Oder meynen wir vielleicht, daß selbst diese Vorstellung nur ein schönes, aber leider bloß täu- schendes Bild ohne innere Wahrheit sey? Daß in einem Zustande von Bewußtlosigkeit auch die Ruhe nichts erquickendes haben könne, und daß ja doch we- nigstens unser Körper nichts von diesem Ausruhen empfinden werde? -- -- So müßte auch der Schlaf, dem doch jeder Ermüdete gern entgegen sieht, nichts angenehmes seyn? Oder man müßte das Aufhören von Pein und Unruhe für nichts rechnen? Und end- lich -- wäre das Grab auch nur das Erinnerungs- zeichen, daß der Geist des Menschen, dessen Leib man da begraben habe, nun zu Gottes Ruhe einge- gangen sey, wenn er ihrer werth war, -- würde es noch immer Täuschung seyn, wenn man sich mehr seiner freute, als darüber trauerte?
Erst da hatte Jesus seinen Geist in die Hände seines Vaters niedergelegt, als seine Zurückgelaßnen an sein Grab denken mußten. Denn sterbend be- fahl er ihn diesen Händen. Wir mögen dieß ver- stehen wie wir wollen -- einen frohern ungehemm- tern Genuß der göttlichen Liebe, einen verbessertern und seligern Zustand, ein freudiges Gefühl aus den Händen undankbarer, feindseliger und unge- rechter Menschen in bessere Hände gekommen zu
seyn,
Oder meynen wir vielleicht, daß ſelbſt dieſe Vorſtellung nur ein ſchönes, aber leider bloß täu- ſchendes Bild ohne innere Wahrheit ſey? Daß in einem Zuſtande von Bewußtloſigkeit auch die Ruhe nichts erquickendes haben könne, und daß ja doch we- nigſtens unſer Körper nichts von dieſem Ausruhen empfinden werde? — — So müßte auch der Schlaf, dem doch jeder Ermüdete gern entgegen ſieht, nichts angenehmes ſeyn? Oder man müßte das Aufhören von Pein und Unruhe für nichts rechnen? Und end- lich — wäre das Grab auch nur das Erinnerungs- zeichen, daß der Geiſt des Menſchen, deſſen Leib man da begraben habe, nun zu Gottes Ruhe einge- gangen ſey, wenn er ihrer werth war, — würde es noch immer Täuſchung ſeyn, wenn man ſich mehr ſeiner freute, als darüber trauerte?
Erſt da hatte Jeſus ſeinen Geiſt in die Hände ſeines Vaters niedergelegt, als ſeine Zurückgelaßnen an ſein Grab denken mußten. Denn ſterbend be- fahl er ihn dieſen Händen. Wir mögen dieß ver- ſtehen wie wir wollen — einen frohern ungehemm- tern Genuß der göttlichen Liebe, einen verbeſſertern und ſeligern Zuſtand, ein freudiges Gefühl aus den Händen undankbarer, feindſeliger und unge- rechter Menſchen in beſſere Hände gekommen zu
ſeyn,
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Oder meynen wir vielleicht, daß ſelbſt dieſe
Vorſtellung nur ein ſchönes, aber leider bloß täu-
ſchendes Bild ohne innere Wahrheit ſey? Daß in
einem Zuſtande von Bewußtloſigkeit auch die Ruhe
nichts erquickendes haben könne, und daß ja doch we-
nigſtens unſer Körper nichts von dieſem Ausruhen
empfinden werde? — — So müßte auch der Schlaf,
dem doch jeder Ermüdete gern entgegen ſieht, nichts
angenehmes ſeyn? Oder man müßte das Aufhören
von Pein und Unruhe für nichts rechnen? Und end-
lich — wäre das Grab auch nur das Erinnerungs-
zeichen, daß der Geiſt des Menſchen, deſſen Leib
man da begraben habe, nun zu Gottes Ruhe einge-
gangen ſey, wenn er ihrer werth war, — würde es
noch immer Täuſchung ſeyn, wenn man ſich mehr
ſeiner freute, als darüber trauerte?
Erſt da hatte Jeſus ſeinen Geiſt in die Hände
ſeines Vaters niedergelegt, als ſeine Zurückgelaßnen
an ſein Grab denken mußten. Denn ſterbend be-
fahl er ihn dieſen Händen. Wir mögen dieß ver-
ſtehen wie wir wollen — einen frohern ungehemm-
tern Genuß der göttlichen Liebe, einen verbeſſertern
und ſeligern Zuſtand, ein freudiges Gefühl aus
den Händen undankbarer, feindſeliger und unge-
rechter Menſchen in beſſere Hände gekommen zu
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Niemeyer, August Hermann: Timotheus. Bd. 1. 2. Aufl. Frankfurt (Main) u.a., 1790, S. 160[172]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niemeyer_timotheus01_1790/176>, abgerufen am 26.06.2024.
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