Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

Bild:
<< vorherige Seite

bestand aber bisher das Publicum; der Student, der Schul¬
knabe, ja selbst das harmloseste weibliche Geschöpf war
wider sein Wissen bereits durch Erziehung und Journale zu
einer gleichen Perception eines Kunstwerks vorbereitet. Die
edleren Naturen unter den Künstlern rechneten bei einem
solchen Publicum auf die Erregung moralisch-religiöser Kräfte,
und der Anruf der "sittlichen Weltordnung" trat vikarirend
ein, wo eigentlich ein gewaltiger Kunstzauber den ächten
Zuhörer packen sollte. Oder es wurde vom Dramatiker eine
grossartigere, mindestens aufregende Tendenz der politischen
und socialen Gegenwart so deutlich vorgetragen, dass der
Zuhörer seine kritische Erschöpfung vergessen und sich ähn¬
lichen Affecten überlassen konnte, wie in patriotischen oder
kriegerischen Momenten, oder vor der Rednerbühne des
Parlaments oder bei der Verurtheilung des Verbrechens und
des Lasters: als welche Entfremdung der eigentlichen Kunst¬
absichten hier und da geradezu zu einem Cultus der Tendenz
führen musste. Doch hier trat ein, was bei allen erkünstel¬
ten Künsten von jeher eingetreten ist, eine reissend schnelle
Depravation jener Tendenzen, so dass zum Beispiel die
Tendenz, das Theater als Veranstaltung zur moralischen
Volksbildung zu verwenden, die zu Schiller's Zeit ernsthaft
genommen wurde, bereits unter die unglaubwürdigen
Antiquitäten einer überwundenen Bildung gerechnet wird.
Während der Kritiker in Theater und Concert, der Journalist
in der Schule, die Presse in der Gesellschaft zur Herrschaft
gekommen war, entartete die Kunst zu einem Unterhaltungs¬
object der niedrigsten Art, und die ästhetische Kritik wurde
als das Bindemittel einer eiteln, zerstreuten, selbstsüchtigen
und überdies ärmlich-unoriginalen Geselligkeit benutzt, deren
Sinn jene Schopenhauerische Parabel von den Stachelschweinen
zu verstehen giebt; so dass zu keiner Zeit so viel über Kunst
geschwatzt und so wenig von der Kunst gehalten worden ist.

bestand aber bisher das Publicum; der Student, der Schul¬
knabe, ja selbst das harmloseste weibliche Geschöpf war
wider sein Wissen bereits durch Erziehung und Journale zu
einer gleichen Perception eines Kunstwerks vorbereitet. Die
edleren Naturen unter den Künstlern rechneten bei einem
solchen Publicum auf die Erregung moralisch-religiöser Kräfte,
und der Anruf der »sittlichen Weltordnung« trat vikarirend
ein, wo eigentlich ein gewaltiger Kunstzauber den ächten
Zuhörer packen sollte. Oder es wurde vom Dramatiker eine
grossartigere, mindestens aufregende Tendenz der politischen
und socialen Gegenwart so deutlich vorgetragen, dass der
Zuhörer seine kritische Erschöpfung vergessen und sich ähn¬
lichen Affecten überlassen konnte, wie in patriotischen oder
kriegerischen Momenten, oder vor der Rednerbühne des
Parlaments oder bei der Verurtheilung des Verbrechens und
des Lasters: als welche Entfremdung der eigentlichen Kunst¬
absichten hier und da geradezu zu einem Cultus der Tendenz
führen musste. Doch hier trat ein, was bei allen erkünstel¬
ten Künsten von jeher eingetreten ist, eine reissend schnelle
Depravation jener Tendenzen, so dass zum Beispiel die
Tendenz, das Theater als Veranstaltung zur moralischen
Volksbildung zu verwenden, die zu Schiller's Zeit ernsthaft
genommen wurde, bereits unter die unglaubwürdigen
Antiquitäten einer überwundenen Bildung gerechnet wird.
Während der Kritiker in Theater und Concert, der Journalist
in der Schule, die Presse in der Gesellschaft zur Herrschaft
gekommen war, entartete die Kunst zu einem Unterhaltungs¬
object der niedrigsten Art, und die ästhetische Kritik wurde
als das Bindemittel einer eiteln, zerstreuten, selbstsüchtigen
und überdies ärmlich-unoriginalen Geselligkeit benutzt, deren
Sinn jene Schopenhauerische Parabel von den Stachelschweinen
zu verstehen giebt; so dass zu keiner Zeit so viel über Kunst
geschwatzt und so wenig von der Kunst gehalten worden ist.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0143" n="130"/>
bestand aber bisher das Publicum; der Student, der Schul¬<lb/>
knabe, ja selbst das harmloseste weibliche Geschöpf war<lb/>
wider sein Wissen bereits durch Erziehung und Journale zu<lb/>
einer gleichen Perception eines Kunstwerks vorbereitet. Die<lb/>
edleren Naturen unter den Künstlern rechneten bei einem<lb/>
solchen Publicum auf die Erregung moralisch-religiöser Kräfte,<lb/>
und der Anruf der »sittlichen Weltordnung« trat vikarirend<lb/>
ein, wo eigentlich ein gewaltiger Kunstzauber den ächten<lb/>
Zuhörer packen sollte. Oder es wurde vom Dramatiker eine<lb/>
grossartigere, mindestens aufregende Tendenz der politischen<lb/>
und socialen Gegenwart so deutlich vorgetragen, dass der<lb/>
Zuhörer seine kritische Erschöpfung vergessen und sich ähn¬<lb/>
lichen Affecten überlassen konnte, wie in patriotischen oder<lb/>
kriegerischen Momenten, oder vor der Rednerbühne des<lb/>
Parlaments oder bei der Verurtheilung des Verbrechens und<lb/>
des Lasters: als welche Entfremdung der eigentlichen Kunst¬<lb/>
absichten hier und da geradezu zu einem Cultus der Tendenz<lb/>
führen musste. Doch hier trat ein, was bei allen erkünstel¬<lb/>
ten Künsten von jeher eingetreten ist, eine reissend schnelle<lb/>
Depravation jener Tendenzen, so dass zum Beispiel die<lb/>
Tendenz, das Theater als Veranstaltung zur moralischen<lb/>
Volksbildung zu verwenden, die zu Schiller's Zeit ernsthaft<lb/>
genommen wurde, bereits unter die unglaubwürdigen<lb/>
Antiquitäten einer überwundenen Bildung gerechnet wird.<lb/>
Während der Kritiker in Theater und Concert, der Journalist<lb/>
in der Schule, die Presse in der Gesellschaft zur Herrschaft<lb/>
gekommen war, entartete die Kunst zu einem Unterhaltungs¬<lb/>
object der niedrigsten Art, und die ästhetische Kritik wurde<lb/>
als das Bindemittel einer eiteln, zerstreuten, selbstsüchtigen<lb/>
und überdies ärmlich-unoriginalen Geselligkeit benutzt, deren<lb/>
Sinn jene Schopenhauerische Parabel von den Stachelschweinen<lb/>
zu verstehen giebt; so dass zu keiner Zeit so viel über Kunst<lb/>
geschwatzt und so wenig von der Kunst gehalten worden ist.<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[130/0143] bestand aber bisher das Publicum; der Student, der Schul¬ knabe, ja selbst das harmloseste weibliche Geschöpf war wider sein Wissen bereits durch Erziehung und Journale zu einer gleichen Perception eines Kunstwerks vorbereitet. Die edleren Naturen unter den Künstlern rechneten bei einem solchen Publicum auf die Erregung moralisch-religiöser Kräfte, und der Anruf der »sittlichen Weltordnung« trat vikarirend ein, wo eigentlich ein gewaltiger Kunstzauber den ächten Zuhörer packen sollte. Oder es wurde vom Dramatiker eine grossartigere, mindestens aufregende Tendenz der politischen und socialen Gegenwart so deutlich vorgetragen, dass der Zuhörer seine kritische Erschöpfung vergessen und sich ähn¬ lichen Affecten überlassen konnte, wie in patriotischen oder kriegerischen Momenten, oder vor der Rednerbühne des Parlaments oder bei der Verurtheilung des Verbrechens und des Lasters: als welche Entfremdung der eigentlichen Kunst¬ absichten hier und da geradezu zu einem Cultus der Tendenz führen musste. Doch hier trat ein, was bei allen erkünstel¬ ten Künsten von jeher eingetreten ist, eine reissend schnelle Depravation jener Tendenzen, so dass zum Beispiel die Tendenz, das Theater als Veranstaltung zur moralischen Volksbildung zu verwenden, die zu Schiller's Zeit ernsthaft genommen wurde, bereits unter die unglaubwürdigen Antiquitäten einer überwundenen Bildung gerechnet wird. Während der Kritiker in Theater und Concert, der Journalist in der Schule, die Presse in der Gesellschaft zur Herrschaft gekommen war, entartete die Kunst zu einem Unterhaltungs¬ object der niedrigsten Art, und die ästhetische Kritik wurde als das Bindemittel einer eiteln, zerstreuten, selbstsüchtigen und überdies ärmlich-unoriginalen Geselligkeit benutzt, deren Sinn jene Schopenhauerische Parabel von den Stachelschweinen zu verstehen giebt; so dass zu keiner Zeit so viel über Kunst geschwatzt und so wenig von der Kunst gehalten worden ist.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/143
Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/143>, abgerufen am 28.11.2024.