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Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 2. Chemnitz, 1883.

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Wagt es doch erst, euch selber zu glauben --
euch und euren Eingeweiden! Wer sich selber nicht
glaubt, lügt immer.

Eines Gottes Larve hängtet ihr um vor euch selber,
ihr "Reinen": in eines Gottes Larve verkroch sich euer
greulicher Ringelwurm.

Wahrlich, ihr täuscht, ihr "Beschaulichen"! Auch
Zarathustra war einst der Narr eurer göttlichen Häute;
nicht errieth er das Schlangengeringel, mit denen sie
gestopft waren.

Eines Gottes Seele wähnte ich einst spielen zu
sehn in euren Spielen, ihr Rein-Erkennenden! Keine
bessere Kunst wähnte ich einst als eure Künste!

Schlangen-Unflath und schlimmen Geruch verhehlte
mir die Ferne: und dass einer Eidechse List lüstern
hier herumschlich.

Aber ich kam euch nah: da kam mir der Tag --
und nun kommt er euch, -- zu Ende gieng des Mondes
Liebschaft!

Seht doch hin! Ertappt und bleich steht er da
-- vor der Morgenröthe!

Denn schon kommt sie, die Glühende, -- ihre Liebe
zur Erde kommt! Unschuld und Schöpfer-Begier ist
alle Sonnen-Liebe!

Seht doch hin, wie sie ungeduldig über das Meer
kommt! Fühlt ihr den Durst und den heissen Athem
ihrer Liebe nicht?

Am Meere will sie saugen und seine Tiefe zu sich
in die Höhe trinken: da hebt sich die Begierde des
Meeres mit tausend Brüsten.

Wagt es doch erst, euch selber zu glauben —
euch und euren Eingeweiden! Wer sich selber nicht
glaubt, lügt immer.

Eines Gottes Larve hängtet ihr um vor euch selber,
ihr „Reinen“: in eines Gottes Larve verkroch sich euer
greulicher Ringelwurm.

Wahrlich, ihr täuscht, ihr „Beschaulichen“! Auch
Zarathustra war einst der Narr eurer göttlichen Häute;
nicht errieth er das Schlangengeringel, mit denen sie
gestopft waren.

Eines Gottes Seele wähnte ich einst spielen zu
sehn in euren Spielen, ihr Rein-Erkennenden! Keine
bessere Kunst wähnte ich einst als eure Künste!

Schlangen-Unflath und schlimmen Geruch verhehlte
mir die Ferne: und dass einer Eidechse List lüstern
hier herumschlich.

Aber ich kam euch nah: da kam mir der Tag —
und nun kommt er euch, — zu Ende gieng des Mondes
Liebschaft!

Seht doch hin! Ertappt und bleich steht er da
— vor der Morgenröthe!

Denn schon kommt sie, die Glühende, — ihre Liebe
zur Erde kommt! Unschuld und Schöpfer-Begier ist
alle Sonnen-Liebe!

Seht doch hin, wie sie ungeduldig über das Meer
kommt! Fühlt ihr den Durst und den heissen Athem
ihrer Liebe nicht?

Am Meere will sie saugen und seine Tiefe zu sich
in die Höhe trinken: da hebt sich die Begierde des
Meeres mit tausend Brüsten.

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[63/0073] Wagt es doch erst, euch selber zu glauben — euch und euren Eingeweiden! Wer sich selber nicht glaubt, lügt immer. Eines Gottes Larve hängtet ihr um vor euch selber, ihr „Reinen“: in eines Gottes Larve verkroch sich euer greulicher Ringelwurm. Wahrlich, ihr täuscht, ihr „Beschaulichen“! Auch Zarathustra war einst der Narr eurer göttlichen Häute; nicht errieth er das Schlangengeringel, mit denen sie gestopft waren. Eines Gottes Seele wähnte ich einst spielen zu sehn in euren Spielen, ihr Rein-Erkennenden! Keine bessere Kunst wähnte ich einst als eure Künste! Schlangen-Unflath und schlimmen Geruch verhehlte mir die Ferne: und dass einer Eidechse List lüstern hier herumschlich. Aber ich kam euch nah: da kam mir der Tag — und nun kommt er euch, — zu Ende gieng des Mondes Liebschaft! Seht doch hin! Ertappt und bleich steht er da — vor der Morgenröthe! Denn schon kommt sie, die Glühende, — ihre Liebe zur Erde kommt! Unschuld und Schöpfer-Begier ist alle Sonnen-Liebe! Seht doch hin, wie sie ungeduldig über das Meer kommt! Fühlt ihr den Durst und den heissen Athem ihrer Liebe nicht? Am Meere will sie saugen und seine Tiefe zu sich in die Höhe trinken: da hebt sich die Begierde des Meeres mit tausend Brüsten.

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 2. Chemnitz, 1883, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra02_1883/73>, abgerufen am 29.11.2024.