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Nietzsche, Friedrich: Homer und die klassische Philologie. Basel, 1869.

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innere und sich oft so herzzerreissend kundgebende Widerspruch im Begriff und demnach in der durch diesen Begriff geleiteten Thätigkeit der klassischen Philologie. Stellen wir uns wissenschaftlich zum Alterthum, mögen wir nun mit dem Auge des Historikers das Gewordene zu begreifen suchen, oder in der Art des Naturforschers die sprachlichen Formen der alterthümlichen Meisterwerke rubrizieren, vergleichen, allenfalls auf einige morphologische Gesetze zurückbringen: immer verlieren wir das wunderbar Bildende, ja den eigentlichen Duft der antiken Athmosphäre, wir vergessen jene sehnsüchtige Regung, die unser Sinnen und Geniessen mit der Macht des Instinktes, als holdeste Wagenlenkerin, den Griechen zuführte. Von hier aus soll auf eine ganz bestimmte und zunächst sehr überraschende Gegnerschaft aufmerksam gemacht werden, die die Philologie immer am meisten zu bedauern hat. Eben nämlich aus denjenigen Kreisen, auf deren Beistand wir am sichersten rechnen müssen, der künstlerischen Freunde des Alterthums, der warmen Verehrer hellenischer Schönheit und edler Einfalt pflegen mitunter verstimmte Töne laut zu werden, als ob gerade die Philologen selbst die eigentlichen Gegner und Verwüster des Alterthums und der alterthümlichen Ideale seien. Den Philologen warf es Schiller vor, dass sie den Kranz des Homer zerrissen hätten. Goethe war es, der, früher selbst ein Anhänger der Wolfischen Homeransichten, seinen "Abfall" in diesen Versen kundgab: "Scharfsinnig habt Ihr, wie Ihr seid, von aller Verehrung uns befreit, und wir bekannten überfrei, dass Ilias nur ein Flickwerk sei. Mög' unser Abfall niemand kränken; denn Jugend weiss uns zu entzünden, dass wir ihn lieber als Ganzes denken, als Ganzes freudig ihn empfinden". Für diesen Mangel an Pietät und Verehrungslust, meint man wohl, müsse der Grund tiefer liegen: und viele schwanken, ob es den Philologen überhaupt an künstlerischen Fähigkeiten und Empfindungen fehle, so dass sie unfähig seien dem Ideal gerecht zu werden, oder ob in ihnen der Geist der Negation, eine destruktive bilderstürmerische Richtung mächtig geworden sei. Wenn aber selbst die Freunde des Alterthums mit derartigen Bedenklichkeiten und

innere und sich oft so herzzerreissend kundgebende Widerspruch im Begriff und demnach in der durch diesen Begriff geleiteten Thätigkeit der klassischen Philologie. Stellen wir uns wissenschaftlich zum Alterthum, mögen wir nun mit dem Auge des Historikers das Gewordene zu begreifen suchen, oder in der Art des Naturforschers die sprachlichen Formen der alterthümlichen Meisterwerke rubrizieren, vergleichen, allenfalls auf einige morphologische Gesetze zurückbringen: immer verlieren wir das wunderbar Bildende, ja den eigentlichen Duft der antiken Athmosphäre, wir vergessen jene sehnsüchtige Regung, die unser Sinnen und Geniessen mit der Macht des Instinktes, als holdeste Wagenlenkerin, den Griechen zuführte. Von hier aus soll auf eine ganz bestimmte und zunächst sehr überraschende Gegnerschaft aufmerksam gemacht werden, die die Philologie immer am meisten zu bedauern hat. Eben nämlich aus denjenigen Kreisen, auf deren Beistand wir am sichersten rechnen müssen, der künstlerischen Freunde des Alterthums, der warmen Verehrer hellenischer Schönheit und edler Einfalt pflegen mitunter verstimmte Töne laut zu werden, als ob gerade die Philologen selbst die eigentlichen Gegner und Verwüster des Alterthums und der alterthümlichen Ideale seien. Den Philologen warf es Schiller vor, dass sie den Kranz des Homer zerrissen hätten. Goethe war es, der, früher selbst ein Anhänger der Wolfischen Homeransichten, seinen «Abfall» in diesen Versen kundgab: «Scharfsinnig habt Ihr, wie Ihr seid, von aller Verehrung uns befreit, und wir bekannten überfrei, dass Ilias nur ein Flickwerk sei. Mög’ unser Abfall niemand kränken; denn Jugend weiss uns zu entzünden, dass wir ihn lieber als Ganzes denken, als Ganzes freudig ihn empfinden». Für diesen Mangel an Pietät und Verehrungslust, meint man wohl, müsse der Grund tiefer liegen: und viele schwanken, ob es den Philologen überhaupt an künstlerischen Fähigkeiten und Empfindungen fehle, so dass sie unfähig seien dem Ideal gerecht zu werden, oder ob in ihnen der Geist der Negation, eine destruktive bilderstürmerische Richtung mächtig geworden sei. Wenn aber selbst die Freunde des Alterthums mit derartigen Bedenklichkeiten und

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[8/0006] innere und sich oft so herzzerreissend kundgebende Widerspruch im Begriff und demnach in der durch diesen Begriff geleiteten Thätigkeit der klassischen Philologie. Stellen wir uns wissenschaftlich zum Alterthum, mögen wir nun mit dem Auge des Historikers das Gewordene zu begreifen suchen, oder in der Art des Naturforschers die sprachlichen Formen der alterthümlichen Meisterwerke rubrizieren, vergleichen, allenfalls auf einige morphologische Gesetze zurückbringen: immer verlieren wir das wunderbar Bildende, ja den eigentlichen Duft der antiken Athmosphäre, wir vergessen jene sehnsüchtige Regung, die unser Sinnen und Geniessen mit der Macht des Instinktes, als holdeste Wagenlenkerin, den Griechen zuführte. Von hier aus soll auf eine ganz bestimmte und zunächst sehr überraschende Gegnerschaft aufmerksam gemacht werden, die die Philologie immer am meisten zu bedauern hat. Eben nämlich aus denjenigen Kreisen, auf deren Beistand wir am sichersten rechnen müssen, der künstlerischen Freunde des Alterthums, der warmen Verehrer hellenischer Schönheit und edler Einfalt pflegen mitunter verstimmte Töne laut zu werden, als ob gerade die Philologen selbst die eigentlichen Gegner und Verwüster des Alterthums und der alterthümlichen Ideale seien. Den Philologen warf es Schiller vor, dass sie den Kranz des Homer zerrissen hätten. Goethe war es, der, früher selbst ein Anhänger der Wolfischen Homeransichten, seinen «Abfall» in diesen Versen kundgab: «Scharfsinnig habt Ihr, wie Ihr seid, von aller Verehrung uns befreit, und wir bekannten überfrei, dass Ilias nur ein Flickwerk sei. Mög’ unser Abfall niemand kränken; denn Jugend weiss uns zu entzünden, dass wir ihn lieber als Ganzes denken, als Ganzes freudig ihn empfinden». Für diesen Mangel an Pietät und Verehrungslust, meint man wohl, müsse der Grund tiefer liegen: und viele schwanken, ob es den Philologen überhaupt an künstlerischen Fähigkeiten und Empfindungen fehle, so dass sie unfähig seien dem Ideal gerecht zu werden, oder ob in ihnen der Geist der Negation, eine destruktive bilderstürmerische Richtung mächtig geworden sei. Wenn aber selbst die Freunde des Alterthums mit derartigen Bedenklichkeiten und

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Homer und die klassische Philologie. Basel, 1869, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_homer_1869/6>, abgerufen am 18.04.2024.