berührt; und vom Feinde keine Spur. Die Entdeckung vollendete den Abscheu der Armee; aber so mächtig ist die Gewohnheit des Gehorsams, und so stark betäubt einfältige Gemüther eine dreiste Abläugnung, auch ge- gen allen Augenschein, daß ein feyerliches Leichenbegäng- niß womit die Decemvirn das Andenken des Todten zu feyern vorgaben, die Gährung für jetzt noch be- sänftigte.
Die Annalisten haben L. Siccius den römischen Achilles genannt; wir können ihn füglicher den römi- schen Roland nennen, auch deswegen weil er wie die- ser Held der wälschen Dichtung durch Verrath fiel. Den Heroen der griechischen Poesie darf kein Krieger eines historischen Zeitalters: kein römischer Hauptmann dem Peliden verglichen werden.
Es scheint daß die Decemvirn sich nie sichrer wähn- ten als damals, da alle Bande zwischen der Nation und ihnen durch dieses Verbrechen zerrissen waren. Fre- velhafte Mißhandlungen der Weiber und Töchter der Unterthanen waren häufig in den Oligarchieen des Al- terthums 41), und gewöhnlich die Veranlassung der Revolutionen worin sie untergingen: wie in entlegnen Ländern wo die Leibeigenschaft in der schrecklichsten Ge- stalt besteht, noch jetzt gleiche Verbrechen gegen die Wehrlosen nicht selten sind, manchmal aber zur Ermor- dung des Gutsherrn geführt haben. Appius Claudius hatte lüsterne Blicke auf ein schönes Mädchen gewor- fen, die Tochter eines würdigen Hauptmanns L. Vir-
41) Polybius VI. c. 8.
J 2
beruͤhrt; und vom Feinde keine Spur. Die Entdeckung vollendete den Abſcheu der Armee; aber ſo maͤchtig iſt die Gewohnheit des Gehorſams, und ſo ſtark betaͤubt einfaͤltige Gemuͤther eine dreiſte Ablaͤugnung, auch ge- gen allen Augenſchein, daß ein feyerliches Leichenbegaͤng- niß womit die Decemvirn das Andenken des Todten zu feyern vorgaben, die Gaͤhrung fuͤr jetzt noch be- ſaͤnftigte.
Die Annaliſten haben L. Siccius den roͤmiſchen Achilles genannt; wir koͤnnen ihn fuͤglicher den roͤmi- ſchen Roland nennen, auch deswegen weil er wie die- ſer Held der waͤlſchen Dichtung durch Verrath fiel. Den Heroen der griechiſchen Poeſie darf kein Krieger eines hiſtoriſchen Zeitalters: kein roͤmiſcher Hauptmann dem Peliden verglichen werden.
Es ſcheint daß die Decemvirn ſich nie ſichrer waͤhn- ten als damals, da alle Bande zwiſchen der Nation und ihnen durch dieſes Verbrechen zerriſſen waren. Fre- velhafte Mißhandlungen der Weiber und Toͤchter der Unterthanen waren haͤufig in den Oligarchieen des Al- terthums 41), und gewoͤhnlich die Veranlaſſung der Revolutionen worin ſie untergingen: wie in entlegnen Laͤndern wo die Leibeigenſchaft in der ſchrecklichſten Ge- ſtalt beſteht, noch jetzt gleiche Verbrechen gegen die Wehrloſen nicht ſelten ſind, manchmal aber zur Ermor- dung des Gutsherrn gefuͤhrt haben. Appius Claudius hatte luͤſterne Blicke auf ein ſchoͤnes Maͤdchen gewor- fen, die Tochter eines wuͤrdigen Hauptmanns L. Vir-
41) Polybius VI. c. 8.
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beruͤhrt; und vom Feinde keine Spur. Die Entdeckung
vollendete den Abſcheu der Armee; aber ſo maͤchtig iſt
die Gewohnheit des Gehorſams, und ſo ſtark betaͤubt
einfaͤltige Gemuͤther eine dreiſte Ablaͤugnung, auch ge-
gen allen Augenſchein, daß ein feyerliches Leichenbegaͤng-
niß womit die Decemvirn das Andenken des Todten
zu feyern vorgaben, die Gaͤhrung fuͤr jetzt noch be-
ſaͤnftigte.
Die Annaliſten haben L. Siccius den roͤmiſchen
Achilles genannt; wir koͤnnen ihn fuͤglicher den roͤmi-
ſchen Roland nennen, auch deswegen weil er wie die-
ſer Held der waͤlſchen Dichtung durch Verrath fiel.
Den Heroen der griechiſchen Poeſie darf kein Krieger
eines hiſtoriſchen Zeitalters: kein roͤmiſcher Hauptmann
dem Peliden verglichen werden.
Es ſcheint daß die Decemvirn ſich nie ſichrer waͤhn-
ten als damals, da alle Bande zwiſchen der Nation
und ihnen durch dieſes Verbrechen zerriſſen waren. Fre-
velhafte Mißhandlungen der Weiber und Toͤchter der
Unterthanen waren haͤufig in den Oligarchieen des Al-
terthums 41), und gewoͤhnlich die Veranlaſſung der
Revolutionen worin ſie untergingen: wie in entlegnen
Laͤndern wo die Leibeigenſchaft in der ſchrecklichſten Ge-
ſtalt beſteht, noch jetzt gleiche Verbrechen gegen die
Wehrloſen nicht ſelten ſind, manchmal aber zur Ermor-
dung des Gutsherrn gefuͤhrt haben. Appius Claudius
hatte luͤſterne Blicke auf ein ſchoͤnes Maͤdchen gewor-
fen, die Tochter eines wuͤrdigen Hauptmanns L. Vir-
41) Polybius VI. c. 8.
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Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/147>, abgerufen am 08.05.2024.
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