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Niemeyer, August Hermann: Timotheus. Bd. 1. 2. Aufl. Frankfurt (Main) u.a., 1790.

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So ist also die Kindheit und das vereinigte
Wachsen des Körpers und Geistes ein sichrer, unver-
kennbarer Wink, welcher Ausbildung wir fähig sind;
zumal wenn wir bemerken, wie wenig mir der er-
reichten Reife des Körpers unser Geist die Höhe er-
reicht hat, nach der er strebt und deren er fähig ist.
Nur bey dem Körper ist die Kindheit etwas, das
sich nach Jahren berechnen oder dessen Grenze sich
bestimmen läßt. Nicht so bey dem Geist. Dem
Manne sehen seine Jünglingskenntnisse und Begriffe
oft noch sehr kindisch aus; und dem erfahrnen Greise
kömmt manches, was er in seinen besten Jahren
noch für Weisheit hielt, nicht viel besser vor. Man
hat schon oft unser ganzes irdisches Leben mit einem
Zustande der Kindheit verglichen, wenn man es im
Verhältniß mit jenem höhern betrachtet. Und was
kann wahrer als die Vergleichung seyn?

Außer diesen Vorzügen unsrer Natur, die eben
aus diesem stufenweisen Erwachsen entstehen, laßt
uns auch die Freuden, die sich darauf gründen,
nicht vergessen! In einem gewissen Verstande, ist
doch die Zeit der Kindheit und Jugend die glück-
lichste des ganzen Lebens, und schon in so fern kann
kein Mensch sagen, daß er lauter böse Tage auf der
Welt gehabt habe. Er war doch ein Kind, und

ein
G 3

So iſt alſo die Kindheit und das vereinigte
Wachſen des Körpers und Geiſtes ein ſichrer, unver-
kennbarer Wink, welcher Ausbildung wir fähig ſind;
zumal wenn wir bemerken, wie wenig mir der er-
reichten Reife des Körpers unſer Geiſt die Höhe er-
reicht hat, nach der er ſtrebt und deren er fähig iſt.
Nur bey dem Körper iſt die Kindheit etwas, das
ſich nach Jahren berechnen oder deſſen Grenze ſich
beſtimmen läßt. Nicht ſo bey dem Geiſt. Dem
Manne ſehen ſeine Jünglingskenntniſſe und Begriffe
oft noch ſehr kindiſch aus; und dem erfahrnen Greiſe
kömmt manches, was er in ſeinen beſten Jahren
noch für Weisheit hielt, nicht viel beſſer vor. Man
hat ſchon oft unſer ganzes irdiſches Leben mit einem
Zuſtande der Kindheit verglichen, wenn man es im
Verhältniß mit jenem höhern betrachtet. Und was
kann wahrer als die Vergleichung ſeyn?

Außer dieſen Vorzügen unſrer Natur, die eben
aus dieſem ſtufenweiſen Erwachſen entſtehen, laßt
uns auch die Freuden, die ſich darauf gründen,
nicht vergeſſen! In einem gewiſſen Verſtande, iſt
doch die Zeit der Kindheit und Jugend die glück-
lichſte des ganzen Lebens, und ſchon in ſo fern kann
kein Menſch ſagen, daß er lauter böſe Tage auf der
Welt gehabt habe. Er war doch ein Kind, und

ein
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[101[113]/0117] So iſt alſo die Kindheit und das vereinigte Wachſen des Körpers und Geiſtes ein ſichrer, unver- kennbarer Wink, welcher Ausbildung wir fähig ſind; zumal wenn wir bemerken, wie wenig mir der er- reichten Reife des Körpers unſer Geiſt die Höhe er- reicht hat, nach der er ſtrebt und deren er fähig iſt. Nur bey dem Körper iſt die Kindheit etwas, das ſich nach Jahren berechnen oder deſſen Grenze ſich beſtimmen läßt. Nicht ſo bey dem Geiſt. Dem Manne ſehen ſeine Jünglingskenntniſſe und Begriffe oft noch ſehr kindiſch aus; und dem erfahrnen Greiſe kömmt manches, was er in ſeinen beſten Jahren noch für Weisheit hielt, nicht viel beſſer vor. Man hat ſchon oft unſer ganzes irdiſches Leben mit einem Zuſtande der Kindheit verglichen, wenn man es im Verhältniß mit jenem höhern betrachtet. Und was kann wahrer als die Vergleichung ſeyn? Außer dieſen Vorzügen unſrer Natur, die eben aus dieſem ſtufenweiſen Erwachſen entſtehen, laßt uns auch die Freuden, die ſich darauf gründen, nicht vergeſſen! In einem gewiſſen Verſtande, iſt doch die Zeit der Kindheit und Jugend die glück- lichſte des ganzen Lebens, und ſchon in ſo fern kann kein Menſch ſagen, daß er lauter böſe Tage auf der Welt gehabt habe. Er war doch ein Kind, und ein G 3

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Zitationshilfe: Niemeyer, August Hermann: Timotheus. Bd. 1. 2. Aufl. Frankfurt (Main) u.a., 1790, S. 101[113]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niemeyer_timotheus01_1790/117>, abgerufen am 22.11.2024.