geheure historische Bedürfniss der unbefriedigten modernen Cultur, das Umsichsammeln zahlloser anderer Culturen, das verzehrende Erkennenwollen, wenn nicht auf den Verlust des Mythus, auf den Verlust der mythischen Heimat, des my¬ thischen Mutterschoosses? Man frage sich, ob das fieber¬ hafte und so unheimliche Sichregen dieser Cultur etwas Anderes ist als das gierige Zugreifen und Nach-Nahrung- Haschen des Hungernden -- und wer möchte einer solchen Cultur noch etwas geben wollen, die durch alles, was sie verschlingt, nicht zu sättigen ist und bei deren Berührung sich die kräftigste, heilsamste Nahrung in "Historie und Kritik" zu verwandeln pflegt?
Man müsste auch an unserem deutschen Wesen schmerz¬ lich verzweifeln, wenn es bereits in gleicher Weise mit seiner Cultur unlösbar verstrickt, ja eins geworden wäre, wie wir das an dem civilisirten Frankreich zu unserem Entsetzen be¬ obachten können; und das, was lange Zeit der grosse Vor¬ zug Frankreichs und die Ursache seines ungeheuren Ueber¬ gewichts war, eben jenes Einssein von Volk und Cultur, dürfte uns, bei diesem Anblick, nöthigen, darin das Glück zu preisen, dass diese unsere so fragwürdige Cultur bis jetzt mit dem edeln Kerne unseres Volkscharakters nichts gemein hat. Alle unsere Hoffnungen strecken sich vielmehr sehn¬ suchtsvoll nach jener Wahrnehmung aus, dass unter diesem unruhig auf und nieder zuckenden Culturleben und Bildungs¬ krampfe eine herrliche, innerlich gesunde, uralte Kraft ver¬ borgen liegt, die freilich nur in ungeheuren Momenten sich gewaltig einmal bewegt und dann wieder einem zukünftigen Erwachen entgegenträumt. Aus diesem Abgrunde ist die deutsche Reformation hervorgewachsen: in deren Choral die Zukunftsweise der deutschen Musik zuerst erklang. So tief, muthig und seelenvoll, so überschwänglich gut und zart tönte dieser Choral Luther's, als der erste dionysische Lockruf, der
geheure historische Bedürfniss der unbefriedigten modernen Cultur, das Umsichsammeln zahlloser anderer Culturen, das verzehrende Erkennenwollen, wenn nicht auf den Verlust des Mythus, auf den Verlust der mythischen Heimat, des my¬ thischen Mutterschoosses? Man frage sich, ob das fieber¬ hafte und so unheimliche Sichregen dieser Cultur etwas Anderes ist als das gierige Zugreifen und Nach-Nahrung- Haschen des Hungernden — und wer möchte einer solchen Cultur noch etwas geben wollen, die durch alles, was sie verschlingt, nicht zu sättigen ist und bei deren Berührung sich die kräftigste, heilsamste Nahrung in »Historie und Kritik« zu verwandeln pflegt?
Man müsste auch an unserem deutschen Wesen schmerz¬ lich verzweifeln, wenn es bereits in gleicher Weise mit seiner Cultur unlösbar verstrickt, ja eins geworden wäre, wie wir das an dem civilisirten Frankreich zu unserem Entsetzen be¬ obachten können; und das, was lange Zeit der grosse Vor¬ zug Frankreichs und die Ursache seines ungeheuren Ueber¬ gewichts war, eben jenes Einssein von Volk und Cultur, dürfte uns, bei diesem Anblick, nöthigen, darin das Glück zu preisen, dass diese unsere so fragwürdige Cultur bis jetzt mit dem edeln Kerne unseres Volkscharakters nichts gemein hat. Alle unsere Hoffnungen strecken sich vielmehr sehn¬ suchtsvoll nach jener Wahrnehmung aus, dass unter diesem unruhig auf und nieder zuckenden Culturleben und Bildungs¬ krampfe eine herrliche, innerlich gesunde, uralte Kraft ver¬ borgen liegt, die freilich nur in ungeheuren Momenten sich gewaltig einmal bewegt und dann wieder einem zukünftigen Erwachen entgegenträumt. Aus diesem Abgrunde ist die deutsche Reformation hervorgewachsen: in deren Choral die Zukunftsweise der deutschen Musik zuerst erklang. So tief, muthig und seelenvoll, so überschwänglich gut und zart tönte dieser Choral Luther's, als der erste dionysische Lockruf, der
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geheure historische Bedürfniss der unbefriedigten modernen
Cultur, das Umsichsammeln zahlloser anderer Culturen, das
verzehrende Erkennenwollen, wenn nicht auf den Verlust des
Mythus, auf den Verlust der mythischen Heimat, des my¬
thischen Mutterschoosses? Man frage sich, ob das fieber¬
hafte und so unheimliche Sichregen dieser Cultur etwas
Anderes ist als das gierige Zugreifen und Nach-Nahrung-
Haschen des Hungernden — und wer möchte einer solchen
Cultur noch etwas geben wollen, die durch alles, was sie
verschlingt, nicht zu sättigen ist und bei deren Berührung
sich die kräftigste, heilsamste Nahrung in »Historie und Kritik«
zu verwandeln pflegt?
Man müsste auch an unserem deutschen Wesen schmerz¬
lich verzweifeln, wenn es bereits in gleicher Weise mit seiner
Cultur unlösbar verstrickt, ja eins geworden wäre, wie wir
das an dem civilisirten Frankreich zu unserem Entsetzen be¬
obachten können; und das, was lange Zeit der grosse Vor¬
zug Frankreichs und die Ursache seines ungeheuren Ueber¬
gewichts war, eben jenes Einssein von Volk und Cultur,
dürfte uns, bei diesem Anblick, nöthigen, darin das Glück
zu preisen, dass diese unsere so fragwürdige Cultur bis jetzt
mit dem edeln Kerne unseres Volkscharakters nichts gemein
hat. Alle unsere Hoffnungen strecken sich vielmehr sehn¬
suchtsvoll nach jener Wahrnehmung aus, dass unter diesem
unruhig auf und nieder zuckenden Culturleben und Bildungs¬
krampfe eine herrliche, innerlich gesunde, uralte Kraft ver¬
borgen liegt, die freilich nur in ungeheuren Momenten sich
gewaltig einmal bewegt und dann wieder einem zukünftigen
Erwachen entgegenträumt. Aus diesem Abgrunde ist die
deutsche Reformation hervorgewachsen: in deren Choral die
Zukunftsweise der deutschen Musik zuerst erklang. So tief,
muthig und seelenvoll, so überschwänglich gut und zart tönte
dieser Choral Luther's, als der erste dionysische Lockruf, der
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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/146>, abgerufen am 07.02.2025.
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