seiner Geburt der Tragödie, seinen Mysterien, seinen Pytha¬ goras und Heraklit gegeben habe, ja als ob die Kunstwerke der grossen Zeit gar nicht vorhanden wären, die doch -- jedes für sich -- aus dem Boden einer solchen greisenhaften und sclavenmässigen Daseinslust und Heiterkeit gar nicht zu erklären sind und auf eine völlig andere Weltbetrachtung als ihren Existenzgrund hinweisen.
Wenn zuletzt behauptet wurde, dass Euripides den Zu¬ schauer auf die Bühne gebracht habe, um zugleich damit den Zuschauer zum Urtheil über das Drama erst wahrhaft zu be¬ fähigen, so entsteht der Schein, als ob die ältere tragische Kunst aus einem Missverhältniss zum Zuschauer nicht heraus¬ gekommen sei: und man möchte versucht sein, die radicale Tendenz des Euripides, ein entsprechendes Verhältniss zwischen Kunstwerk und Publicum zu erzielen, als einen Fortschritt über Sophokles hinaus zu preisen. Nun aber ist "Publicum" nur ein Wort und durchaus keine gleichartige und in sich verharrende Grösse. Woher soll dem Künstler die Ver¬ pflichtung kommen, sich einer Kraft zu accommodieren, die ihre Stärke nur in der Zahl hat? Und wenn er sich, seiner Begabung und seinen Absichten nach, über jeden einzelnen dieser Zuschauer erhaben fühlt, wie dürfte er vor dem ge¬ meinsamen Ausdruck aller dieser ihm untergeordneten Capaci¬ täten mehr Achtung empfinden als vor dem relativ höchst begabten einzelnen Zuschauer? In Wahrheit hat kein griechi¬ scher Künstler mit grösserer Verwegenheit und Selbstgenug¬ samkeit sein Publicum durch ein langes Leben hindurch be¬ handelt als gerade Euripides: er, der selbst da noch, als die Masse sich ihm zu Füssen warf, in erhabenem Trotze seiner eigenen Tendenz öffentlich in's Gesicht schlug, derselben Tendenz, mit der er über die Masse gesiegt hatte. Wenn dieser Genius die geringste Ehrfurcht vor dem Pandämonium des Publicums gehabt hätte, so wäre er unter den Keulen¬
seiner Geburt der Tragödie, seinen Mysterien, seinen Pytha¬ goras und Heraklit gegeben habe, ja als ob die Kunstwerke der grossen Zeit gar nicht vorhanden wären, die doch — jedes für sich — aus dem Boden einer solchen greisenhaften und sclavenmässigen Daseinslust und Heiterkeit gar nicht zu erklären sind und auf eine völlig andere Weltbetrachtung als ihren Existenzgrund hinweisen.
Wenn zuletzt behauptet wurde, dass Euripides den Zu¬ schauer auf die Bühne gebracht habe, um zugleich damit den Zuschauer zum Urtheil über das Drama erst wahrhaft zu be¬ fähigen, so entsteht der Schein, als ob die ältere tragische Kunst aus einem Missverhältniss zum Zuschauer nicht heraus¬ gekommen sei: und man möchte versucht sein, die radicale Tendenz des Euripides, ein entsprechendes Verhältniss zwischen Kunstwerk und Publicum zu erzielen, als einen Fortschritt über Sophokles hinaus zu preisen. Nun aber ist »Publicum« nur ein Wort und durchaus keine gleichartige und in sich verharrende Grösse. Woher soll dem Künstler die Ver¬ pflichtung kommen, sich einer Kraft zu accommodieren, die ihre Stärke nur in der Zahl hat? Und wenn er sich, seiner Begabung und seinen Absichten nach, über jeden einzelnen dieser Zuschauer erhaben fühlt, wie dürfte er vor dem ge¬ meinsamen Ausdruck aller dieser ihm untergeordneten Capaci¬ täten mehr Achtung empfinden als vor dem relativ höchst begabten einzelnen Zuschauer? In Wahrheit hat kein griechi¬ scher Künstler mit grösserer Verwegenheit und Selbstgenug¬ samkeit sein Publicum durch ein langes Leben hindurch be¬ handelt als gerade Euripides: er, der selbst da noch, als die Masse sich ihm zu Füssen warf, in erhabenem Trotze seiner eigenen Tendenz öffentlich in's Gesicht schlug, derselben Tendenz, mit der er über die Masse gesiegt hatte. Wenn dieser Genius die geringste Ehrfurcht vor dem Pandämonium des Publicums gehabt hätte, so wäre er unter den Keulen¬
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seiner Geburt der Tragödie, seinen Mysterien, seinen Pytha¬
goras und Heraklit gegeben habe, ja als ob die Kunstwerke
der grossen Zeit gar nicht vorhanden wären, die doch —
jedes für sich — aus dem Boden einer solchen greisenhaften
und sclavenmässigen Daseinslust und Heiterkeit gar nicht zu
erklären sind und auf eine völlig andere Weltbetrachtung als
ihren Existenzgrund hinweisen.
Wenn zuletzt behauptet wurde, dass Euripides den Zu¬
schauer auf die Bühne gebracht habe, um zugleich damit den
Zuschauer zum Urtheil über das Drama erst wahrhaft zu be¬
fähigen, so entsteht der Schein, als ob die ältere tragische
Kunst aus einem Missverhältniss zum Zuschauer nicht heraus¬
gekommen sei: und man möchte versucht sein, die radicale
Tendenz des Euripides, ein entsprechendes Verhältniss zwischen
Kunstwerk und Publicum zu erzielen, als einen Fortschritt
über Sophokles hinaus zu preisen. Nun aber ist »Publicum«
nur ein Wort und durchaus keine gleichartige und in sich
verharrende Grösse. Woher soll dem Künstler die Ver¬
pflichtung kommen, sich einer Kraft zu accommodieren, die
ihre Stärke nur in der Zahl hat? Und wenn er sich, seiner
Begabung und seinen Absichten nach, über jeden einzelnen
dieser Zuschauer erhaben fühlt, wie dürfte er vor dem ge¬
meinsamen Ausdruck aller dieser ihm untergeordneten Capaci¬
täten mehr Achtung empfinden als vor dem relativ höchst
begabten einzelnen Zuschauer? In Wahrheit hat kein griechi¬
scher Künstler mit grösserer Verwegenheit und Selbstgenug¬
samkeit sein Publicum durch ein langes Leben hindurch be¬
handelt als gerade Euripides: er, der selbst da noch, als die
Masse sich ihm zu Füssen warf, in erhabenem Trotze seiner
eigenen Tendenz öffentlich in's Gesicht schlug, derselben
Tendenz, mit der er über die Masse gesiegt hatte. Wenn
dieser Genius die geringste Ehrfurcht vor dem Pandämonium
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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/72>, abgerufen am 16.02.2025.
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