Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808.

Bild:
<< vorherige Seite
Wissenschaftl. Gesichtspunkt d. Untersuchung.

Auf dieser einen Seite steht daß System des oben
so benannten Humanismus, das bei aller Würde
und Erhabenheit seiner Ansichten von dem Wesen und
der Bestimmung des Menschen, bei aller Vortrefflich-
keit seiner Forderungen an die Erziehung und Bildung
desselben, gleichwohl von dem Vorwurfe der Einseitig-
keit und Ueberspannung nicht freigesprochen werden
kann, sofern es seiner Grundansicht consequent bleibt.
Es ist wahr, das Unbedingte in dem Menschen ist die
Vernunft, und seine geistige Natur begründet
sein eigentliches Wesen; das Animale hingegen, was
er mit der ganzen übrigen thierischen Welt gemein hat,
wird nicht ohne Grund zu seinem Wesen so wenig ge-
zählt, daß die Benennung der Menschheit, der
Humanität, bloß seine geistige Natur, mit
gänzlicher Abstraction von der animalen, bezeichnet.
Es scheint daher auch vollkommen begründet, daß die
Erziehung und Bildung des Menschen sich, mit Hintan-
setzung seiner niedrigen Natur, ausschließend mit dem
beschäftige, was nicht nur als das Höchste in ihm,
sondern sogar als sein Wesen selbst gedacht wird. Al-
lein der Mensch ist weder jene geistige noch jene ani-
male Natur allein, weder das eine noch das andre
Abstractum allein; und nicht nur der Mensch selbst
wird unrichtig gedacht, wenn er als der eine oder als
der andre unterschiedne Theil seines Wesens allein ge-
dacht wird, sondern auch der eine wie der andre Theil
seines Wesens
wird unrichtig gedacht, wenn er
außer der Verbindung mit dem andern gedacht wird.
Was übrig bleibt, wenn ich in dem Wesen des Men-

Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.

Auf dieſer einen Seite ſteht daß Syſtem des oben
ſo benannten Humaniſmus, das bei aller Wuͤrde
und Erhabenheit ſeiner Anſichten von dem Weſen und
der Beſtimmung des Menſchen, bei aller Vortrefflich-
keit ſeiner Forderungen an die Erziehung und Bildung
deſſelben, gleichwohl von dem Vorwurfe der Einſeitig-
keit und Ueberſpannung nicht freigeſprochen werden
kann, ſofern es ſeiner Grundanſicht conſequent bleibt.
Es iſt wahr, das Unbedingte in dem Menſchen iſt die
Vernunft, und ſeine geiſtige Natur begruͤndet
ſein eigentliches Weſen; das Animale hingegen, was
er mit der ganzen uͤbrigen thieriſchen Welt gemein hat,
wird nicht ohne Grund zu ſeinem Weſen ſo wenig ge-
zaͤhlt, daß die Benennung der Menſchheit, der
Humanitaͤt, bloß ſeine geiſtige Natur, mit
gaͤnzlicher Abſtraction von der animalen, bezeichnet.
Es ſcheint daher auch vollkommen begruͤndet, daß die
Erziehung und Bildung des Menſchen ſich, mit Hintan-
ſetzung ſeiner niedrigen Natur, ausſchließend mit dem
beſchaͤftige, was nicht nur als das Hoͤchſte in ihm,
ſondern ſogar als ſein Weſen ſelbſt gedacht wird. Al-
lein der Menſch iſt weder jene geiſtige noch jene ani-
male Natur allein, weder das eine noch das andre
Abſtractum allein; und nicht nur der Menſch ſelbſt
wird unrichtig gedacht, wenn er als der eine oder als
der andre unterſchiedne Theil ſeines Weſens allein ge-
dacht wird, ſondern auch der eine wie der andre Theil
ſeines Weſens
wird unrichtig gedacht, wenn er
außer der Verbindung mit dem andern gedacht wird.
Was uͤbrig bleibt, wenn ich in dem Weſen des Men-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0051" n="39"/>
            <fw place="top" type="header">Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftl. Ge&#x017F;ichtspunkt d. Unter&#x017F;uchung.</fw><lb/>
            <p>Auf die&#x017F;er einen Seite &#x017F;teht daß Sy&#x017F;tem des oben<lb/>
&#x017F;o benannten <hi rendition="#g">Humani&#x017F;mus</hi>, das bei aller Wu&#x0364;rde<lb/>
und Erhabenheit &#x017F;einer An&#x017F;ichten von dem We&#x017F;en und<lb/>
der Be&#x017F;timmung des Men&#x017F;chen, bei aller Vortrefflich-<lb/>
keit &#x017F;einer Forderungen an die Erziehung und Bildung<lb/>
de&#x017F;&#x017F;elben, gleichwohl von dem Vorwurfe der Ein&#x017F;eitig-<lb/>
keit und Ueber&#x017F;pannung nicht freige&#x017F;prochen werden<lb/>
kann, &#x017F;ofern es &#x017F;einer Grundan&#x017F;icht con&#x017F;equent bleibt.<lb/>
Es i&#x017F;t wahr, das Unbedingte in dem Men&#x017F;chen i&#x017F;t die<lb/><hi rendition="#g">Vernunft</hi>, und &#x017F;eine <hi rendition="#g">gei&#x017F;tige Natur</hi> begru&#x0364;ndet<lb/>
&#x017F;ein eigentliches We&#x017F;en; das <hi rendition="#g">Animale</hi> hingegen, was<lb/>
er mit der ganzen u&#x0364;brigen thieri&#x017F;chen Welt gemein hat,<lb/>
wird nicht ohne Grund zu &#x017F;einem We&#x017F;en &#x017F;o wenig ge-<lb/>
za&#x0364;hlt, daß die Benennung der <hi rendition="#g">Men&#x017F;chheit</hi>, der<lb/><hi rendition="#g">Humanita&#x0364;t</hi>, bloß &#x017F;eine <hi rendition="#g">gei&#x017F;tige Natur</hi>, mit<lb/>
ga&#x0364;nzlicher Ab&#x017F;traction von der animalen, bezeichnet.<lb/>
Es &#x017F;cheint daher auch vollkommen begru&#x0364;ndet, daß die<lb/>
Erziehung und Bildung des Men&#x017F;chen &#x017F;ich, mit Hintan-<lb/>
&#x017F;etzung &#x017F;einer niedrigen Natur, aus&#x017F;chließend mit dem<lb/>
be&#x017F;cha&#x0364;ftige, was nicht nur als das Ho&#x0364;ch&#x017F;te in ihm,<lb/>
&#x017F;ondern &#x017F;ogar als &#x017F;ein We&#x017F;en &#x017F;elb&#x017F;t gedacht wird. Al-<lb/>
lein der Men&#x017F;ch i&#x017F;t weder jene gei&#x017F;tige noch jene ani-<lb/>
male Natur allein, weder das eine noch das andre<lb/>
Ab&#x017F;tractum allein; und nicht nur <hi rendition="#g">der Men&#x017F;ch &#x017F;elb&#x017F;t</hi><lb/>
wird unrichtig gedacht, wenn er als der eine oder als<lb/>
der andre unter&#x017F;chiedne Theil &#x017F;eines We&#x017F;ens allein ge-<lb/>
dacht wird, &#x017F;ondern auch der eine wie der andre <hi rendition="#g">Theil<lb/>
&#x017F;eines We&#x017F;ens</hi> wird unrichtig gedacht, wenn er<lb/>
außer der Verbindung mit dem andern gedacht wird.<lb/>
Was u&#x0364;brig bleibt, wenn ich in dem We&#x017F;en des Men-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[39/0051] Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung. Auf dieſer einen Seite ſteht daß Syſtem des oben ſo benannten Humaniſmus, das bei aller Wuͤrde und Erhabenheit ſeiner Anſichten von dem Weſen und der Beſtimmung des Menſchen, bei aller Vortrefflich- keit ſeiner Forderungen an die Erziehung und Bildung deſſelben, gleichwohl von dem Vorwurfe der Einſeitig- keit und Ueberſpannung nicht freigeſprochen werden kann, ſofern es ſeiner Grundanſicht conſequent bleibt. Es iſt wahr, das Unbedingte in dem Menſchen iſt die Vernunft, und ſeine geiſtige Natur begruͤndet ſein eigentliches Weſen; das Animale hingegen, was er mit der ganzen uͤbrigen thieriſchen Welt gemein hat, wird nicht ohne Grund zu ſeinem Weſen ſo wenig ge- zaͤhlt, daß die Benennung der Menſchheit, der Humanitaͤt, bloß ſeine geiſtige Natur, mit gaͤnzlicher Abſtraction von der animalen, bezeichnet. Es ſcheint daher auch vollkommen begruͤndet, daß die Erziehung und Bildung des Menſchen ſich, mit Hintan- ſetzung ſeiner niedrigen Natur, ausſchließend mit dem beſchaͤftige, was nicht nur als das Hoͤchſte in ihm, ſondern ſogar als ſein Weſen ſelbſt gedacht wird. Al- lein der Menſch iſt weder jene geiſtige noch jene ani- male Natur allein, weder das eine noch das andre Abſtractum allein; und nicht nur der Menſch ſelbſt wird unrichtig gedacht, wenn er als der eine oder als der andre unterſchiedne Theil ſeines Weſens allein ge- dacht wird, ſondern auch der eine wie der andre Theil ſeines Weſens wird unrichtig gedacht, wenn er außer der Verbindung mit dem andern gedacht wird. Was uͤbrig bleibt, wenn ich in dem Weſen des Men-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808/51
Zitationshilfe: Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808/51>, abgerufen am 24.11.2024.