Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 3. Chemnitz, 1884.

Bild:
<< vorherige Seite

Unschuld, sie lügen in aller Unschuld; wie ver¬
möchten sie, gegen mich -- gerecht zu sein!

Wer unter den Guten lebt, den lehrt Mitleid lügen.
Mitleid macht dumpfe Luft allen freien Seelen. Die
Dummheit der Guten nämlich ist unergründlich.

Mich selber verbergen und meinen Reichthum --
das lernte ich da unten: denn Jeden fand ich noch
arm am Geiste. Das war der Lug meines Mitleidens,
dass ich bei Jedem wusste,

-- dass ich Jedem es ansah und anroch, was ihm
Geistes genug und was ihm schon Geistes zuviel war!

Ihre steifen Weisen: ich hiess sie weise, nicht
steif, -- so lernte ich Worte verschlucken. Ihre Todten¬
gräber: ich hiess sie Forscher und Prüfer, -- so lernte
ich Worte vertauschen.

Die Todtengräber graben sich Krankheiten an.
Unter altem Schutte ruhn schlimme Dünste. Man soll
den Morast nicht aufrühren. Man soll auf Bergen leben.

Mit seligen Nüstern athme ich wieder Berges-
Freiheit! Erlöst ist endlich meine Nase vom Geruch
alles Menschenwesens!

Von scharfen Lüften gekitzelt, wie von schäumenden
Weinen, niest meine Seele, -- niest und jubelt sich
zu: Gesundheit!

Also sprach Zarathustra.


4*

Unschuld, sie lügen in aller Unschuld; wie ver¬
möchten sie, gegen mich — gerecht zu sein!

Wer unter den Guten lebt, den lehrt Mitleid lügen.
Mitleid macht dumpfe Luft allen freien Seelen. Die
Dummheit der Guten nämlich ist unergründlich.

Mich selber verbergen und meinen Reichthum —
das lernte ich da unten: denn Jeden fand ich noch
arm am Geiste. Das war der Lug meines Mitleidens,
dass ich bei Jedem wusste,

— dass ich Jedem es ansah und anroch, was ihm
Geistes genug und was ihm schon Geistes zuviel war!

Ihre steifen Weisen: ich hiess sie weise, nicht
steif, — so lernte ich Worte verschlucken. Ihre Todten¬
gräber: ich hiess sie Forscher und Prüfer, — so lernte
ich Worte vertauschen.

Die Todtengräber graben sich Krankheiten an.
Unter altem Schutte ruhn schlimme Dünste. Man soll
den Morast nicht aufrühren. Man soll auf Bergen leben.

Mit seligen Nüstern athme ich wieder Berges-
Freiheit! Erlöst ist endlich meine Nase vom Geruch
alles Menschenwesens!

Von scharfen Lüften gekitzelt, wie von schäumenden
Weinen, niest meine Seele, — niest und jubelt sich
zu: Gesundheit!

Also sprach Zarathustra.


4*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0061" n="51"/>
Unschuld, sie lügen in aller Unschuld; wie <hi rendition="#g">ver</hi>¬<lb/><hi rendition="#g">möchten</hi> sie, gegen mich &#x2014; gerecht zu sein!</p><lb/>
        <p>Wer unter den Guten lebt, den lehrt Mitleid lügen.<lb/>
Mitleid macht dumpfe Luft allen freien Seelen. Die<lb/>
Dummheit der Guten nämlich ist unergründlich.</p><lb/>
        <p>Mich selber verbergen und meinen Reichthum &#x2014;<lb/><hi rendition="#g">das</hi> lernte ich da unten: denn Jeden fand ich noch<lb/>
arm am Geiste. Das war der Lug meines Mitleidens,<lb/>
dass ich bei Jedem wusste,</p><lb/>
        <p>&#x2014; dass ich Jedem es ansah und anroch, was ihm<lb/>
Geistes <hi rendition="#g">genug</hi> und was ihm schon Geistes <hi rendition="#g">zuviel</hi> war!</p><lb/>
        <p>Ihre steifen Weisen: ich hiess sie weise, nicht<lb/>
steif, &#x2014; so lernte ich Worte verschlucken. Ihre Todten¬<lb/>
gräber: ich hiess sie Forscher und Prüfer, &#x2014; so lernte<lb/>
ich Worte vertauschen.</p><lb/>
        <p>Die Todtengräber graben sich Krankheiten an.<lb/>
Unter altem Schutte ruhn schlimme Dünste. Man soll<lb/>
den Morast nicht aufrühren. Man soll auf Bergen leben.</p><lb/>
        <p>Mit seligen Nüstern athme ich wieder Berges-<lb/>
Freiheit! Erlöst ist endlich meine Nase vom Geruch<lb/>
alles Menschenwesens!</p><lb/>
        <p>Von scharfen Lüften gekitzelt, wie von schäumenden<lb/>
Weinen, <hi rendition="#g">niest</hi> meine Seele, &#x2014; niest und jubelt sich<lb/>
zu: Gesundheit!</p><lb/>
        <p>Also sprach Zarathustra.</p><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <fw place="bottom" type="sig">4*<lb/></fw>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[51/0061] Unschuld, sie lügen in aller Unschuld; wie ver¬ möchten sie, gegen mich — gerecht zu sein! Wer unter den Guten lebt, den lehrt Mitleid lügen. Mitleid macht dumpfe Luft allen freien Seelen. Die Dummheit der Guten nämlich ist unergründlich. Mich selber verbergen und meinen Reichthum — das lernte ich da unten: denn Jeden fand ich noch arm am Geiste. Das war der Lug meines Mitleidens, dass ich bei Jedem wusste, — dass ich Jedem es ansah und anroch, was ihm Geistes genug und was ihm schon Geistes zuviel war! Ihre steifen Weisen: ich hiess sie weise, nicht steif, — so lernte ich Worte verschlucken. Ihre Todten¬ gräber: ich hiess sie Forscher und Prüfer, — so lernte ich Worte vertauschen. Die Todtengräber graben sich Krankheiten an. Unter altem Schutte ruhn schlimme Dünste. Man soll den Morast nicht aufrühren. Man soll auf Bergen leben. Mit seligen Nüstern athme ich wieder Berges- Freiheit! Erlöst ist endlich meine Nase vom Geruch alles Menschenwesens! Von scharfen Lüften gekitzelt, wie von schäumenden Weinen, niest meine Seele, — niest und jubelt sich zu: Gesundheit! Also sprach Zarathustra. 4*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra03_1884
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra03_1884/61
Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 3. Chemnitz, 1884, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra03_1884/61>, abgerufen am 22.11.2024.