aus dichtverwachsenem Gebüsch, im Nahen des Frühlings, hervordringt. Ihm antwortete in wetteiferndem Wiederhall jener weihevoll übermüthige Festzug dionysischer Schwärmer, denen wir die deutsche Musik danken -- und denen wir die Wiedergeburt des deutschen Mythus danken werden!
Ich weiss, dass ich jetzt den theilnehmend folgenden Freund auf einen hochgelegenen Ort einsamer Betrachtung führen muss, wo er nur wenige Gefährten haben wird, und rufe ihm ermuthigend zu, dass wir uns an unseren leuchtenden Führern, den Griechen, festzuhalten haben. Von ihnen haben wir bis jetzt, zur Reinigung unserer ästhetischen Erkenntniss, jene beiden Götterbilder entlehnt, von denen jedes ein ge¬ sondertes Kunstreich für sich beherrscht und über deren gegenseitige Berührung und Steigerung wir durch die grie¬ chische Tragödie zu einer Ahnung kamen. Durch ein merk¬ würdiges Auseinanderreissen beider künstlerischen Urtriebe musste uns der Untergang der griechischen Tragödie herbei¬ geführt erscheinen: mit welchem Vorgange eine Degeneration und Umwandlung des griechischen Volkscharakters im Ein¬ klang war, uns zu ernstem Nachdenken auffordernd, wie nothwendig und eng die Kunst und das Volk, Mythus und Sitte, Tragödie und Staat, in ihren Fundamenten verwachsen sind. Jener Untergang der Tragödie war zugleich der Unter¬ gang des Mythus. Bis dahin waren die Griechen unwill¬ kürlich genöthigt, alles Erlebte sofort an ihre Mythen anzu¬ knüpfen, ja es nur durch diese Anknüpfung zu begreifen: wodurch auch die nächste Gegenwart ihnen sofort sub specie aeterni und in gewissem Sinne als zeitlos erscheinen musste. In diesen Strom des Zeitlosen aber tauchte sich eben so der Staat wie die Kunst, um in ihm vor der Last und der Gier des Augenblicks Ruhe zu finden. Und gerade nur so viel ist ein Volk -- wie übrigens auch ein Mensch -- werth, als es auf seine Erlebnisse den Stempel des Ewigen zu drücken
aus dichtverwachsenem Gebüsch, im Nahen des Frühlings, hervordringt. Ihm antwortete in wetteiferndem Wiederhall jener weihevoll übermüthige Festzug dionysischer Schwärmer, denen wir die deutsche Musik danken — und denen wir die Wiedergeburt des deutschen Mythus danken werden!
Ich weiss, dass ich jetzt den theilnehmend folgenden Freund auf einen hochgelegenen Ort einsamer Betrachtung führen muss, wo er nur wenige Gefährten haben wird, und rufe ihm ermuthigend zu, dass wir uns an unseren leuchtenden Führern, den Griechen, festzuhalten haben. Von ihnen haben wir bis jetzt, zur Reinigung unserer ästhetischen Erkenntniss, jene beiden Götterbilder entlehnt, von denen jedes ein ge¬ sondertes Kunstreich für sich beherrscht und über deren gegenseitige Berührung und Steigerung wir durch die grie¬ chische Tragödie zu einer Ahnung kamen. Durch ein merk¬ würdiges Auseinanderreissen beider künstlerischen Urtriebe musste uns der Untergang der griechischen Tragödie herbei¬ geführt erscheinen: mit welchem Vorgange eine Degeneration und Umwandlung des griechischen Volkscharakters im Ein¬ klang war, uns zu ernstem Nachdenken auffordernd, wie nothwendig und eng die Kunst und das Volk, Mythus und Sitte, Tragödie und Staat, in ihren Fundamenten verwachsen sind. Jener Untergang der Tragödie war zugleich der Unter¬ gang des Mythus. Bis dahin waren die Griechen unwill¬ kürlich genöthigt, alles Erlebte sofort an ihre Mythen anzu¬ knüpfen, ja es nur durch diese Anknüpfung zu begreifen: wodurch auch die nächste Gegenwart ihnen sofort sub specie aeterni und in gewissem Sinne als zeitlos erscheinen musste. In diesen Strom des Zeitlosen aber tauchte sich eben so der Staat wie die Kunst, um in ihm vor der Last und der Gier des Augenblicks Ruhe zu finden. Und gerade nur so viel ist ein Volk — wie übrigens auch ein Mensch — werth, als es auf seine Erlebnisse den Stempel des Ewigen zu drücken
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aus dichtverwachsenem Gebüsch, im Nahen des Frühlings,
hervordringt. Ihm antwortete in wetteiferndem Wiederhall
jener weihevoll übermüthige Festzug dionysischer Schwärmer,
denen wir die deutsche Musik danken — und denen wir die
Wiedergeburt des deutschen Mythus danken werden!
Ich weiss, dass ich jetzt den theilnehmend folgenden
Freund auf einen hochgelegenen Ort einsamer Betrachtung
führen muss, wo er nur wenige Gefährten haben wird, und
rufe ihm ermuthigend zu, dass wir uns an unseren leuchtenden
Führern, den Griechen, festzuhalten haben. Von ihnen haben
wir bis jetzt, zur Reinigung unserer ästhetischen Erkenntniss,
jene beiden Götterbilder entlehnt, von denen jedes ein ge¬
sondertes Kunstreich für sich beherrscht und über deren
gegenseitige Berührung und Steigerung wir durch die grie¬
chische Tragödie zu einer Ahnung kamen. Durch ein merk¬
würdiges Auseinanderreissen beider künstlerischen Urtriebe
musste uns der Untergang der griechischen Tragödie herbei¬
geführt erscheinen: mit welchem Vorgange eine Degeneration
und Umwandlung des griechischen Volkscharakters im Ein¬
klang war, uns zu ernstem Nachdenken auffordernd, wie
nothwendig und eng die Kunst und das Volk, Mythus und
Sitte, Tragödie und Staat, in ihren Fundamenten verwachsen
sind. Jener Untergang der Tragödie war zugleich der Unter¬
gang des Mythus. Bis dahin waren die Griechen unwill¬
kürlich genöthigt, alles Erlebte sofort an ihre Mythen anzu¬
knüpfen, ja es nur durch diese Anknüpfung zu begreifen:
wodurch auch die nächste Gegenwart ihnen sofort sub specie
aeterni und in gewissem Sinne als zeitlos erscheinen musste.
In diesen Strom des Zeitlosen aber tauchte sich eben so der
Staat wie die Kunst, um in ihm vor der Last und der Gier
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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/147>, abgerufen am 07.02.2025.
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