Wie bald kann auch mein Name unter den Namen derer stehen, welche man heut über ein Jahr auf den Todtenlisten lesen wird! Wenn es mir vergönnt wäre, den Vorhang, der von der Zukunft hängt, einen Augenblick aufzuziehen, -- wer bürgt mir da- für, daß ich nicht meine muntern Kräfte verzehrt, meine Jugend verwelkt, meine Thätigkeit erschlafft, meine Freunde um meine Krankenbette versammelt, und mein Grab bereitet sähe! Allen meinen itzigen Entwürfen und Aussichten, allen meinen Vorsätzen, was ich noch thun will, kann ein Tag dieses Jahrs, ein zu kühler Abend, ein zu hastiger Trunk, ein fallender Stein, ein überwältigender Schreck plötz- lich ein Ende machen."
Es würde Schwermuth, und unweislich er- nährte Schwermuth seyn, sich immer mit diesen Gedanken beschäfftigen zu wollen. Aber Weisheit ist es, sie sich zuweilen nicht mit Aengstlichkeit, aber mit ernster und tiefer Beherzigung des Lehr- reichen, so daraus fließt, zu vergegenwärtigen. Die Vorstellung des Todes gleicht auch nicht jeder andern Vorstellung künftiger Uebel. Denn alle diese sind zufällig und ungewiß; jene ist nothwendig und unausbleiblich. Diese abzuwenden, oder zu mindern, ist in den meisten Fällen unmöglich;
jenem
D 2
Wie bald kann auch mein Name unter den Namen derer ſtehen, welche man heut über ein Jahr auf den Todtenliſten leſen wird! Wenn es mir vergönnt wäre, den Vorhang, der von der Zukunft hängt, einen Augenblick aufzuziehen, — wer bürgt mir da- für, daß ich nicht meine muntern Kräfte verzehrt, meine Jugend verwelkt, meine Thätigkeit erſchlafft, meine Freunde um meine Krankenbette verſammelt, und mein Grab bereitet ſähe! Allen meinen itzigen Entwürfen und Ausſichten, allen meinen Vorſätzen, was ich noch thun will, kann ein Tag dieſes Jahrs, ein zu kühler Abend, ein zu haſtiger Trunk, ein fallender Stein, ein überwältigender Schreck plötz- lich ein Ende machen.“
Es würde Schwermuth, und unweislich er- nährte Schwermuth ſeyn, ſich immer mit dieſen Gedanken beſchäfftigen zu wollen. Aber Weisheit iſt es, ſie ſich zuweilen nicht mit Aengſtlichkeit, aber mit ernſter und tiefer Beherzigung des Lehr- reichen, ſo daraus fließt, zu vergegenwärtigen. Die Vorſtellung des Todes gleicht auch nicht jeder andern Vorſtellung künftiger Uebel. Denn alle dieſe ſind zufällig und ungewiß; jene iſt nothwendig und unausbleiblich. Dieſe abzuwenden, oder zu mindern, iſt in den meiſten Fällen unmöglich;
jenem
D 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0067"n="51[63]"/>
Wie bald kann auch mein Name unter den Namen<lb/>
derer ſtehen, welche man heut über ein Jahr auf den<lb/>
Todtenliſten leſen wird! Wenn es mir vergönnt<lb/>
wäre, den Vorhang, der von der Zukunft hängt,<lb/>
einen Augenblick aufzuziehen, — wer bürgt mir da-<lb/>
für, daß ich nicht meine muntern Kräfte verzehrt,<lb/>
meine Jugend verwelkt, meine Thätigkeit erſchlafft,<lb/>
meine Freunde um meine Krankenbette verſammelt,<lb/>
und mein Grab bereitet ſähe! Allen meinen itzigen<lb/>
Entwürfen und Ausſichten, allen meinen Vorſätzen,<lb/>
was ich noch thun will, kann <hirendition="#fr">ein</hi> Tag dieſes Jahrs,<lb/><hirendition="#fr">ein</hi> zu kühler Abend, <hirendition="#fr">ein</hi> zu haſtiger Trunk, <hirendition="#fr">ein</hi><lb/>
fallender Stein, <hirendition="#fr">ein</hi> überwältigender Schreck plötz-<lb/>
lich ein Ende machen.“</p><lb/><p>Es würde <hirendition="#fr">Schwermuth,</hi> und unweislich er-<lb/>
nährte Schwermuth ſeyn, ſich immer mit dieſen<lb/>
Gedanken beſchäfftigen zu wollen. Aber Weisheit<lb/>
iſt es, ſie ſich zuweilen nicht mit Aengſtlichkeit,<lb/>
aber mit ernſter und tiefer Beherzigung des Lehr-<lb/>
reichen, ſo daraus fließt, zu vergegenwärtigen.<lb/>
Die Vorſtellung des Todes gleicht auch nicht jeder<lb/>
andern Vorſtellung künftiger Uebel. Denn alle<lb/>
dieſe ſind zufällig und ungewiß; jene iſt nothwendig<lb/>
und unausbleiblich. Dieſe abzuwenden, oder zu<lb/>
mindern, iſt in den meiſten Fällen unmöglich;<lb/><fwplace="bottom"type="sig">D 2</fw><fwplace="bottom"type="catch">jenem</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[51[63]/0067]
Wie bald kann auch mein Name unter den Namen
derer ſtehen, welche man heut über ein Jahr auf den
Todtenliſten leſen wird! Wenn es mir vergönnt
wäre, den Vorhang, der von der Zukunft hängt,
einen Augenblick aufzuziehen, — wer bürgt mir da-
für, daß ich nicht meine muntern Kräfte verzehrt,
meine Jugend verwelkt, meine Thätigkeit erſchlafft,
meine Freunde um meine Krankenbette verſammelt,
und mein Grab bereitet ſähe! Allen meinen itzigen
Entwürfen und Ausſichten, allen meinen Vorſätzen,
was ich noch thun will, kann ein Tag dieſes Jahrs,
ein zu kühler Abend, ein zu haſtiger Trunk, ein
fallender Stein, ein überwältigender Schreck plötz-
lich ein Ende machen.“
Es würde Schwermuth, und unweislich er-
nährte Schwermuth ſeyn, ſich immer mit dieſen
Gedanken beſchäfftigen zu wollen. Aber Weisheit
iſt es, ſie ſich zuweilen nicht mit Aengſtlichkeit,
aber mit ernſter und tiefer Beherzigung des Lehr-
reichen, ſo daraus fließt, zu vergegenwärtigen.
Die Vorſtellung des Todes gleicht auch nicht jeder
andern Vorſtellung künftiger Uebel. Denn alle
dieſe ſind zufällig und ungewiß; jene iſt nothwendig
und unausbleiblich. Dieſe abzuwenden, oder zu
mindern, iſt in den meiſten Fällen unmöglich;
jenem
D 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Niemeyer, August Hermann: Timotheus. Bd. 1. 2. Aufl. Frankfurt (Main) u.a., 1790, S. 51[63]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niemeyer_timotheus01_1790/67>, abgerufen am 18.06.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.