Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.rale und einen Satz als "Scene am Bach", einen anderen Dürfen wir also die lyrische Dichtung als die nachahmende rale und einen Satz als »Scene am Bach«, einen anderen Dürfen wir also die lyrische Dichtung als die nachahmende <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0041" n="28"/> rale und einen Satz als »Scene am Bach«, einen anderen<lb/> als »lustiges Zusammensein der Landleute« bezeichnet, so<lb/> sind das ebenfalls nur gleichnissartige, aus der Musik geborne<lb/> Vorstellungen — und nicht etwa die nachgeahmten Gegen¬<lb/> stände der Musik — Vorstellungen, die über den <hi rendition="#i">dionysischen</hi><lb/> Inhalt der Musik uns nach keiner Seite hin belehren können,<lb/> ja die keinen ausschliesslichen Werth neben anderen Bildern<lb/> haben. Diesen Prozess einer Entladung der Musik in Bildern<lb/> haben wir uns nun auf eine jugendfrische, sprachlich schöpfe¬<lb/> rische Volksmenge zu übertragen, um zur Ahnung zu kom¬<lb/> men, wie das strophische Volkslied entsteht, und wie das<lb/> ganze Sprachvermögen durch das neue Princip der Nach¬<lb/> ahmung der Musik aufgeregt wird.</p><lb/> <p>Dürfen wir also die lyrische Dichtung als die nachahmende<lb/> Effulguration der Musik in Bildern und Begriffen betrachten,<lb/> so können wir jetzt fragen: »als was <hi rendition="#i">erscheint</hi> die Musik im<lb/> Spiegel der Bildlichkeit und der Begriffe?« <hi rendition="#i">Sie erscheint als<lb/> Wille</hi>, das Wort im Schopenhauer'schen Sinne genommen,<lb/> d. h. als Gegensatz der ästhetischen, rein beschaulichen<lb/> willenlosen Stimmung. Hier unterscheide man nun so scharf<lb/> als möglich den Begriff des Wesens von dem der Erschei¬<lb/> nung: denn die Musik kann, ihrem Wesen nach, unmöglich<lb/> Wille sein, weil sie als solcher gänzlich aus dem Bereich der<lb/> Kunst zu bannen wäre — denn der Wille ist das an sich<lb/> Unästhetische —; aber sie erscheint als Wille. Denn um<lb/> ihre Erscheinung in Bildern auszudrücken, braucht der Lyriker<lb/> alle Regungen der Leidenschaft, vom Flüstern der Neigung<lb/> bis zum Grollen des Wahnsinns; unter dem Triebe, in apolli¬<lb/> nischen Gleichnissen von der Musik zu reden, versteht er die<lb/> ganze Natur und sich in ihr nur als das ewig Wollende,<lb/> Begehrende, Sehnende. Insofern er aber die Musik in Bildern<lb/> deutet, ruht er selbst in der stillen Meeresruhe der apolli¬<lb/> nischen Betrachtung, so sehr auch alles, was er durch das<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [28/0041]
rale und einen Satz als »Scene am Bach«, einen anderen
als »lustiges Zusammensein der Landleute« bezeichnet, so
sind das ebenfalls nur gleichnissartige, aus der Musik geborne
Vorstellungen — und nicht etwa die nachgeahmten Gegen¬
stände der Musik — Vorstellungen, die über den dionysischen
Inhalt der Musik uns nach keiner Seite hin belehren können,
ja die keinen ausschliesslichen Werth neben anderen Bildern
haben. Diesen Prozess einer Entladung der Musik in Bildern
haben wir uns nun auf eine jugendfrische, sprachlich schöpfe¬
rische Volksmenge zu übertragen, um zur Ahnung zu kom¬
men, wie das strophische Volkslied entsteht, und wie das
ganze Sprachvermögen durch das neue Princip der Nach¬
ahmung der Musik aufgeregt wird.
Dürfen wir also die lyrische Dichtung als die nachahmende
Effulguration der Musik in Bildern und Begriffen betrachten,
so können wir jetzt fragen: »als was erscheint die Musik im
Spiegel der Bildlichkeit und der Begriffe?« Sie erscheint als
Wille, das Wort im Schopenhauer'schen Sinne genommen,
d. h. als Gegensatz der ästhetischen, rein beschaulichen
willenlosen Stimmung. Hier unterscheide man nun so scharf
als möglich den Begriff des Wesens von dem der Erschei¬
nung: denn die Musik kann, ihrem Wesen nach, unmöglich
Wille sein, weil sie als solcher gänzlich aus dem Bereich der
Kunst zu bannen wäre — denn der Wille ist das an sich
Unästhetische —; aber sie erscheint als Wille. Denn um
ihre Erscheinung in Bildern auszudrücken, braucht der Lyriker
alle Regungen der Leidenschaft, vom Flüstern der Neigung
bis zum Grollen des Wahnsinns; unter dem Triebe, in apolli¬
nischen Gleichnissen von der Musik zu reden, versteht er die
ganze Natur und sich in ihr nur als das ewig Wollende,
Begehrende, Sehnende. Insofern er aber die Musik in Bildern
deutet, ruht er selbst in der stillen Meeresruhe der apolli¬
nischen Betrachtung, so sehr auch alles, was er durch das
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