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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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Poesie gemeinhin geheischte Illusion. Während der Tag selbst
auf dem Theater nur ein künstlicher, die Architektur nur
eine symbolische sei und die metrische Sprache einen idealen
Charakter trage, herrsche immer noch der Irrthum im Gan¬
zen: es sei nicht genug, dass man das nur als eine poetische
Freiheit dulde, was doch das Wesen aller Poesie sei. Die
Einführung des Chores wäre der entscheidende Schritt, mit
dem jedem Naturalismus in der Kunst offen und ehrlich der
Krieg erklärt sei. -- Eine solche Betrachtungsart ist es,
scheint mir, für die unser sich überlegen wähnendes Zeitalter
das wegwerfende Schlagwort "Pseudoidealismus" gebraucht.
Ich fürchte, wir sind dagegen mit unserer jetzigen Verehrung
des Natürlichen und Wirklichen am Gegenpol alles Idealis¬
mus angelangt, nämlich in der Region der Wachsfiguren¬
cabinette. Auch in ihnen giebt es eine Kunst, wie bei
gewissen beliebten Romanen der Gegenwart: nur quäle man
uns nicht mit dem Anspruch, dass mit dieser Kunst der
Schiller-Goethesche "Pseudoidealismus" überwunden sei.

Freilich ist es ein "idealer" Boden, auf dem, nach der
richtigen Einsicht Schillers, der griechische Satyrchor, der
Chor der ursprünglichen Tragödie, zu wandeln pflegt, ein
Boden hoch emporgehoben über die wirkliche Wandelbahn
der Sterblichen. Der Grieche hat sich für diesen Chor die
Schwebegerüste eines fingirten Naturzustandes gezimmert und
auf sie hin fingirte Naturwesen gestellt. Die Tragödie ist
auf diesem Fundamente emporgewachsen und freilich schon
deshalb von Anbeginn an einem peinlichen Abkonterfeien der
Wirklichkeit enthoben gewesen. Dabei ist es doch keine
willkürlich zwischen Himmel und Erde hineinphantasirte Welt;
vielmehr eine Welt von gleicher Realität und Glaubwürdig¬
keit wie sie der Olymp sammt seinen Insassen für den gläu¬
bigen Hellenen besass. Der Satyr als der dionysische
Choreut lebt in einer religiös zugestandenen Wirklichkeit

Nietzsche, Geburt der Tragödie. 3

Poesie gemeinhin geheischte Illusion. Während der Tag selbst
auf dem Theater nur ein künstlicher, die Architektur nur
eine symbolische sei und die metrische Sprache einen idealen
Charakter trage, herrsche immer noch der Irrthum im Gan¬
zen: es sei nicht genug, dass man das nur als eine poetische
Freiheit dulde, was doch das Wesen aller Poesie sei. Die
Einführung des Chores wäre der entscheidende Schritt, mit
dem jedem Naturalismus in der Kunst offen und ehrlich der
Krieg erklärt sei. — Eine solche Betrachtungsart ist es,
scheint mir, für die unser sich überlegen wähnendes Zeitalter
das wegwerfende Schlagwort »Pseudoidealismus« gebraucht.
Ich fürchte, wir sind dagegen mit unserer jetzigen Verehrung
des Natürlichen und Wirklichen am Gegenpol alles Idealis¬
mus angelangt, nämlich in der Region der Wachsfiguren¬
cabinette. Auch in ihnen giebt es eine Kunst, wie bei
gewissen beliebten Romanen der Gegenwart: nur quäle man
uns nicht mit dem Anspruch, dass mit dieser Kunst der
Schiller-Goethesche »Pseudoidealismus« überwunden sei.

Freilich ist es ein »idealer« Boden, auf dem, nach der
richtigen Einsicht Schillers, der griechische Satyrchor, der
Chor der ursprünglichen Tragödie, zu wandeln pflegt, ein
Boden hoch emporgehoben über die wirkliche Wandelbahn
der Sterblichen. Der Grieche hat sich für diesen Chor die
Schwebegerüste eines fingirten Naturzustandes gezimmert und
auf sie hin fingirte Naturwesen gestellt. Die Tragödie ist
auf diesem Fundamente emporgewachsen und freilich schon
deshalb von Anbeginn an einem peinlichen Abkonterfeien der
Wirklichkeit enthoben gewesen. Dabei ist es doch keine
willkürlich zwischen Himmel und Erde hineinphantasirte Welt;
vielmehr eine Welt von gleicher Realität und Glaubwürdig¬
keit wie sie der Olymp sammt seinen Insassen für den gläu¬
bigen Hellenen besass. Der Satyr als der dionysische
Choreut lebt in einer religiös zugestandenen Wirklichkeit

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[—33—/0046] Poesie gemeinhin geheischte Illusion. Während der Tag selbst auf dem Theater nur ein künstlicher, die Architektur nur eine symbolische sei und die metrische Sprache einen idealen Charakter trage, herrsche immer noch der Irrthum im Gan¬ zen: es sei nicht genug, dass man das nur als eine poetische Freiheit dulde, was doch das Wesen aller Poesie sei. Die Einführung des Chores wäre der entscheidende Schritt, mit dem jedem Naturalismus in der Kunst offen und ehrlich der Krieg erklärt sei. — Eine solche Betrachtungsart ist es, scheint mir, für die unser sich überlegen wähnendes Zeitalter das wegwerfende Schlagwort »Pseudoidealismus« gebraucht. Ich fürchte, wir sind dagegen mit unserer jetzigen Verehrung des Natürlichen und Wirklichen am Gegenpol alles Idealis¬ mus angelangt, nämlich in der Region der Wachsfiguren¬ cabinette. Auch in ihnen giebt es eine Kunst, wie bei gewissen beliebten Romanen der Gegenwart: nur quäle man uns nicht mit dem Anspruch, dass mit dieser Kunst der Schiller-Goethesche »Pseudoidealismus« überwunden sei. Freilich ist es ein »idealer« Boden, auf dem, nach der richtigen Einsicht Schillers, der griechische Satyrchor, der Chor der ursprünglichen Tragödie, zu wandeln pflegt, ein Boden hoch emporgehoben über die wirkliche Wandelbahn der Sterblichen. Der Grieche hat sich für diesen Chor die Schwebegerüste eines fingirten Naturzustandes gezimmert und auf sie hin fingirte Naturwesen gestellt. Die Tragödie ist auf diesem Fundamente emporgewachsen und freilich schon deshalb von Anbeginn an einem peinlichen Abkonterfeien der Wirklichkeit enthoben gewesen. Dabei ist es doch keine willkürlich zwischen Himmel und Erde hineinphantasirte Welt; vielmehr eine Welt von gleicher Realität und Glaubwürdig¬ keit wie sie der Olymp sammt seinen Insassen für den gläu¬ bigen Hellenen besass. Der Satyr als der dionysische Choreut lebt in einer religiös zugestandenen Wirklichkeit Nietzsche, Geburt der Tragödie. 3

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —33—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/46>, abgerufen am 23.04.2024.