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Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 2. Chemnitz, 1883.

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Alle Heimlichkeiten eures Grundes sollen an's
Licht; und wenn ihr aufgewühlt und zerbrochen in
der Sonne liegt, wird auch eure Lüge von eurer
Wahrheit ausgeschieden sein.

Denn diess ist eure Wahrheit: ihr seid zu reinlich
für den Schmutz der Worte: Rache, Strafe, Lohn,
Vergeltung.

Ihr liebt eure Tugend, wie die Mutter ihr Kind;
aber wann hörte man, dass eine Mutter bezahlt sein
wollte für ihre Liebe?

Es ist euer liebstes Selbst, eure Tugend. Des
Ringes Durst ist in euch: sich selber wieder zu
erreichen, dazu ringt und dreht sich jeder Ring.

Und dem Sterne gleich, der erlischt, ist jedes
Werk eurer Tugend: immer ist sein Licht noch unter¬
wegs und wandert -- und wann wird es nicht mehr
unterwegs sein?

Also ist das Licht eurer Tugend noch unterwegs,
auch wenn das Werk gethan ist. Mag es nun ver¬
gessen und todt sein: sein Strahl von Licht lebt noch
und wandert.

Dass eure Tugend euer Selbst sei und nicht ein
Fremdes, eine Haut, eine Bemäntelung: das ist die
Wahrheit aus dem Grunde eurer Seele, ihr Tugend¬
haften! --

Aber wohl giebt es Solche, denen Tugend der
Krampf unter einer Peitsche heisst: und ihr habt mir
zuviel auf deren Geschrei gehört!

Und Andre giebt es, die heissen Tugend das
Faulwerden ihrer Laster; und wenn ihr Hass und

Alle Heimlichkeiten eures Grundes sollen an's
Licht; und wenn ihr aufgewühlt und zerbrochen in
der Sonne liegt, wird auch eure Lüge von eurer
Wahrheit ausgeschieden sein.

Denn diess ist eure Wahrheit: ihr seid zu reinlich
für den Schmutz der Worte: Rache, Strafe, Lohn,
Vergeltung.

Ihr liebt eure Tugend, wie die Mutter ihr Kind;
aber wann hörte man, dass eine Mutter bezahlt sein
wollte für ihre Liebe?

Es ist euer liebstes Selbst, eure Tugend. Des
Ringes Durst ist in euch: sich selber wieder zu
erreichen, dazu ringt und dreht sich jeder Ring.

Und dem Sterne gleich, der erlischt, ist jedes
Werk eurer Tugend: immer ist sein Licht noch unter¬
wegs und wandert — und wann wird es nicht mehr
unterwegs sein?

Also ist das Licht eurer Tugend noch unterwegs,
auch wenn das Werk gethan ist. Mag es nun ver¬
gessen und todt sein: sein Strahl von Licht lebt noch
und wandert.

Dass eure Tugend euer Selbst sei und nicht ein
Fremdes, eine Haut, eine Bemäntelung: das ist die
Wahrheit aus dem Grunde eurer Seele, ihr Tugend¬
haften! —

Aber wohl giebt es Solche, denen Tugend der
Krampf unter einer Peitsche heisst: und ihr habt mir
zuviel auf deren Geschrei gehört!

Und Andre giebt es, die heissen Tugend das
Faulwerden ihrer Laster; und wenn ihr Hass und

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[18/0028] Alle Heimlichkeiten eures Grundes sollen an's Licht; und wenn ihr aufgewühlt und zerbrochen in der Sonne liegt, wird auch eure Lüge von eurer Wahrheit ausgeschieden sein. Denn diess ist eure Wahrheit: ihr seid zu reinlich für den Schmutz der Worte: Rache, Strafe, Lohn, Vergeltung. Ihr liebt eure Tugend, wie die Mutter ihr Kind; aber wann hörte man, dass eine Mutter bezahlt sein wollte für ihre Liebe? Es ist euer liebstes Selbst, eure Tugend. Des Ringes Durst ist in euch: sich selber wieder zu erreichen, dazu ringt und dreht sich jeder Ring. Und dem Sterne gleich, der erlischt, ist jedes Werk eurer Tugend: immer ist sein Licht noch unter¬ wegs und wandert — und wann wird es nicht mehr unterwegs sein? Also ist das Licht eurer Tugend noch unterwegs, auch wenn das Werk gethan ist. Mag es nun ver¬ gessen und todt sein: sein Strahl von Licht lebt noch und wandert. Dass eure Tugend euer Selbst sei und nicht ein Fremdes, eine Haut, eine Bemäntelung: das ist die Wahrheit aus dem Grunde eurer Seele, ihr Tugend¬ haften! — Aber wohl giebt es Solche, denen Tugend der Krampf unter einer Peitsche heisst: und ihr habt mir zuviel auf deren Geschrei gehört! Und Andre giebt es, die heissen Tugend das Faulwerden ihrer Laster; und wenn ihr Hass und

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 2. Chemnitz, 1883, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra02_1883/28>, abgerufen am 29.03.2024.