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Nietzsche, Friedrich: Homer und die klassische Philologie. Basel, 1869.

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Flusse und der Gefahr ausgesetzt, fremde Elemente, Reste jener Individualitäten in sich aufzunehmen, durch die der Weg der Tradition führt.

Wenden wir alle diese Sätze auf die homerischen Dichtungen an, so ergiebt sich, dass wir mit der Theorie von der dichtenden Volksseele nichts gewinnen, dass wir unter allen Umständen verwiesen werden auf das dichterische Individuum. Es entsteht also die Aufgabe, das Individuelle zu fassen und es wohl zu unterscheiden von dem, was im Flusse der mündlichen Tradition gewissermassen angeschwemmt worden ist - ein als höchst beträchtlich geltender Bestandtheil der homerischen Dichtungen.

Seitdem die Litteraturgeschichte aufgehört hat, ein Register zu sein oder sein zu dürfen: macht man Versuche die Individualitäten der Dichter einzufangen und zu formulieren. Die Methode bringt einen gewissen Mechanismus mit sich; es soll erklärt werden, es soll folglich aus Gründen abgeleitet werden, warum diese und jene Individualität sich so und nicht anders zeigt. Jetzt benutzt man die biographischen Daten, die Umgebung, die Bekanntschaften, die Zeitereignisse und glaubt aus der Mischung aller dieser Ingredienzien die verlangte Individualität gebraut zu haben. Leider vergisst man, dass man eben den bewegenden Punkt, das undefinirbar Individuelle nicht als Resultat herausbekommen kann. Je weniger nun über Zeit und Leben feststeht, um so weniger anwendbar ist jener Mechanismus. Hat man aber gar nur die Werke und den Namen, dann steht es schlimm um den Nachweis der Individualität, wenigstens für die Freunde jenes erwähnten Mechanismus; ganz besonders schlimm, wenn die Werke recht vollkommen sind, wenn sie Volksdichtungen sind. Denn woran jene Mechaniker am ersten noch das Individuelle fassen können, das sind die Abweichungen vom Volksgenius, die Auswüchse und verbogenen Linien; je weniger somit eine Dichtung Auswüchse hat, um so blasser wird die Zeichnung ihres Dichterindividuums ausfallen.

Alle jene Auswüchse, alles Matte oder Masslose, das man in

Flusse und der Gefahr ausgesetzt, fremde Elemente, Reste jener Individualitäten in sich aufzunehmen, durch die der Weg der Tradition führt.

Wenden wir alle diese Sätze auf die homerischen Dichtungen an, so ergiebt sich, dass wir mit der Theorie von der dichtenden Volksseele nichts gewinnen, dass wir unter allen Umständen verwiesen werden auf das dichterische Individuum. Es entsteht also die Aufgabe, das Individuelle zu fassen und es wohl zu unterscheiden von dem, was im Flusse der mündlichen Tradition gewissermassen angeschwemmt worden ist – ein als höchst beträchtlich geltender Bestandtheil der homerischen Dichtungen.

Seitdem die Litteraturgeschichte aufgehört hat, ein Register zu sein oder sein zu dürfen: macht man Versuche die Individualitäten der Dichter einzufangen und zu formulieren. Die Methode bringt einen gewissen Mechanismus mit sich; es soll erklärt werden, es soll folglich aus Gründen abgeleitet werden, warum diese und jene Individualität sich so und nicht anders zeigt. Jetzt benutzt man die biographischen Daten, die Umgebung, die Bekanntschaften, die Zeitereignisse und glaubt aus der Mischung aller dieser Ingredienzien die verlangte Individualität gebraut zu haben. Leider vergisst man, dass man eben den bewegenden Punkt, das undefinirbar Individuelle nicht als Resultat herausbekommen kann. Je weniger nun über Zeit und Leben feststeht, um so weniger anwendbar ist jener Mechanismus. Hat man aber gar nur die Werke und den Namen, dann steht es schlimm um den Nachweis der Individualität, wenigstens für die Freunde jenes erwähnten Mechanismus; ganz besonders schlimm, wenn die Werke recht vollkommen sind, wenn sie Volksdichtungen sind. Denn woran jene Mechaniker am ersten noch das Individuelle fassen können, das sind die Abweichungen vom Volksgenius, die Auswüchse und verbogenen Linien; je weniger somit eine Dichtung Auswüchse hat, um so blasser wird die Zeichnung ihres Dichterindividuums ausfallen.

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[18/0016] Flusse und der Gefahr ausgesetzt, fremde Elemente, Reste jener Individualitäten in sich aufzunehmen, durch die der Weg der Tradition führt. Wenden wir alle diese Sätze auf die homerischen Dichtungen an, so ergiebt sich, dass wir mit der Theorie von der dichtenden Volksseele nichts gewinnen, dass wir unter allen Umständen verwiesen werden auf das dichterische Individuum. Es entsteht also die Aufgabe, das Individuelle zu fassen und es wohl zu unterscheiden von dem, was im Flusse der mündlichen Tradition gewissermassen angeschwemmt worden ist – ein als höchst beträchtlich geltender Bestandtheil der homerischen Dichtungen. Seitdem die Litteraturgeschichte aufgehört hat, ein Register zu sein oder sein zu dürfen: macht man Versuche die Individualitäten der Dichter einzufangen und zu formulieren. Die Methode bringt einen gewissen Mechanismus mit sich; es soll erklärt werden, es soll folglich aus Gründen abgeleitet werden, warum diese und jene Individualität sich so und nicht anders zeigt. Jetzt benutzt man die biographischen Daten, die Umgebung, die Bekanntschaften, die Zeitereignisse und glaubt aus der Mischung aller dieser Ingredienzien die verlangte Individualität gebraut zu haben. Leider vergisst man, dass man eben den bewegenden Punkt, das undefinirbar Individuelle nicht als Resultat herausbekommen kann. Je weniger nun über Zeit und Leben feststeht, um so weniger anwendbar ist jener Mechanismus. Hat man aber gar nur die Werke und den Namen, dann steht es schlimm um den Nachweis der Individualität, wenigstens für die Freunde jenes erwähnten Mechanismus; ganz besonders schlimm, wenn die Werke recht vollkommen sind, wenn sie Volksdichtungen sind. Denn woran jene Mechaniker am ersten noch das Individuelle fassen können, das sind die Abweichungen vom Volksgenius, die Auswüchse und verbogenen Linien; je weniger somit eine Dichtung Auswüchse hat, um so blasser wird die Zeichnung ihres Dichterindividuums ausfallen. Alle jene Auswüchse, alles Matte oder Masslose, das man in

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Homer und die klassische Philologie. Basel, 1869, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_homer_1869/16>, abgerufen am 29.03.2024.