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Nietzsche, Friedrich: Homer und die klassische Philologie. Basel, 1869.

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hier, wo man ihr den Kranz des Genie's auf das kahle Haupt setzte. Man stellte sich ungefähr vor als ob um einen kleinen Kern herum immer neue Rinden sich ansetzen, man dachte sich jene Massendichtungen etwa entstanden, wie die Lawinen entstehen, nämlich im Laufe, im Fluss der Tradition. Jenen kleinen Kern aber war man geneigt möglichst klein anzunehmen, so dass man ihn auch gelegentlich abrechnen konnte, ohne von der gesammten Masse etwas zu verlieren. Dieser Anschauung ist also Ueberlieferung und Ueberliefertes geradezu dasselbe.

Nun aber existirt in der Wirklichkeit ein solcher Gegensatz von Volksdichtung und Individualdichtung gar nicht: vielmehr braucht alle Dichtung und natürlich auch die Volksdichtung ein vermittelndes Einzelindividuum. Jene meist missbräuchliche Gegenüberstellung hat nur dann einen Sinn, wenn man unter Individualdichtung eine Dichtung versteht, die nicht auf dem Boden volksthümlicher Empfindung erwachsen ist, sondern auf einen unvolksthümlichen Schöpfer zurückgeht, und in unvolksthümlicher Athmosphaere, etwa in der Studirstube des Gelehrten gezeitigt worden ist.

Mit dem Aberglauben, der eine dichtende Masse annimmt, hängt der andere zusammen, dass die Volksdichtung auf einen gegebenen Zeitraum bei jedem Volke beschränkt sei und nachher aussterbe: wie es allerdings in der Konsequenz jenes ersten Aberglaubens liegt. An die Stelle dieser allmählich aussterbenden Volksdichtung tritt nach dieser Vorstellung die Kunstdichtung, das Werk einzelner Köpfe, nicht mehr ganzer Massen. Aber dieselben Kräfte, die einstmals thätig waren, sind es auch jetzt noch; und die Form, in der sie wirken, ist genau noch dieselbe geblieben. Der grosse Dichter eines litterarischen Zeitalters ist immer noch Volksdichter und in keinem Sinne weniger als es irgend ein alter Volksdichter in einer illitteraten Periode war. Der einzige Unterschied zwischen beiden betrifft etwas ganz anderes als die Entstehungsart ihrer Dichtungen, nämlich die Fortpflanzung und Verbreitung, kurz die Tradition. Diese ist nämlich ohne Hülfe der fesselnden Buchstaben in ewigem

hier, wo man ihr den Kranz des Genie’s auf das kahle Haupt setzte. Man stellte sich ungefähr vor als ob um einen kleinen Kern herum immer neue Rinden sich ansetzen, man dachte sich jene Massendichtungen etwa entstanden, wie die Lawinen entstehen, nämlich im Laufe, im Fluss der Tradition. Jenen kleinen Kern aber war man geneigt möglichst klein anzunehmen, so dass man ihn auch gelegentlich abrechnen konnte, ohne von der gesammten Masse etwas zu verlieren. Dieser Anschauung ist also Ueberlieferung und Ueberliefertes geradezu dasselbe.

Nun aber existirt in der Wirklichkeit ein solcher Gegensatz von Volksdichtung und Individualdichtung gar nicht: vielmehr braucht alle Dichtung und natürlich auch die Volksdichtung ein vermittelndes Einzelindividuum. Jene meist missbräuchliche Gegenüberstellung hat nur dann einen Sinn, wenn man unter Individualdichtung eine Dichtung versteht, die nicht auf dem Boden volksthümlicher Empfindung erwachsen ist, sondern auf einen unvolksthümlichen Schöpfer zurückgeht, und in unvolksthümlicher Athmosphaere, etwa in der Studirstube des Gelehrten gezeitigt worden ist.

Mit dem Aberglauben, der eine dichtende Masse annimmt, hängt der andere zusammen, dass die Volksdichtung auf einen gegebenen Zeitraum bei jedem Volke beschränkt sei und nachher aussterbe: wie es allerdings in der Konsequenz jenes ersten Aberglaubens liegt. An die Stelle dieser allmählich aussterbenden Volksdichtung tritt nach dieser Vorstellung die Kunstdichtung, das Werk einzelner Köpfe, nicht mehr ganzer Massen. Aber dieselben Kräfte, die einstmals thätig waren, sind es auch jetzt noch; und die Form, in der sie wirken, ist genau noch dieselbe geblieben. Der grosse Dichter eines litterarischen Zeitalters ist immer noch Volksdichter und in keinem Sinne weniger als es irgend ein alter Volksdichter in einer illitteraten Periode war. Der einzige Unterschied zwischen beiden betrifft etwas ganz anderes als die Entstehungsart ihrer Dichtungen, nämlich die Fortpflanzung und Verbreitung, kurz die Tradition. Diese ist nämlich ohne Hülfe der fesselnden Buchstaben in ewigem

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[17/0015] hier, wo man ihr den Kranz des Genie’s auf das kahle Haupt setzte. Man stellte sich ungefähr vor als ob um einen kleinen Kern herum immer neue Rinden sich ansetzen, man dachte sich jene Massendichtungen etwa entstanden, wie die Lawinen entstehen, nämlich im Laufe, im Fluss der Tradition. Jenen kleinen Kern aber war man geneigt möglichst klein anzunehmen, so dass man ihn auch gelegentlich abrechnen konnte, ohne von der gesammten Masse etwas zu verlieren. Dieser Anschauung ist also Ueberlieferung und Ueberliefertes geradezu dasselbe. Nun aber existirt in der Wirklichkeit ein solcher Gegensatz von Volksdichtung und Individualdichtung gar nicht: vielmehr braucht alle Dichtung und natürlich auch die Volksdichtung ein vermittelndes Einzelindividuum. Jene meist missbräuchliche Gegenüberstellung hat nur dann einen Sinn, wenn man unter Individualdichtung eine Dichtung versteht, die nicht auf dem Boden volksthümlicher Empfindung erwachsen ist, sondern auf einen unvolksthümlichen Schöpfer zurückgeht, und in unvolksthümlicher Athmosphaere, etwa in der Studirstube des Gelehrten gezeitigt worden ist. Mit dem Aberglauben, der eine dichtende Masse annimmt, hängt der andere zusammen, dass die Volksdichtung auf einen gegebenen Zeitraum bei jedem Volke beschränkt sei und nachher aussterbe: wie es allerdings in der Konsequenz jenes ersten Aberglaubens liegt. An die Stelle dieser allmählich aussterbenden Volksdichtung tritt nach dieser Vorstellung die Kunstdichtung, das Werk einzelner Köpfe, nicht mehr ganzer Massen. Aber dieselben Kräfte, die einstmals thätig waren, sind es auch jetzt noch; und die Form, in der sie wirken, ist genau noch dieselbe geblieben. Der grosse Dichter eines litterarischen Zeitalters ist immer noch Volksdichter und in keinem Sinne weniger als es irgend ein alter Volksdichter in einer illitteraten Periode war. Der einzige Unterschied zwischen beiden betrifft etwas ganz anderes als die Entstehungsart ihrer Dichtungen, nämlich die Fortpflanzung und Verbreitung, kurz die Tradition. Diese ist nämlich ohne Hülfe der fesselnden Buchstaben in ewigem

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Homer und die klassische Philologie. Basel, 1869, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_homer_1869/15>, abgerufen am 29.03.2024.