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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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älteren Kunst zu machen hatte, -- dass sie Nachahmung
eines Scheinbildes sei, also noch einer niedrigeren Sphäre
als die empirische Welt ist angehöre -- durfte vor allem
nicht gegen das neue Kunstwerk gerichtet werden: und so
sehen wir denn Plato bestrebt über die Wirklichkeit hinaus
zu gehn und die jener Pseudo-Wirklichkeit zu Grunde liegende
Idee darzustellen. Damit aber war der Denker Plato auf
einem Umwege ebendahin gelangt, wo er als Dichter stets
heimisch gewesen war und von wo aus Sophokles und die
ganze ältere Kunst feierlich gegen jenen Vorwurf protestirten.
Wenn die Tragödie alle früheren Kunstgattungen in sich auf¬
gesaugt hatte, so darf dasselbe wiederum in einem excen¬
trischen Sinne vom platonischen Dialoge gelten, der, durch
Mischung aller vorhandenen Stile und Formen erzeugt, zwi¬
schen Erzählung, Lyrik, Drama, zwischen Prosa und Poesie
in der Mitte schwebt und damit auch das strenge ältere Ge¬
setz der einheitlichen sprachlichen Form durchbrochen hat;
auf welchem Wege die cynischen Schriftsteller noch weiter
gegangen sind, die in der grössten Buntscheckigkeit des
Stils, im Hin- und Herschwanken zwischen prosaischen und
metrischen Formen auch das litterarische Bild des "rasenden
Sokrates", den sie im Leben darzustellen pflegten, erreicht
haben. Der platonische Dialog war gleichsam der Kahn,
auf dem sich die schiffbrüchige ältere Poesie sammt allen
ihren Kindern rettete: auf einen engen Raum zusammen¬
gedrängt und dem einen Steuermann Sokrates ängstlich
unterthänig fuhren sie jetzt in eine neue Welt hinein, die
an dem phantastischen Bilde dieses Aufzugs sich nie satt
sehen konnte. Wirklich hat für die ganze Nachwelt Plato
das Vorbild einer neuen Kunstform gegeben, das Vorbild des
Roman's: der als die unendlich gesteigerte äsopische Fabel
zu bezeichnen ist, in der die Poesie in einer ähnlichen Rang¬
ordnung zur dialektischen Philosophie lebt, wie viele Jahr¬

älteren Kunst zu machen hatte, — dass sie Nachahmung
eines Scheinbildes sei, also noch einer niedrigeren Sphäre
als die empirische Welt ist angehöre — durfte vor allem
nicht gegen das neue Kunstwerk gerichtet werden: und so
sehen wir denn Plato bestrebt über die Wirklichkeit hinaus
zu gehn und die jener Pseudo-Wirklichkeit zu Grunde liegende
Idee darzustellen. Damit aber war der Denker Plato auf
einem Umwege ebendahin gelangt, wo er als Dichter stets
heimisch gewesen war und von wo aus Sophokles und die
ganze ältere Kunst feierlich gegen jenen Vorwurf protestirten.
Wenn die Tragödie alle früheren Kunstgattungen in sich auf¬
gesaugt hatte, so darf dasselbe wiederum in einem excen¬
trischen Sinne vom platonischen Dialoge gelten, der, durch
Mischung aller vorhandenen Stile und Formen erzeugt, zwi¬
schen Erzählung, Lyrik, Drama, zwischen Prosa und Poesie
in der Mitte schwebt und damit auch das strenge ältere Ge¬
setz der einheitlichen sprachlichen Form durchbrochen hat;
auf welchem Wege die cynischen Schriftsteller noch weiter
gegangen sind, die in der grössten Buntscheckigkeit des
Stils, im Hin- und Herschwanken zwischen prosaischen und
metrischen Formen auch das litterarische Bild des »rasenden
Sokrates«, den sie im Leben darzustellen pflegten, erreicht
haben. Der platonische Dialog war gleichsam der Kahn,
auf dem sich die schiffbrüchige ältere Poesie sammt allen
ihren Kindern rettete: auf einen engen Raum zusammen¬
gedrängt und dem einen Steuermann Sokrates ängstlich
unterthänig fuhren sie jetzt in eine neue Welt hinein, die
an dem phantastischen Bilde dieses Aufzugs sich nie satt
sehen konnte. Wirklich hat für die ganze Nachwelt Plato
das Vorbild einer neuen Kunstform gegeben, das Vorbild des
Roman's: der als die unendlich gesteigerte äsopische Fabel
zu bezeichnen ist, in der die Poesie in einer ähnlichen Rang¬
ordnung zur dialektischen Philosophie lebt, wie viele Jahr¬

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[—75—/0088] älteren Kunst zu machen hatte, — dass sie Nachahmung eines Scheinbildes sei, also noch einer niedrigeren Sphäre als die empirische Welt ist angehöre — durfte vor allem nicht gegen das neue Kunstwerk gerichtet werden: und so sehen wir denn Plato bestrebt über die Wirklichkeit hinaus zu gehn und die jener Pseudo-Wirklichkeit zu Grunde liegende Idee darzustellen. Damit aber war der Denker Plato auf einem Umwege ebendahin gelangt, wo er als Dichter stets heimisch gewesen war und von wo aus Sophokles und die ganze ältere Kunst feierlich gegen jenen Vorwurf protestirten. Wenn die Tragödie alle früheren Kunstgattungen in sich auf¬ gesaugt hatte, so darf dasselbe wiederum in einem excen¬ trischen Sinne vom platonischen Dialoge gelten, der, durch Mischung aller vorhandenen Stile und Formen erzeugt, zwi¬ schen Erzählung, Lyrik, Drama, zwischen Prosa und Poesie in der Mitte schwebt und damit auch das strenge ältere Ge¬ setz der einheitlichen sprachlichen Form durchbrochen hat; auf welchem Wege die cynischen Schriftsteller noch weiter gegangen sind, die in der grössten Buntscheckigkeit des Stils, im Hin- und Herschwanken zwischen prosaischen und metrischen Formen auch das litterarische Bild des »rasenden Sokrates«, den sie im Leben darzustellen pflegten, erreicht haben. Der platonische Dialog war gleichsam der Kahn, auf dem sich die schiffbrüchige ältere Poesie sammt allen ihren Kindern rettete: auf einen engen Raum zusammen¬ gedrängt und dem einen Steuermann Sokrates ängstlich unterthänig fuhren sie jetzt in eine neue Welt hinein, die an dem phantastischen Bilde dieses Aufzugs sich nie satt sehen konnte. Wirklich hat für die ganze Nachwelt Plato das Vorbild einer neuen Kunstform gegeben, das Vorbild des Roman's: der als die unendlich gesteigerte äsopische Fabel zu bezeichnen ist, in der die Poesie in einer ähnlichen Rang¬ ordnung zur dialektischen Philosophie lebt, wie viele Jahr¬

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —75—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/88>, abgerufen am 27.04.2024.