lich historischen Wirklichkeit hineinzukriechen und von irgend einer späteren Zeit als einmaliges Factum mit historischen Ansprüchen behandelt zu werden: und die Griechen waren bereits völlig auf dem Wege, ihren ganzen mythischen Jugend¬ traum mit Scharfsinn und Willkür in eine historisch-pragma¬ tische Jugendgeschichte umzustempeln. Denn dies ist die Art, wie Religionen abzusterben pflegen: wenn nämlich die mythischen Voraussetzungen einer Religion unter den strengen, verstandesmässigen Augen eines rechtgläubigen Dogmatismus als eine fertige Summe von historischen Ereignissen syste¬ matisirt werden und man anfängt, ängstlich die Glaubwürdig¬ keit der Mythen zu vertheidigen, aber gegen jedes natürliche Weiterleben und Weiterwuchern derselben sich zu sträuben, wenn also das Gefühl für den Mythus abstirbt und an seine Stelle der Anspruch der Religion auf historische Grundlagen tritt. Diesen absterbenden Mythus ergriff jetzt der neuge¬ borne Genius der dionysischen Musik: und in seiner Hand blühte er noch einmal, mit Farben, wie er sie noch nie ge¬ zeigt, mit einem Duft, der eine sehnsüchtige Ahnung einer metaphysischen Welt erregte. Nach diesem letzten Aufglän¬ zen fällt er zusammen, seine Blätter werden welk, und bald haschen die spöttischen Luciane des Alterthums nach den von allen Winden fortgetragnen, entfärbten und verwüsteten Blumen. Durch die Tragödie kommt der Mythus zu seinem tiefsten Inhalt, seiner ausdrucksvollsten Form; noch einmal erhebt er sich, wie ein verwundeter Held, und der ganze Ueberschuss von Kraft, sammt der weisheitsvollen Ruhe des Sterbenden, brennt in seinem Auge mit letztem, mächtigen Leuchten.
Was wolltest du, frevelnder Euripides, als du diesen Sterbenden noch einmal zu deinem Frohndienste zu zwingen suchtest? Er starb unter deinen gewaltsamen Händen: und jetzt brauchtest du einen nachgemachten, maskirten Mythus,
lich historischen Wirklichkeit hineinzukriechen und von irgend einer späteren Zeit als einmaliges Factum mit historischen Ansprüchen behandelt zu werden: und die Griechen waren bereits völlig auf dem Wege, ihren ganzen mythischen Jugend¬ traum mit Scharfsinn und Willkür in eine historisch-pragma¬ tische Jugendgeschichte umzustempeln. Denn dies ist die Art, wie Religionen abzusterben pflegen: wenn nämlich die mythischen Voraussetzungen einer Religion unter den strengen, verstandesmässigen Augen eines rechtgläubigen Dogmatismus als eine fertige Summe von historischen Ereignissen syste¬ matisirt werden und man anfängt, ängstlich die Glaubwürdig¬ keit der Mythen zu vertheidigen, aber gegen jedes natürliche Weiterleben und Weiterwuchern derselben sich zu sträuben, wenn also das Gefühl für den Mythus abstirbt und an seine Stelle der Anspruch der Religion auf historische Grundlagen tritt. Diesen absterbenden Mythus ergriff jetzt der neuge¬ borne Genius der dionysischen Musik: und in seiner Hand blühte er noch einmal, mit Farben, wie er sie noch nie ge¬ zeigt, mit einem Duft, der eine sehnsüchtige Ahnung einer metaphysischen Welt erregte. Nach diesem letzten Aufglän¬ zen fällt er zusammen, seine Blätter werden welk, und bald haschen die spöttischen Luciane des Alterthums nach den von allen Winden fortgetragnen, entfärbten und verwüsteten Blumen. Durch die Tragödie kommt der Mythus zu seinem tiefsten Inhalt, seiner ausdrucksvollsten Form; noch einmal erhebt er sich, wie ein verwundeter Held, und der ganze Ueberschuss von Kraft, sammt der weisheitsvollen Ruhe des Sterbenden, brennt in seinem Auge mit letztem, mächtigen Leuchten.
Was wolltest du, frevelnder Euripides, als du diesen Sterbenden noch einmal zu deinem Frohndienste zu zwingen suchtest? Er starb unter deinen gewaltsamen Händen: und jetzt brauchtest du einen nachgemachten, maskirten Mythus,
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lich historischen Wirklichkeit hineinzukriechen und von irgend
einer späteren Zeit als einmaliges Factum mit historischen
Ansprüchen behandelt zu werden: und die Griechen waren
bereits völlig auf dem Wege, ihren ganzen mythischen Jugend¬
traum mit Scharfsinn und Willkür in eine historisch-pragma¬
tische Jugendgeschichte umzustempeln. Denn dies ist die
Art, wie Religionen abzusterben pflegen: wenn nämlich die
mythischen Voraussetzungen einer Religion unter den strengen,
verstandesmässigen Augen eines rechtgläubigen Dogmatismus
als eine fertige Summe von historischen Ereignissen syste¬
matisirt werden und man anfängt, ängstlich die Glaubwürdig¬
keit der Mythen zu vertheidigen, aber gegen jedes natürliche
Weiterleben und Weiterwuchern derselben sich zu sträuben,
wenn also das Gefühl für den Mythus abstirbt und an seine
Stelle der Anspruch der Religion auf historische Grundlagen
tritt. Diesen absterbenden Mythus ergriff jetzt der neuge¬
borne Genius der dionysischen Musik: und in seiner Hand
blühte er noch einmal, mit Farben, wie er sie noch nie ge¬
zeigt, mit einem Duft, der eine sehnsüchtige Ahnung einer
metaphysischen Welt erregte. Nach diesem letzten Aufglän¬
zen fällt er zusammen, seine Blätter werden welk, und bald
haschen die spöttischen Luciane des Alterthums nach den
von allen Winden fortgetragnen, entfärbten und verwüsteten
Blumen. Durch die Tragödie kommt der Mythus zu seinem
tiefsten Inhalt, seiner ausdrucksvollsten Form; noch einmal
erhebt er sich, wie ein verwundeter Held, und der ganze
Ueberschuss von Kraft, sammt der weisheitsvollen Ruhe des
Sterbenden, brennt in seinem Auge mit letztem, mächtigen
Leuchten.
Was wolltest du, frevelnder Euripides, als du diesen
Sterbenden noch einmal zu deinem Frohndienste zu zwingen
suchtest? Er starb unter deinen gewaltsamen Händen: und
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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/67>, abgerufen am 16.02.2025.
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