real zu halten? Und es wäre das Zeichen des idealischen Zuschauers, auf die Bühne zu laufen und den Gott von seinen Martern zu befreien? Wir hatten an ein ästhetisches Publi¬ cum geglaubt und den einzelnen Zuschauer für um so be¬ fähigter gehalten, je mehr er im Stande war, das Kunstwerk als Kunst d. h. ästhetisch zu nehmen; und jetzt deutete uns der Schlegel'sche Ausdruck an, dass der vollkommne idealische Zuschauer die Welt der Scene gar nicht ästhetisch, sondern leibhaft empirisch auf sich wirken lasse. O über diese Griechen! seufzten wir; sie werfen uns unsre Aesthetik um! Daran aber gewöhnt, wiederholten wir den Schlegel'schen Spruch, so oft der Chor zur Sprache kam.
Aber jene so ausdrückliche Ueberlieferung redet hier gegen Schlegel: der Chor an sich, ohne Bühne, also die primitive Gestalt der Tragödie und jener Chor idealischer Zuschauer vertragen sich nicht mit einander. Was wäre das für eine Kunstgattung, die aus dem Begriff des Zuschauers herausgezogen wäre, als deren eigentliche Form der "Zu¬ schauer an sich" zu gelten habe. Der Zuschauer ohne Schau¬ spiel ist ein widersinniger Begriff. Wir fürchten, dass die Geburt der Tragödie weder aus der Hochachtung vor der sittlichen Intelligenz der Masse, noch aus dem Begriff des schauspiellosen Zuschauers zu erklären sei und halten dies Problem für zu tief, um von so flachen Betrachtungsarten auch nur berührt zu werden.
Eine unendlich werthvollere Einsicht über die Bedeutung des Chors hatte bereits Schiller in der berühmten Vorrede zur Braut von Messina verrathen, der den Chor als eine lebendige Mauer betrachtete, die die Tragödie um sich herum zieht, um sich von der wirklichen Welt rein abzuschliessen und sich ihren idealen Boden und ihre poetische Freiheit zu bewahren.
Schiller kämpft mit dieser seiner Hauptwaffe gegen den ge¬ meinen Begriff des Natürlichen, gegen die bei der dramatischen
real zu halten? Und es wäre das Zeichen des idealischen Zuschauers, auf die Bühne zu laufen und den Gott von seinen Martern zu befreien? Wir hatten an ein ästhetisches Publi¬ cum geglaubt und den einzelnen Zuschauer für um so be¬ fähigter gehalten, je mehr er im Stande war, das Kunstwerk als Kunst d. h. ästhetisch zu nehmen; und jetzt deutete uns der Schlegel'sche Ausdruck an, dass der vollkommne idealische Zuschauer die Welt der Scene gar nicht ästhetisch, sondern leibhaft empirisch auf sich wirken lasse. O über diese Griechen! seufzten wir; sie werfen uns unsre Aesthetik um! Daran aber gewöhnt, wiederholten wir den Schlegel'schen Spruch, so oft der Chor zur Sprache kam.
Aber jene so ausdrückliche Ueberlieferung redet hier gegen Schlegel: der Chor an sich, ohne Bühne, also die primitive Gestalt der Tragödie und jener Chor idealischer Zuschauer vertragen sich nicht mit einander. Was wäre das für eine Kunstgattung, die aus dem Begriff des Zuschauers herausgezogen wäre, als deren eigentliche Form der »Zu¬ schauer an sich« zu gelten habe. Der Zuschauer ohne Schau¬ spiel ist ein widersinniger Begriff. Wir fürchten, dass die Geburt der Tragödie weder aus der Hochachtung vor der sittlichen Intelligenz der Masse, noch aus dem Begriff des schauspiellosen Zuschauers zu erklären sei und halten dies Problem für zu tief, um von so flachen Betrachtungsarten auch nur berührt zu werden.
Eine unendlich werthvollere Einsicht über die Bedeutung des Chors hatte bereits Schiller in der berühmten Vorrede zur Braut von Messina verrathen, der den Chor als eine lebendige Mauer betrachtete, die die Tragödie um sich herum zieht, um sich von der wirklichen Welt rein abzuschliessen und sich ihren idealen Boden und ihre poetische Freiheit zu bewahren.
Schiller kämpft mit dieser seiner Hauptwaffe gegen den ge¬ meinen Begriff des Natürlichen, gegen die bei der dramatischen
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real zu halten? Und es wäre das Zeichen des idealischen
Zuschauers, auf die Bühne zu laufen und den Gott von seinen
Martern zu befreien? Wir hatten an ein ästhetisches Publi¬
cum geglaubt und den einzelnen Zuschauer für um so be¬
fähigter gehalten, je mehr er im Stande war, das Kunstwerk
als Kunst d. h. ästhetisch zu nehmen; und jetzt deutete uns
der Schlegel'sche Ausdruck an, dass der vollkommne idealische
Zuschauer die Welt der Scene gar nicht ästhetisch, sondern
leibhaft empirisch auf sich wirken lasse. O über diese
Griechen! seufzten wir; sie werfen uns unsre Aesthetik um!
Daran aber gewöhnt, wiederholten wir den Schlegel'schen
Spruch, so oft der Chor zur Sprache kam.
Aber jene so ausdrückliche Ueberlieferung redet hier
gegen Schlegel: der Chor an sich, ohne Bühne, also die
primitive Gestalt der Tragödie und jener Chor idealischer
Zuschauer vertragen sich nicht mit einander. Was wäre das
für eine Kunstgattung, die aus dem Begriff des Zuschauers
herausgezogen wäre, als deren eigentliche Form der »Zu¬
schauer an sich« zu gelten habe. Der Zuschauer ohne Schau¬
spiel ist ein widersinniger Begriff. Wir fürchten, dass die
Geburt der Tragödie weder aus der Hochachtung vor der
sittlichen Intelligenz der Masse, noch aus dem Begriff des
schauspiellosen Zuschauers zu erklären sei und halten dies
Problem für zu tief, um von so flachen Betrachtungsarten
auch nur berührt zu werden.
Eine unendlich werthvollere Einsicht über die Bedeutung
des Chors hatte bereits Schiller in der berühmten Vorrede
zur Braut von Messina verrathen, der den Chor als eine
lebendige Mauer betrachtete, die die Tragödie um sich herum
zieht, um sich von der wirklichen Welt rein abzuschliessen und
sich ihren idealen Boden und ihre poetische Freiheit zu bewahren.
Schiller kämpft mit dieser seiner Hauptwaffe gegen den ge¬
meinen Begriff des Natürlichen, gegen die bei der dramatischen
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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/45>, abgerufen am 16.07.2024.
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