Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Niemeyer, August Hermann: Timotheus. Bd. 1. 2. Aufl. Frankfurt (Main) u.a., 1790.

Bild:
<< vorherige Seite

uns geworden; wie viel Gefahren sind uns vor-
übergegangen; wie hat uns alles, was uns be-
gegnet ist, -- so bald wir nur selbst wollten, zum
Besten dienen können! Es ist große Pflicht, uns
dies, eh das Andenken, wie die Tage selbst, ver-
schwindet, recht lebhaft zu vergegenwärtigen; und
welche süße Pflicht! Verlieren sich denn auch nach
und nach die Endrücke von mancher einzelnen Wohl-
that, die wir in einem solchen Zeitraum genossen,
so bleibt doch wen[igstens] [der] allgemeine Eindruck,
daß am Ende des Jahrs (denn einmal dedurfen wir
solcher Hülfsmittel) unsre Schuld gegen den, dem
wir nichts zuvorgaben, und nichts zu vergelten ver-
mögen, unaussprechlich groß war. Wer nie zurück-
sieht; nie überdenkt, was er empfieng, und wie gar
nichts er fordern konnte, bey dem darf uns die Kälte
gegen Gott wenig befremden. Er nimmt ja alles
wie einen Raub dahin.

Aber wo sollten wir anfangen und aufhören,
wenn wir -- nicht weil es unser Gott bedarf,
sondern um unsrer selbst willen -- für alles danken
wollten? Wer mag zählen, wie oft er ihm Gutes
thut; er, der mit jedem Augenblick unsers erhal-
tenen Daseyns eine Fülle des Segens auf uns
strömt! Wir kennen selbst vielleicht nur die Hälfte

seiner

uns geworden; wie viel Gefahren ſind uns vor-
übergegangen; wie hat uns alles, was uns be-
gegnet iſt, — ſo bald wir nur ſelbſt wollten, zum
Beſten dienen können! Es iſt große Pflicht, uns
dies, eh das Andenken, wie die Tage ſelbſt, ver-
ſchwindet, recht lebhaft zu vergegenwärtigen; und
welche ſüße Pflicht! Verlieren ſich denn auch nach
und nach die Endrücke von mancher einzelnen Wohl-
that, die wir in einem ſolchen Zeitraum genoſſen,
ſo bleibt doch wen[igſtenſ] [der] allgemeine Eindruck,
daß am Ende des Jahrs (denn einmal dedurfen wir
ſolcher Hülfsmittel) unſre Schuld gegen den, dem
wir nichts zuvorgaben, und nichts zu vergelten ver-
mögen, unausſprechlich groß war. Wer nie zurück-
ſieht; nie überdenkt, was er empfieng, und wie gar
nichts er fordern konnte, bey dem darf uns die Kälte
gegen Gott wenig befremden. Er nimmt ja alles
wie einen Raub dahin.

Aber wo ſollten wir anfangen und aufhören,
wenn wir — nicht weil es unſer Gott bedarf,
ſondern um unſrer ſelbſt willen — für alles danken
wollten? Wer mag zählen, wie oft er ihm Gutes
thut; er, der mit jedem Augenblick unſers erhal-
tenen Daſeyns eine Fülle des Segens auf uns
ſtrömt! Wir kennen ſelbſt vielleicht nur die Hälfte

ſeiner
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0074" n="58[70]"/>
uns geworden; wie viel Gefahren &#x017F;ind uns vor-<lb/>
übergegangen; wie hat uns alles, was uns be-<lb/>
gegnet i&#x017F;t, &#x2014; &#x017F;o bald wir nur &#x017F;elb&#x017F;t wollten, zum<lb/>
Be&#x017F;ten dienen können! Es i&#x017F;t große Pflicht, uns<lb/>
dies, eh das Andenken, wie die Tage &#x017F;elb&#x017F;t, ver-<lb/>
&#x017F;chwindet, recht lebhaft zu vergegenwärtigen; und<lb/>
welche &#x017F;üße Pflicht! Verlieren &#x017F;ich denn auch nach<lb/>
und nach die Endrücke von mancher einzelnen Wohl-<lb/>
that, die wir in einem &#x017F;olchen Zeitraum geno&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
&#x017F;o bleibt doch wen<supplied>ig&#x017F;ten&#x017F;</supplied> <supplied>der</supplied> allgemeine Eindruck,<lb/>
daß am Ende des Jahrs (denn einmal dedurfen wir<lb/>
&#x017F;olcher Hülfsmittel) un&#x017F;re Schuld gegen den, dem<lb/>
wir nichts zuvorgaben, und nichts zu vergelten ver-<lb/>
mögen, unaus&#x017F;prechlich groß war. Wer nie zurück-<lb/>
&#x017F;ieht; nie überdenkt, was er empfieng, und wie gar<lb/>
nichts er fordern konnte, bey dem darf uns die Kälte<lb/>
gegen Gott wenig befremden. Er nimmt ja alles<lb/>
wie einen Raub dahin.</p><lb/>
          <p>Aber wo &#x017F;ollten wir anfangen und aufhören,<lb/>
wenn wir &#x2014; nicht weil es un&#x017F;er Gott bedarf,<lb/>
&#x017F;ondern um un&#x017F;rer &#x017F;elb&#x017F;t willen &#x2014; für alles danken<lb/>
wollten? Wer mag zählen, wie oft er ihm Gutes<lb/>
thut; er, der mit jedem Augenblick un&#x017F;ers erhal-<lb/>
tenen Da&#x017F;eyns eine Fülle des Segens auf uns<lb/>
&#x017F;trömt! Wir kennen &#x017F;elb&#x017F;t vielleicht nur die Hälfte<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;einer</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[58[70]/0074] uns geworden; wie viel Gefahren ſind uns vor- übergegangen; wie hat uns alles, was uns be- gegnet iſt, — ſo bald wir nur ſelbſt wollten, zum Beſten dienen können! Es iſt große Pflicht, uns dies, eh das Andenken, wie die Tage ſelbſt, ver- ſchwindet, recht lebhaft zu vergegenwärtigen; und welche ſüße Pflicht! Verlieren ſich denn auch nach und nach die Endrücke von mancher einzelnen Wohl- that, die wir in einem ſolchen Zeitraum genoſſen, ſo bleibt doch wenigſtenſ der allgemeine Eindruck, daß am Ende des Jahrs (denn einmal dedurfen wir ſolcher Hülfsmittel) unſre Schuld gegen den, dem wir nichts zuvorgaben, und nichts zu vergelten ver- mögen, unausſprechlich groß war. Wer nie zurück- ſieht; nie überdenkt, was er empfieng, und wie gar nichts er fordern konnte, bey dem darf uns die Kälte gegen Gott wenig befremden. Er nimmt ja alles wie einen Raub dahin. Aber wo ſollten wir anfangen und aufhören, wenn wir — nicht weil es unſer Gott bedarf, ſondern um unſrer ſelbſt willen — für alles danken wollten? Wer mag zählen, wie oft er ihm Gutes thut; er, der mit jedem Augenblick unſers erhal- tenen Daſeyns eine Fülle des Segens auf uns ſtrömt! Wir kennen ſelbſt vielleicht nur die Hälfte ſeiner

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/niemeyer_timotheus01_1790
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/niemeyer_timotheus01_1790/74
Zitationshilfe: Niemeyer, August Hermann: Timotheus. Bd. 1. 2. Aufl. Frankfurt (Main) u.a., 1790, S. 58[70]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niemeyer_timotheus01_1790/74>, abgerufen am 18.06.2024.