürſt Gortſchakoff ſpricht in ſeiner Note aus daß Hr. Katakaſi werde
zur Verantwortung gezogen werden, derſelbe habe indeß ſchon jetzt mehrere der
wichtigſten Anſchuldigungspunkte als unwahr abgelehnt. Zugleich beklagt ſich der
Reichskanzler über die Haltung der amerikaniſchen Preſſe in dieſer Angelegenheit,
und ſpricht ſchließlich die Ueberzeugung aus daß der Zwiſchenfall keine Störung
in den freundſchaftlichen Beziehungen beider Länder herbeiführen werde. Es iſt
immer nicht gut und ſchädigt das Anſehen der Behörden wenn ſie Dinge läugnen
wollen die nicht zu läugnen ſind, und Hr. v. Weſtmann hätte klüger gethan ſein
Communiqué damals nicht dem „Journ. de St. Pétersb.“ zuzuſenden. Hr. Katakaſi
iſt übrigens, ſoweit ich ihn kenne, ein ziemlich träger und einigermaßen verdrehter
Menſch, er iſt ein Grieche von Geburt.

Von der Erklärung welche Hr. Katkow in Bezug auf die zwiſchen ihm und
dem Prinzen Friedrich Karl geführte Unterredung hat veröffentlichen laſſen, haben
Sie wohl bereits Notiz genommen. Ich mache Sie aber auf die äußerſt pfiffige
Art aufmerkſam in welcher er gegen die Veröffentlichung des Inhalts jener Unter-
redung in der „Ruſſiſchen Welt“ proteſtirt. Er ſagt kein Wort darüber ob die
„Welt“ den Inhalt richtig oder falſch wiedergegeben hat, ſondern bemerkt nur daß
die Unterredung nach dem Beſuche des Prinzen im Lyceum, bei Gelegenheit des
Dankbeſuches den er dem Prinzen darauf gemacht, nur in Gegenwart weniger hoch-
geſtellten Perſonen ſtattgefunden habe. Man muß natürlich nach dieſem Proteſt
annehmen daß die „Welt“ den Inhalt des Geſpräches richtig mitgetheilt habe, und
in der That jubelt das Blatt daß es nach der Katkow’ſchen Erklärung Recht be-
halte.*) Ich habe Ihnen aber ſchon mitgetheilt daß die vom Prinzen geſprochenen
Worte ganz anders gelautet haben als die „Welt“ glauben machen will, und daß
dabei Hr. Katkow keineswegs ſo gut weggekommen iſt. Indem letzterer aber
darüber ſchweigt, erweckt er den Glauben daß der Prinz wirklich ſeine Anerkennung
für Katkow ausgeſprochen habe. Erfolgt dann von Berlin aus ein Dementi, nun
— ſo bleibt ihm ja immer übrig zu erklären daß er ja gar nicht die Richtigkeit der
Mittheilungen der „Welt“ anerkannt habe, und daß in ſeinem Proteſt auch ein
Proteſt gegen die Richtigkeit des Inhalts enthalten ſei.

Mit dem letzten Tage des alten Jahres iſt nach längerem Interimiſticum
der neue Chef der Oberpreßverwaltung, Longinow, in ſeine Functionen
eingetreten. Derſelbe war bisher Gouverneur im Gouvernement Orel,
und in jüngeren Jahren gehörte er der diplomatiſchen Laufbahn an. In
dieſer Beziehung erinnert man ſich vielleicht hier und da noch ſeiner Perſon
aus den Tagen der Vermählung der Königin Victoria von England, indem er
damals der diplomatiſchen Miſſion beigegeben war welche Rußland bei den Hoch-
zeitsfeierlichkeiten repräſentirte. Dem neuen Chef der Oberpreßverwaltung ſagt
man zwar nicht eine beſonders friſche und träftige Initiative nach; dagegen geht
ihm der Ruf eines Mannes von ehrlicher und wohlwollender Denkungsweiſe

*) Nach der Lesart der „Ruſſ. Welt“ ſagte Katkow zu dem Prinzen: „Wir wün-
ſchen daß Rußland in ſeinen Angelegenheiten und in der Beurtheilung deſſen
was ihm fromme ganz ſelbſtändig ſei. Wir laſſen uns in unſeren Anſichten
vom ruſſiſchen Intereſſe leiten, ſind aber keineswegs die wüthenden Deutſchenfreſſer
als welche uns die Deutſchen Zeitungen darſtellen.“ Darauf erwiederte der Prinz:
„Ich verſtehe Sie. In dieſem Sinn würde ich an Ihrer Stelle der enragirteſte
Ruſſe ſein. Was Deutſchland betrifft, ſo wiſſen Sie ſelbſt — Sie lebten ja in
Deutſchland — daß die Deutſchen ein friedliebendes Volk ſind. Gott ſei Dank,
es iſt uns gelungen große Siege zu erringen; wir wünſchen aber nichts als
den Frieden. Die deutſche Cultur hat, wie ich glaube, einige Vorzüge vor der
franzöſiſchen, der in Rußland der Vorrang eingeräumt wurde, und es wäre
wünſchenswerth daß die Ruſſen ſich mit der deutſchen Bildung näher bekannt
machten. Wir haben einen großen Erfolg gehabt, aber auch in Rußland ge-
ſchehen Wunder. Sie vollbringen in einigen Jahren was andere Völker in
Jahrhunderten erreichten. Es iſt mir bekannt daß Sie die Reformen Ihres
Kaiſers unterſtützen. Deutſchland wünſcht den Frieden und die Freundſchaft
mit Rußland. Unſere Intereſſen collidiren in keiner Weiſe mit Rußland. Wenn
in Deutſchland eine gewiſſe Unzufriedenheit mit Rußland herrſcht, ſo hat dieſe
einzig in der zu ſtrengen Abſchließung ſeiner Gränzen und in der übermäßigen Be-
engung des Handels durch die Strenge des Tarifs ihren Grund; was aber iſt
dagegen zu thun? Sich darüber zu beklagen hat niemand ein Recht. Was den
Tarif betrifft, ſo waren wir niemals Fürſprecher der hohen Schutzzölle, und ſind
im Gegentheil der Meinung daß ſie uns ſelbſt Nachtheil bringen, indem ſie
unſere Productivität lahm legen.“
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[146/0002] als hinreichende Genugthuung in einer Streitangelegenheit angeſehen werden müſſen die keine materiellen Nachtheile involvirte; auch iſt es nicht denkbar daß eine Regierung welche ſich ſelbſt — und die Nation welche ſie vertritt — reſpectirt, im voraus ihre Zuſtimmung dazu gibt daß ſie ſich einer Geldſtrafe als Schadenerſatz für irgendein abſichtliches oder vorausbeſchloſſenes Vergehen im Falle der Ueber- führung unterzöge. Nach der Anſicht der Agenten der Vereinigten Staaten ſind einige von den Fragen die dem Genfer Tribunal unterbreitet werden müſſen, fol- gende: ob England vor dem Kriege den Vereinigten Staaten irgendeine Pflicht der Dankbarkeit ſchulde, ob das Benehmen der engliſchen Regierung zur Zeit des Ab- falls unfreundlich war, ob die Sprache Lord Ruſſells und des Hrn. Gladſtone zu tadeln war, und endlich ob die Pflichten der Neutralität durch England nicht ver- letzt worden ſind, während alle andern civiliſirten Mächte es mit Erfolg vermieden haben irgendwelchen Anlaß zur Beleidigung zu geben. Die feindliche Abſicht der Urheber des Schriftſtückes kann ſich nicht offenbarer zeigen als in der Erwähnung Frankreichs als eines der Staaten welche die Pflichten die England vernachläſſigte beobachtet haben. Unter vielen ungerechten und maßloſen Ergüſſen im Laufe der langathmigen Streitfrage macht die Anklageſchrift der amerikaniſchen Regierung zuerſt den Verſuch das Verbrechen Englands durch gehäſſige Rückblicke auf ſeine frühere Geſchichte zu ſteigern. Es ſcheint daß in mehreren Verhandlungen zwiſchen 1812 und 1860 die Regierung der Vereinigten Staaten mit einem Theil ihrer urſprünglichen Forderungen ſich begnügte, und es iſt kühl dabei bemerkt daß aus jedem dieſer Fälle eine Obligation für England erwachſen ſei. Eine dieſer zahl- loſen Wohlthaten, die anerkannt werden müſſen, war der Abſchluß des Reciprocitäts- vertrags mit Canada, „aus dem den Vereinigten Staaten nicht der geringſte Vor- theil erwuchs.“ Die Schiedsrichter ſind nachdrücklich erſucht den Schadenerſatz, der ſich für das Entweichen der Alabama vorausſetzen läßt, noch zu ſteigern, weil man annehmen kann daß jeder frühere Nachlaß in einer amerikaniſchen Forderung das freiwillige Aufgeben eines zugeſtandenen Rechtes war. Keine ausführliche Rückſicht hat man natürlich auf den Beginn der San Juan-Frage genommen oder auf die unfreundliche Entlaſſung des engliſchen Geſandten während des Krimkriegs. Kein engliſcher Student der politiſchen Geſchichte iſt unbekannt mit dem übermüthigen und brüsken Tone in welchem die amerikaniſchen Verhandlungen mit England im all- gemeinen geführt worden ſind. Die amerikaniſche Regierung gibt als engliſche Kreuzer, die von engliſchen Häfen ausliefen, nicht allein die „Alabama“ an, die man, wenn man die Sprache mißbrauchen will, allenfalls ſo nennen könnte, ſondern auch den „Sumter,“ der gebaut und ausgerüſtet worden iſt auf Bundesgebiet, und andere Schiffe für welche die engliſche Regierung in keiner Weiſe aufkommen kann. Das Schiedsgericht wird aufgefordert die Eigenthümer der Schiffe und ihrer ver- nichteten Frachten zu entſchädigen, die Schiffseigenthümer welche ihren Schiffen engliſche Namen gaben, die Aſſecuraten welche höhere Prämien zahlten, und die Aſſecuranzgeſellſchaften welche den wachſenden Verluſt deckten. Die Koſten der amerikaniſchen Marine in Verfolgung und Bewachung der Kreuzer der Süd- ſtaaten ſollen alſo aufgebracht werden, endlich ſollen auch die ſämmtlichen Kriegs- koſten von einem oder zwei Jahren bezahlt werden — eine Summe die vielleicht die Höhe von ſechsmalhundert Millionen Pfund Sterl. erreicht. Der Tribut den Deutſchland von Frankreich nach einem vollſtändigen Siege beitreibt, iſt läppiſch im Vergleich zu dem Schadenerſatze welchen die amerikaniſche Regierung kraft eines Vertrags fordert, welchen Enthuſiaſten als den Anfang einer neuen Aera von Frieden und Freundſchaft ſchildern. Die feindſeligſten und hohnvollſten Er- laſſe des Fürſten Bismarck an die franzöſiſche Regierung ſind höflich und freundlich im Vergleich mit der Anklageſchrift, für die der Präſident und ſein Cabinet verant- wortlich ſind. Ein müßiger Verſuch iſt gemacht worden die amerikaniſche Regie- rung zu entlaſten, indem man die beiſpielloſe Rohheit und Bosheit des Angriffs den Advocaten zuſchrieb die mit der Abfaſſung betraut waren. Es mag wahr ſein daß die amerikaniſchen Unterhändler ſich ſelbſt entehrt haben, ſie haben aber auch den Charakter ihres Volkes entehrt. Bei einem Privatſtreite wird der Klä- ger oder der Beklagte eigentlich verantwortlich gemacht für eine unvernünftige Forderung, oder den Widerſtand dagegen, und für irgendwelche ungegründete Ver- dächtigung des Charakters ſeines Gegners. Der Beklagte in einer Pasquillange- legenheit der den ſtraffälligen Fall durch ſeinen Advocaten wiederholen läßt, trägt ſelbſtverſtändlich im Fall eines unglücklichen Verdicts die Schuld des erwachſenen Schadens. Die Annahme wäre abſurd daß die amerikaniſche Regierung es ge- ſtattete durch die Gewaltſamkeit oder Maßloſigkeit ihres Geſchäftsträgers compro- mittirt zu werden. Es iſt klar daß man die Unterzeichnung des Vertrags in Waſhington nicht als eine Genugthuung für einen Anlaß zu Feindſeligkeiten aufge- faßt hat, der England in die Schuhe geſchoben wird. Man hat mit einiger Wahrſcheinlichkeit vermuthet daß es den amerikani- ſchen Advocaten gar nicht ernſt iſt, daß ſie ſich allein populär in der Heimath machen und allmählich nur die Höhe des Schadenerſatzes ſteigern wollen, welcher andernfalls von ihren Clienten erwartet werden dürfte. Es iſt nicht ab- ſolut unmöglich daß ihr Zweck es mehr iſt einen Inſult als eine Injurie hervorzu- rufen — eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Eine beleidigende Sprache würde ver- hältnißmäßig erträglich ſein, wenn man ſich ihrer als eines Mittels bediente mehrere hundert Millionen Geld zu erlangen. Unhöflichkeit ohne praktiſchen Zweck würde weit unentſchuldbarer ſein. Wenn die verkehrte und feindſelige Darſtellung nicht den Zweck hat den Schadenanſprüchen mehr Gewicht zu geben, ſo iſt ſie eine rein impertinente Beſchimpfung. Es iſt in der That kaum möglich zu glauben daß gerade die Fügſamkeit der engliſchen Regierung und ihrer Unterhändler den Präſidenten und ſeine Berather zu der Annahme verleitet hat: man könne England eine Geldſtrafe von fünfhundert Millionen auferlegen. Mit ſtrafbarer Laxheit ward der Vertrag entworfen, aber er kann nicht in einer Weiſe interpretirt werden die den amerikaniſchen Forderungen Recht gibt. Wenn das Schiedsgericht, wie nicht zu erwarten iſt, den Anſpruch auf Anrechnung einer eingebildeten zweijährigen Verlängerung des Krieges in Betracht ziehen ſollte, ſo bliebe den engliſchen Agen- ten keine Wahl als auf das Schiedsgericht zu verzichten. Es iſt nicht glaublich daß unparteiiſche Juriſten, ihre und ihres Landes Ehre im Auge, ſich Prätentionen fügen worden welche die Neutralität koſtſpieliger machen würden als den offenen Krieg; doch iſt es anzunehmen daß die geſchickten amerikaniſchen Sachwalter nicht ohne allen Glauben an die Möglichkeit eines Erfolgs ihre Forderungen geſtellt haben. Sollten die Schiedsrichter wider Erwarten der ſkandalöſen Ungerechtig- keit der Forderer Vorſchub leiſten, ſo würde ein Aufgeben für deren Streites den Sätzen des Vertrags gemäß ſein, die Sache aber würde zugleich ein lehrreicher Commentar zu der geſegneten Neuerung ſein an Stelle der gewaltſamen Ent- ſcheidung richterliche Schiedſprüche zu ſetzen. Selten aber ſind die Gründe zu einer Kriegserklärung ſo bitter aufgetreten als bei der erſten That des großen interna- tionalen Schiedsgerichts. Aus Rußland. ×× St. Petersburg, 5 Jan. Der geſtrige Regierungs-An- zeiger“ bringt uns endlich die Gewißheit daß der ruſſiſche Geſandte in Waſhington, Hr. Katakaſi, auf ausdrücklichen Wunſch der Unionsregierung abbe- rufen worden iſt — eine Thatſache die bekanntlich noch vor zwei Monaten, als der Großfürſt Alexis in New-York angelangt war, von hier aus officiös beſtritten wurde, indem das „Journ. de St. Pétersbourg“ ſo weit in ſeinem Dementi gieng, daß es überhaupt jeden verdrießlichen Zwiſchenfall läugnete. Jetzt ſtellt ſich heraus daß das damals dem „Journ. de St. Pétersbourg“ zugeſandte Communiqué eine poſitive Unwahrheit enthielt, indem Fürſt Gortſchakoff in ſeiner jetzt veröffentlichten Note vom 21 Dec. ſelbſt darauf hinweist daß ſein Vertreter im auswärtigen Amt, während er ſelbſt im Auslande weilte, ſchon damals von der Regierung der Ver- einigten Staaten den Antrag auf Abberufung Katakaſi’s empfangen und nur den Wunſch ausgedrückt hatte: daß derſelbe aus Gründen der Convenienz und Oppor- tunität während des Aufenthaltes des Großfürſten in den Vereinigten Staaten noch weiter functioniren dürfe. Nach der Note des Fürſten Gortſchakoff hatte aber ſchon damals Hr. Katakaſi von dem Vertreter des Reichskanzlers, Geheimrath von Weſtmann, den Befehl erhalten: ſobald der Großfürſt die Vereinigten Staaten verlaſſen, nach Rußland zurückzukehren, um nicht wieder in ſeine dortigen Functionen einzutreten. Fürſt Gortſchakoff ſpricht in ſeiner Note aus daß Hr. Katakaſi werde zur Verantwortung gezogen werden, derſelbe habe indeß ſchon jetzt mehrere der wichtigſten Anſchuldigungspunkte als unwahr abgelehnt. Zugleich beklagt ſich der Reichskanzler über die Haltung der amerikaniſchen Preſſe in dieſer Angelegenheit, und ſpricht ſchließlich die Ueberzeugung aus daß der Zwiſchenfall keine Störung in den freundſchaftlichen Beziehungen beider Länder herbeiführen werde. Es iſt immer nicht gut und ſchädigt das Anſehen der Behörden wenn ſie Dinge läugnen wollen die nicht zu läugnen ſind, und Hr. v. Weſtmann hätte klüger gethan ſein Communiqué damals nicht dem „Journ. de St. Pétersb.“ zuzuſenden. Hr. Katakaſi iſt übrigens, ſoweit ich ihn kenne, ein ziemlich träger und einigermaßen verdrehter Menſch, er iſt ein Grieche von Geburt. Von der Erklärung welche Hr. Katkow in Bezug auf die zwiſchen ihm und dem Prinzen Friedrich Karl geführte Unterredung hat veröffentlichen laſſen, haben Sie wohl bereits Notiz genommen. Ich mache Sie aber auf die äußerſt pfiffige Art aufmerkſam in welcher er gegen die Veröffentlichung des Inhalts jener Unter- redung in der „Ruſſiſchen Welt“ proteſtirt. Er ſagt kein Wort darüber ob die „Welt“ den Inhalt richtig oder falſch wiedergegeben hat, ſondern bemerkt nur daß die Unterredung nach dem Beſuche des Prinzen im Lyceum, bei Gelegenheit des Dankbeſuches den er dem Prinzen darauf gemacht, nur in Gegenwart weniger hoch- geſtellten Perſonen ſtattgefunden habe. Man muß natürlich nach dieſem Proteſt annehmen daß die „Welt“ den Inhalt des Geſpräches richtig mitgetheilt habe, und in der That jubelt das Blatt daß es nach der Katkow’ſchen Erklärung Recht be- halte. *) Ich habe Ihnen aber ſchon mitgetheilt daß die vom Prinzen geſprochenen Worte ganz anders gelautet haben als die „Welt“ glauben machen will, und daß dabei Hr. Katkow keineswegs ſo gut weggekommen iſt. Indem letzterer aber darüber ſchweigt, erweckt er den Glauben daß der Prinz wirklich ſeine Anerkennung für Katkow ausgeſprochen habe. Erfolgt dann von Berlin aus ein Dementi, nun — ſo bleibt ihm ja immer übrig zu erklären daß er ja gar nicht die Richtigkeit der Mittheilungen der „Welt“ anerkannt habe, und daß in ſeinem Proteſt auch ein Proteſt gegen die Richtigkeit des Inhalts enthalten ſei. Mit dem letzten Tage des alten Jahres iſt nach längerem Interimiſticum der neue Chef der Oberpreßverwaltung, Longinow, in ſeine Functionen eingetreten. Derſelbe war bisher Gouverneur im Gouvernement Orel, und in jüngeren Jahren gehörte er der diplomatiſchen Laufbahn an. In dieſer Beziehung erinnert man ſich vielleicht hier und da noch ſeiner Perſon aus den Tagen der Vermählung der Königin Victoria von England, indem er damals der diplomatiſchen Miſſion beigegeben war welche Rußland bei den Hoch- zeitsfeierlichkeiten repräſentirte. Dem neuen Chef der Oberpreßverwaltung ſagt man zwar nicht eine beſonders friſche und träftige Initiative nach; dagegen geht ihm der Ruf eines Mannes von ehrlicher und wohlwollender Denkungsweiſe *) Nach der Lesart der „Ruſſ. Welt“ ſagte Katkow zu dem Prinzen: „Wir wün- ſchen daß Rußland in ſeinen Angelegenheiten und in der Beurtheilung deſſen was ihm fromme ganz ſelbſtändig ſei. Wir laſſen uns in unſeren Anſichten vom ruſſiſchen Intereſſe leiten, ſind aber keineswegs die wüthenden Deutſchenfreſſer als welche uns die Deutſchen Zeitungen darſtellen.“ Darauf erwiederte der Prinz: „Ich verſtehe Sie. In dieſem Sinn würde ich an Ihrer Stelle der enragirteſte Ruſſe ſein. Was Deutſchland betrifft, ſo wiſſen Sie ſelbſt — Sie lebten ja in Deutſchland — daß die Deutſchen ein friedliebendes Volk ſind. Gott ſei Dank, es iſt uns gelungen große Siege zu erringen; wir wünſchen aber nichts als den Frieden. Die deutſche Cultur hat, wie ich glaube, einige Vorzüge vor der franzöſiſchen, der in Rußland der Vorrang eingeräumt wurde, und es wäre wünſchenswerth daß die Ruſſen ſich mit der deutſchen Bildung näher bekannt machten. Wir haben einen großen Erfolg gehabt, aber auch in Rußland ge- ſchehen Wunder. Sie vollbringen in einigen Jahren was andere Völker in Jahrhunderten erreichten. Es iſt mir bekannt daß Sie die Reformen Ihres Kaiſers unterſtützen. Deutſchland wünſcht den Frieden und die Freundſchaft mit Rußland. Unſere Intereſſen collidiren in keiner Weiſe mit Rußland. Wenn in Deutſchland eine gewiſſe Unzufriedenheit mit Rußland herrſcht, ſo hat dieſe einzig in der zu ſtrengen Abſchließung ſeiner Gränzen und in der übermäßigen Be- engung des Handels durch die Strenge des Tarifs ihren Grund; was aber iſt dagegen zu thun? Sich darüber zu beklagen hat niemand ein Recht. Was den Tarif betrifft, ſo waren wir niemals Fürſprecher der hohen Schutzzölle, und ſind im Gegentheil der Meinung daß ſie uns ſelbſt Nachtheil bringen, indem ſie unſere Productivität lahm legen.“

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen, Susanne Haaf: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-04-08T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 11, 11. Januar 1872, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine11_1872/2>, abgerufen am 23.11.2024.