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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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des Dionysischen; seine ungeheure, über alle Völker sich
erstreckende und in immer neuen Geburten sich steigernde
Verbreitung ist uns ein Zeugniss dafür, wie stark jener
künstlerische Doppeltrieb der Natur ist: der in analoger
Weise seine Spuren im Volkslied hinterlässt, wie die orgia¬
stischen Bewegungen eines Volkes sich in seiner Musik ver¬
ewigen. Ja es müsste auch historisch nachweisbar sein, wie
jede an Volksliedern reich productive Periode zugleich auf
das Stärkste durch dionysische Strömungen erregt worden
ist, welche wir immer als Untergrund und Voraussetzung des
Volksliedes zu betrachten haben.

Das Volkslied aber gilt uns zu allernächst als musika¬
lischer Weltspiegel, als ursprüngliche Melodie, die sich jetzt
eine parallele Traumerscheinung sucht und diese in der Dich¬
tung ausspricht. Die Melodie ist also das Erste und Allgemeine,
das deshalb auch mehrere Objectivationen, in mehreren
Texten, an sich erleiden kann. Sie ist auch das bei weitem
wichtigere und nothwendigere in der naiven Schätzung des
Volkes. Die Melodie gebiert die Dichtung aus sich und zwar
immer wieder von Neuem: nichts Anderes will uns die Stro¬
phenform des Volksliedes
sagen : welches Phänomen ich immer
mit Erstaunen betrachtet habe, bis ich endlich diese Erklä¬
rung fand. Wer eine Sammlung von Volksliedern z. B. des
Knaben Wunderhorn auf diese Theorie hin ansieht, der wird
unzählige Beispiele finden, wie die fortwährend gebärende
Melodie Bilderfunken um sich aussprüht: die in ihrer Bunt¬
heit, ihrem jähen Wechsel, ja ihrem tollen Sichüberstürzen
eine dem epischen Scheine und seinem ruhigen Fortströmen
wildfremde Kraft offenbaren. Vom Standpunkte des Epos
ist diese ungleiche und unregelmässige Bilderwelt der Lyrik
einfach zu verurtheilen: und dies haben gewiss die feierlichen
epischen Rhapsoden der apollinischen Feste im Zeitalter des
Terpander gethan.

des Dionysischen; seine ungeheure, über alle Völker sich
erstreckende und in immer neuen Geburten sich steigernde
Verbreitung ist uns ein Zeugniss dafür, wie stark jener
künstlerische Doppeltrieb der Natur ist: der in analoger
Weise seine Spuren im Volkslied hinterlässt, wie die orgia¬
stischen Bewegungen eines Volkes sich in seiner Musik ver¬
ewigen. Ja es müsste auch historisch nachweisbar sein, wie
jede an Volksliedern reich productive Periode zugleich auf
das Stärkste durch dionysische Strömungen erregt worden
ist, welche wir immer als Untergrund und Voraussetzung des
Volksliedes zu betrachten haben.

Das Volkslied aber gilt uns zu allernächst als musika¬
lischer Weltspiegel, als ursprüngliche Melodie, die sich jetzt
eine parallele Traumerscheinung sucht und diese in der Dich¬
tung ausspricht. Die Melodie ist also das Erste und Allgemeine,
das deshalb auch mehrere Objectivationen, in mehreren
Texten, an sich erleiden kann. Sie ist auch das bei weitem
wichtigere und nothwendigere in der naiven Schätzung des
Volkes. Die Melodie gebiert die Dichtung aus sich und zwar
immer wieder von Neuem: nichts Anderes will uns die Stro¬
phenform des Volksliedes
sagen : welches Phänomen ich immer
mit Erstaunen betrachtet habe, bis ich endlich diese Erklä¬
rung fand. Wer eine Sammlung von Volksliedern z. B. des
Knaben Wunderhorn auf diese Theorie hin ansieht, der wird
unzählige Beispiele finden, wie die fortwährend gebärende
Melodie Bilderfunken um sich aussprüht: die in ihrer Bunt¬
heit, ihrem jähen Wechsel, ja ihrem tollen Sichüberstürzen
eine dem epischen Scheine und seinem ruhigen Fortströmen
wildfremde Kraft offenbaren. Vom Standpunkte des Epos
ist diese ungleiche und unregelmässige Bilderwelt der Lyrik
einfach zu verurtheilen: und dies haben gewiss die feierlichen
epischen Rhapsoden der apollinischen Feste im Zeitalter des
Terpander gethan.

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[26/0039] des Dionysischen; seine ungeheure, über alle Völker sich erstreckende und in immer neuen Geburten sich steigernde Verbreitung ist uns ein Zeugniss dafür, wie stark jener künstlerische Doppeltrieb der Natur ist: der in analoger Weise seine Spuren im Volkslied hinterlässt, wie die orgia¬ stischen Bewegungen eines Volkes sich in seiner Musik ver¬ ewigen. Ja es müsste auch historisch nachweisbar sein, wie jede an Volksliedern reich productive Periode zugleich auf das Stärkste durch dionysische Strömungen erregt worden ist, welche wir immer als Untergrund und Voraussetzung des Volksliedes zu betrachten haben. Das Volkslied aber gilt uns zu allernächst als musika¬ lischer Weltspiegel, als ursprüngliche Melodie, die sich jetzt eine parallele Traumerscheinung sucht und diese in der Dich¬ tung ausspricht. Die Melodie ist also das Erste und Allgemeine, das deshalb auch mehrere Objectivationen, in mehreren Texten, an sich erleiden kann. Sie ist auch das bei weitem wichtigere und nothwendigere in der naiven Schätzung des Volkes. Die Melodie gebiert die Dichtung aus sich und zwar immer wieder von Neuem: nichts Anderes will uns die Stro¬ phenform des Volksliedes sagen : welches Phänomen ich immer mit Erstaunen betrachtet habe, bis ich endlich diese Erklä¬ rung fand. Wer eine Sammlung von Volksliedern z. B. des Knaben Wunderhorn auf diese Theorie hin ansieht, der wird unzählige Beispiele finden, wie die fortwährend gebärende Melodie Bilderfunken um sich aussprüht: die in ihrer Bunt¬ heit, ihrem jähen Wechsel, ja ihrem tollen Sichüberstürzen eine dem epischen Scheine und seinem ruhigen Fortströmen wildfremde Kraft offenbaren. Vom Standpunkte des Epos ist diese ungleiche und unregelmässige Bilderwelt der Lyrik einfach zu verurtheilen: und dies haben gewiss die feierlichen epischen Rhapsoden der apollinischen Feste im Zeitalter des Terpander gethan.

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/39>, abgerufen am 22.11.2024.