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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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würdige Ahnung Goethe's. "Ohne ein lebhaftes pathologi¬
sches Interesse", sagt er, "ist es auch mir niemals gelungen,
irgend eine tragische Situation zu bearbeiten, und ich habe
sie daher lieber vermieden als aufgesucht. Sollte es wohl
auch einer von den Vorzügen der Alten gewesen sein, dass
das höchste Pathetische auch nur ästhetisches Spiel bei ihnen
gewesen wäre, da bei uns die Naturwahrheit mitwirken muss,
um ein solches Werk hervorzubringen?" Diese so tiefsinnige
letzte Frage dürfen wir jetzt, nach unseren herrlichen Er¬
fahrungen, bejahen, nachdem wir gerade an der musikalischen
Tragödie mit Staunen erlebt haben, wie wirklich das höchste
Pathetische doch nur ein ästhetisches Spiel sein kann: wes¬
halb wir glauben dürfen, dass erst jetzt das Urphänomen des
Tragischen mit einigem Erfolg zu beschreiben ist. Wer jetzt
noch nur von jenen stellvertretenden Wirkungen aus ausser¬
ästhetischen Sphären zu erzählen hat und über den patho¬
logisch-moralischen Process sich nicht hinausgehoben fühlt,
mag nur an seiner ästhetischen Natur verzweifeln: wogegen
wir ihm die Interpretation Shakespeare's nach der Manier des
Gervinus und das fleissige Aufspüren der "poetischen Ge¬
rechtigkeit" als unschuldigen Ersatz anempfehlen.

So ist mit der Wiedergeburt der Tragödie auch der
ästhetische Zuhörer wieder geboren, an dessen Stelle bisher
in den Theaterräumen ein seltsames Quidproquo, mit halb
moralischen und halb gelehrten Ansprüchen, zu sitzen pflegte,
der "Kritiker". In seiner bisherigen Sphäre war Alles künst¬
lich und nur mit einem Scheine des Lebens übertüncht. Der
darstellende Künstler wusste in der That nicht mehr, was er
mit einem solchen, kritisch sich gebärdenden Zuhörer zu be¬
ginnen habe und spähte daher, sammt dem ihn inspirirenden
Dramatiker oder Operncomponisten, unruhig nach den letzten
Resten des Lebens in diesem anspruchsvoll öden und zum
Geniessen unfähigen Wesen. Aus derartigen "Kritikern"

Nietzsche, Geburt der Tragödie. 9

würdige Ahnung Goethe's. »Ohne ein lebhaftes pathologi¬
sches Interesse«, sagt er, »ist es auch mir niemals gelungen,
irgend eine tragische Situation zu bearbeiten, und ich habe
sie daher lieber vermieden als aufgesucht. Sollte es wohl
auch einer von den Vorzügen der Alten gewesen sein, dass
das höchste Pathetische auch nur ästhetisches Spiel bei ihnen
gewesen wäre, da bei uns die Naturwahrheit mitwirken muss,
um ein solches Werk hervorzubringen?« Diese so tiefsinnige
letzte Frage dürfen wir jetzt, nach unseren herrlichen Er¬
fahrungen, bejahen, nachdem wir gerade an der musikalischen
Tragödie mit Staunen erlebt haben, wie wirklich das höchste
Pathetische doch nur ein ästhetisches Spiel sein kann: wes¬
halb wir glauben dürfen, dass erst jetzt das Urphänomen des
Tragischen mit einigem Erfolg zu beschreiben ist. Wer jetzt
noch nur von jenen stellvertretenden Wirkungen aus ausser¬
ästhetischen Sphären zu erzählen hat und über den patho¬
logisch-moralischen Process sich nicht hinausgehoben fühlt,
mag nur an seiner ästhetischen Natur verzweifeln: wogegen
wir ihm die Interpretation Shakespeare's nach der Manier des
Gervinus und das fleissige Aufspüren der »poetischen Ge¬
rechtigkeit« als unschuldigen Ersatz anempfehlen.

So ist mit der Wiedergeburt der Tragödie auch der
ästhetische Zuhörer wieder geboren, an dessen Stelle bisher
in den Theaterräumen ein seltsames Quidproquo, mit halb
moralischen und halb gelehrten Ansprüchen, zu sitzen pflegte,
der »Kritiker«. In seiner bisherigen Sphäre war Alles künst¬
lich und nur mit einem Scheine des Lebens übertüncht. Der
darstellende Künstler wusste in der That nicht mehr, was er
mit einem solchen, kritisch sich gebärdenden Zuhörer zu be¬
ginnen habe und spähte daher, sammt dem ihn inspirirenden
Dramatiker oder Operncomponisten, unruhig nach den letzten
Resten des Lebens in diesem anspruchsvoll öden und zum
Geniessen unfähigen Wesen. Aus derartigen »Kritikern«

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[—129—/0142] würdige Ahnung Goethe's. »Ohne ein lebhaftes pathologi¬ sches Interesse«, sagt er, »ist es auch mir niemals gelungen, irgend eine tragische Situation zu bearbeiten, und ich habe sie daher lieber vermieden als aufgesucht. Sollte es wohl auch einer von den Vorzügen der Alten gewesen sein, dass das höchste Pathetische auch nur ästhetisches Spiel bei ihnen gewesen wäre, da bei uns die Naturwahrheit mitwirken muss, um ein solches Werk hervorzubringen?« Diese so tiefsinnige letzte Frage dürfen wir jetzt, nach unseren herrlichen Er¬ fahrungen, bejahen, nachdem wir gerade an der musikalischen Tragödie mit Staunen erlebt haben, wie wirklich das höchste Pathetische doch nur ein ästhetisches Spiel sein kann: wes¬ halb wir glauben dürfen, dass erst jetzt das Urphänomen des Tragischen mit einigem Erfolg zu beschreiben ist. Wer jetzt noch nur von jenen stellvertretenden Wirkungen aus ausser¬ ästhetischen Sphären zu erzählen hat und über den patho¬ logisch-moralischen Process sich nicht hinausgehoben fühlt, mag nur an seiner ästhetischen Natur verzweifeln: wogegen wir ihm die Interpretation Shakespeare's nach der Manier des Gervinus und das fleissige Aufspüren der »poetischen Ge¬ rechtigkeit« als unschuldigen Ersatz anempfehlen. So ist mit der Wiedergeburt der Tragödie auch der ästhetische Zuhörer wieder geboren, an dessen Stelle bisher in den Theaterräumen ein seltsames Quidproquo, mit halb moralischen und halb gelehrten Ansprüchen, zu sitzen pflegte, der »Kritiker«. In seiner bisherigen Sphäre war Alles künst¬ lich und nur mit einem Scheine des Lebens übertüncht. Der darstellende Künstler wusste in der That nicht mehr, was er mit einem solchen, kritisch sich gebärdenden Zuhörer zu be¬ ginnen habe und spähte daher, sammt dem ihn inspirirenden Dramatiker oder Operncomponisten, unruhig nach den letzten Resten des Lebens in diesem anspruchsvoll öden und zum Geniessen unfähigen Wesen. Aus derartigen »Kritikern« Nietzsche, Geburt der Tragödie. 9

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —129—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/142>, abgerufen am 03.05.2024.