Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

Bild:
<< vorherige Seite

sich jetzt die neuere Komödie wenden, für die Euripides
gewissermaassen der Chorlehrer geworden ist; nur dass diesmal
der Chor der Zuschauer eingeübt werden musste. Sobald
dieser in der euripideischen Tonart zu singen geübt war,
erhob sich die schachspielartige Gattung des Schauspiels, die
neuere Komödie mit ihrem fortwährenden Triumphe der Schlau¬
heit und Verschlagenheit. Euripides aber -- der Chorlehrer --
wurde unaufhörlich gepriesen : ja man würde sich getödtet
haben, um noch mehr von ihm zu lernen, wenn man nicht
gewusst hätte, dass die tragischen Dichter eben so todt seien
wie die Tragödie. Mit ihr aber hatte der Hellene den Glauben
an seine Unsterblichkeit aufgegeben, nicht nur den Glauben
an eine ideale Vergangenheit, sondern auch den Glauben an
eine ideale Zukunft. Das Wort aus der bekannten Grabschrift
"als Greis leichtsinnig und grillig" gilt auch vom greisen
Hellenenthume. Der Augenblick, der Witz, der Leichtsinn,
die Laune sind seine höchsten Gottheiten; der fünfte Stand,
der des Sclaven, kommt, wenigstens der Gesinnung nach,
jetzt zur Herrschaft: und wenn jetzt überhaupt noch von
"griechischer Heiterkeit" die Rede sein darf, so ist es die
Heiterkeit des Sclaven, der nichts Schweres zu verantworten,
nichts Grosses zu erstreben, nichts Vergangenes oder Zukünf¬
tiges höher zu schätzen weiss als das Gegenwärtige. Dieser
Schein der "griechischen Heiterkeit" war es, der die tief¬
sinnigen und furchtbaren Naturen der vier ersten Jahrhunderte
des Christenthums so empörte : ihnen erschien diese weibische
Flucht vor dem Ernst und dem Schrecken, dieses feige Sich¬
genügenlassen am bequemen Genuss nicht nur verächtlich,
sondern als die eigentlich antichristliche Gesinnung. Und
ihrem Einfluss ist es zuzuschreiben, dass die durch Jahrhun¬
derte fortlebende Anschauung des griechischen Alterthums
mit fast unüberwindlicher Zähigkeit jene blassrothe Heiterkeits¬
farbe festhielt -- als ob es nie ein sechstes Jahrhundert mit

sich jetzt die neuere Komödie wenden, für die Euripides
gewissermaassen der Chorlehrer geworden ist; nur dass diesmal
der Chor der Zuschauer eingeübt werden musste. Sobald
dieser in der euripideischen Tonart zu singen geübt war,
erhob sich die schachspielartige Gattung des Schauspiels, die
neuere Komödie mit ihrem fortwährenden Triumphe der Schlau¬
heit und Verschlagenheit. Euripides aber — der Chorlehrer —
wurde unaufhörlich gepriesen : ja man würde sich getödtet
haben, um noch mehr von ihm zu lernen, wenn man nicht
gewusst hätte, dass die tragischen Dichter eben so todt seien
wie die Tragödie. Mit ihr aber hatte der Hellene den Glauben
an seine Unsterblichkeit aufgegeben, nicht nur den Glauben
an eine ideale Vergangenheit, sondern auch den Glauben an
eine ideale Zukunft. Das Wort aus der bekannten Grabschrift
»als Greis leichtsinnig und grillig« gilt auch vom greisen
Hellenenthume. Der Augenblick, der Witz, der Leichtsinn,
die Laune sind seine höchsten Gottheiten; der fünfte Stand,
der des Sclaven, kommt, wenigstens der Gesinnung nach,
jetzt zur Herrschaft: und wenn jetzt überhaupt noch von
»griechischer Heiterkeit« die Rede sein darf, so ist es die
Heiterkeit des Sclaven, der nichts Schweres zu verantworten,
nichts Grosses zu erstreben, nichts Vergangenes oder Zukünf¬
tiges höher zu schätzen weiss als das Gegenwärtige. Dieser
Schein der »griechischen Heiterkeit« war es, der die tief¬
sinnigen und furchtbaren Naturen der vier ersten Jahrhunderte
des Christenthums so empörte : ihnen erschien diese weibische
Flucht vor dem Ernst und dem Schrecken, dieses feige Sich¬
genügenlassen am bequemen Genuss nicht nur verächtlich,
sondern als die eigentlich antichristliche Gesinnung. Und
ihrem Einfluss ist es zuzuschreiben, dass die durch Jahrhun¬
derte fortlebende Anschauung des griechischen Alterthums
mit fast unüberwindlicher Zähigkeit jene blassrothe Heiterkeits¬
farbe festhielt — als ob es nie ein sechstes Jahrhundert mit

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0071" n="&#x2014;58&#x2014;"/>
sich jetzt die neuere Komödie wenden, für die Euripides<lb/>
gewissermaassen der Chorlehrer geworden ist; nur dass diesmal<lb/>
der Chor der Zuschauer eingeübt werden musste. Sobald<lb/>
dieser in der euripideischen Tonart zu singen geübt war,<lb/>
erhob sich die schachspielartige Gattung des Schauspiels, die<lb/>
neuere Komödie mit ihrem fortwährenden Triumphe der Schlau¬<lb/>
heit und Verschlagenheit. Euripides aber &#x2014; der Chorlehrer &#x2014;<lb/>
wurde unaufhörlich gepriesen : ja man würde sich getödtet<lb/>
haben, um noch mehr von ihm zu lernen, wenn man nicht<lb/>
gewusst hätte, dass die tragischen Dichter eben so todt seien<lb/>
wie die Tragödie. Mit ihr aber hatte der Hellene den Glauben<lb/>
an seine Unsterblichkeit aufgegeben, nicht nur den Glauben<lb/>
an eine ideale Vergangenheit, sondern auch den Glauben an<lb/>
eine ideale Zukunft. Das Wort aus der bekannten Grabschrift<lb/>
»als Greis leichtsinnig und grillig« gilt auch vom greisen<lb/>
Hellenenthume. Der Augenblick, der Witz, der Leichtsinn,<lb/>
die Laune sind seine höchsten Gottheiten; der fünfte Stand,<lb/>
der des Sclaven, kommt, wenigstens der Gesinnung nach,<lb/>
jetzt zur Herrschaft: und wenn jetzt überhaupt noch von<lb/>
»griechischer Heiterkeit« die Rede sein darf, so ist es die<lb/>
Heiterkeit des Sclaven, der nichts Schweres zu verantworten,<lb/>
nichts Grosses zu erstreben, nichts Vergangenes oder Zukünf¬<lb/>
tiges höher zu schätzen weiss als das Gegenwärtige. Dieser<lb/>
Schein der »griechischen Heiterkeit« war es, der die tief¬<lb/>
sinnigen und furchtbaren Naturen der vier ersten Jahrhunderte<lb/>
des Christenthums so empörte : ihnen erschien diese weibische<lb/>
Flucht vor dem Ernst und dem Schrecken, dieses feige Sich¬<lb/>
genügenlassen am bequemen Genuss nicht nur verächtlich,<lb/>
sondern als die eigentlich antichristliche Gesinnung. Und<lb/>
ihrem Einfluss ist es zuzuschreiben, dass die durch Jahrhun¬<lb/>
derte fortlebende Anschauung des griechischen Alterthums<lb/>
mit fast unüberwindlicher Zähigkeit jene blassrothe Heiterkeits¬<lb/>
farbe festhielt &#x2014; als ob es nie ein sechstes Jahrhundert mit<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[—58—/0071] sich jetzt die neuere Komödie wenden, für die Euripides gewissermaassen der Chorlehrer geworden ist; nur dass diesmal der Chor der Zuschauer eingeübt werden musste. Sobald dieser in der euripideischen Tonart zu singen geübt war, erhob sich die schachspielartige Gattung des Schauspiels, die neuere Komödie mit ihrem fortwährenden Triumphe der Schlau¬ heit und Verschlagenheit. Euripides aber — der Chorlehrer — wurde unaufhörlich gepriesen : ja man würde sich getödtet haben, um noch mehr von ihm zu lernen, wenn man nicht gewusst hätte, dass die tragischen Dichter eben so todt seien wie die Tragödie. Mit ihr aber hatte der Hellene den Glauben an seine Unsterblichkeit aufgegeben, nicht nur den Glauben an eine ideale Vergangenheit, sondern auch den Glauben an eine ideale Zukunft. Das Wort aus der bekannten Grabschrift »als Greis leichtsinnig und grillig« gilt auch vom greisen Hellenenthume. Der Augenblick, der Witz, der Leichtsinn, die Laune sind seine höchsten Gottheiten; der fünfte Stand, der des Sclaven, kommt, wenigstens der Gesinnung nach, jetzt zur Herrschaft: und wenn jetzt überhaupt noch von »griechischer Heiterkeit« die Rede sein darf, so ist es die Heiterkeit des Sclaven, der nichts Schweres zu verantworten, nichts Grosses zu erstreben, nichts Vergangenes oder Zukünf¬ tiges höher zu schätzen weiss als das Gegenwärtige. Dieser Schein der »griechischen Heiterkeit« war es, der die tief¬ sinnigen und furchtbaren Naturen der vier ersten Jahrhunderte des Christenthums so empörte : ihnen erschien diese weibische Flucht vor dem Ernst und dem Schrecken, dieses feige Sich¬ genügenlassen am bequemen Genuss nicht nur verächtlich, sondern als die eigentlich antichristliche Gesinnung. Und ihrem Einfluss ist es zuzuschreiben, dass die durch Jahrhun¬ derte fortlebende Anschauung des griechischen Alterthums mit fast unüberwindlicher Zähigkeit jene blassrothe Heiterkeits¬ farbe festhielt — als ob es nie ein sechstes Jahrhundert mit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/71
Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —58—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/71>, abgerufen am 28.04.2024.