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Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811.

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Wie der Verderber Collatia verlassen hatte, sandte
Lucretia Boten an ihren Mann in das Lager, an ihren al-
ten Vater nach Rom, daß eilig jeder mit einem vertrauten
Freunde nach Collatia komme 84). Sp. Lucretius nahm
mit sich P. Valerius, der sich nachher den Beynahmen
Publicola erwarb; Collatinus den verachteten Brutus.
Sie fanden die trostlose Frau mit Trauerkleidern ange-
than, in stummer Betäubung sitzend. Der Anblick der
lange ersehnten gab ihr Thränen und Worte. Sie klagte
den Verbrecher an: sie empfing den Schwur der Rache,
und gerechtfertigt stieß sie sich ein Messer in das Herz; sich
selbst und den Zerstörer ihres Friedens dem Untergang wei-
hend, wie Consuln das feindliche Heer mit sich selbst den
Todesgöttern weihten, und in den Tod stürzten. Da
warf Brutus die Verstellung von sich, wie Odysseus den
Bettlermantel. Er riß das blutige Messer aus Lucretias
Brust, schwur und nahm den Schwur seiner Freunde,
Tarquinius und sein verruchtes Haus mit Schwerd, Feuer

84) Während des Zeitraums der mythischen Geschichte wäre es
widersinnig die Abweichungen andrer von Livius Erzählung
zu sammeln, welche durchaus mit reinem Gefühl die schönste
Dichtung erhalten hat. So erzählt Dionysius auch die Ge-
schichte von Lucretias Tode ganz verschieden und weit
schlechter. Eine merkwürdigere Vergleichung gewährt Ovids
feine aber ganz herzlose Erzählung (Fast. II. v. 685--852.),
eine Erzählung welche fast noch mehr als irgend ein an-
drer Theil seiner Gedichte ihr Verhältniß zur modernen
Litteratur und unser Urtheil über ihn entscheidet, mit der
herrlichen des Livius, welche das erste Buch, das Meister-
werk seiner ganzen Geschichte, krönt.

Wie der Verderber Collatia verlaſſen hatte, ſandte
Lucretia Boten an ihren Mann in das Lager, an ihren al-
ten Vater nach Rom, daß eilig jeder mit einem vertrauten
Freunde nach Collatia komme 84). Sp. Lucretius nahm
mit ſich P. Valerius, der ſich nachher den Beynahmen
Publicola erwarb; Collatinus den verachteten Brutus.
Sie fanden die troſtloſe Frau mit Trauerkleidern ange-
than, in ſtummer Betaͤubung ſitzend. Der Anblick der
lange erſehnten gab ihr Thraͤnen und Worte. Sie klagte
den Verbrecher an: ſie empfing den Schwur der Rache,
und gerechtfertigt ſtieß ſie ſich ein Meſſer in das Herz; ſich
ſelbſt und den Zerſtoͤrer ihres Friedens dem Untergang wei-
hend, wie Conſuln das feindliche Heer mit ſich ſelbſt den
Todesgoͤttern weihten, und in den Tod ſtuͤrzten. Da
warf Brutus die Verſtellung von ſich, wie Odyſſeus den
Bettlermantel. Er riß das blutige Meſſer aus Lucretias
Bruſt, ſchwur und nahm den Schwur ſeiner Freunde,
Tarquinius und ſein verruchtes Haus mit Schwerd, Feuer

84) Waͤhrend des Zeitraums der mythiſchen Geſchichte waͤre es
widerſinnig die Abweichungen andrer von Livius Erzaͤhlung
zu ſammeln, welche durchaus mit reinem Gefuͤhl die ſchoͤnſte
Dichtung erhalten hat. So erzaͤhlt Dionyſius auch die Ge-
ſchichte von Lucretias Tode ganz verſchieden und weit
ſchlechter. Eine merkwuͤrdigere Vergleichung gewaͤhrt Ovids
feine aber ganz herzloſe Erzaͤhlung (Fast. II. v. 685—852.),
eine Erzaͤhlung welche faſt noch mehr als irgend ein an-
drer Theil ſeiner Gedichte ihr Verhaͤltniß zur modernen
Litteratur und unſer Urtheil uͤber ihn entſcheidet, mit der
herrlichen des Livius, welche das erſte Buch, das Meiſter-
werk ſeiner ganzen Geſchichte, kroͤnt.
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[319/0341] Wie der Verderber Collatia verlaſſen hatte, ſandte Lucretia Boten an ihren Mann in das Lager, an ihren al- ten Vater nach Rom, daß eilig jeder mit einem vertrauten Freunde nach Collatia komme 84). Sp. Lucretius nahm mit ſich P. Valerius, der ſich nachher den Beynahmen Publicola erwarb; Collatinus den verachteten Brutus. Sie fanden die troſtloſe Frau mit Trauerkleidern ange- than, in ſtummer Betaͤubung ſitzend. Der Anblick der lange erſehnten gab ihr Thraͤnen und Worte. Sie klagte den Verbrecher an: ſie empfing den Schwur der Rache, und gerechtfertigt ſtieß ſie ſich ein Meſſer in das Herz; ſich ſelbſt und den Zerſtoͤrer ihres Friedens dem Untergang wei- hend, wie Conſuln das feindliche Heer mit ſich ſelbſt den Todesgoͤttern weihten, und in den Tod ſtuͤrzten. Da warf Brutus die Verſtellung von ſich, wie Odyſſeus den Bettlermantel. Er riß das blutige Meſſer aus Lucretias Bruſt, ſchwur und nahm den Schwur ſeiner Freunde, Tarquinius und ſein verruchtes Haus mit Schwerd, Feuer 84) Waͤhrend des Zeitraums der mythiſchen Geſchichte waͤre es widerſinnig die Abweichungen andrer von Livius Erzaͤhlung zu ſammeln, welche durchaus mit reinem Gefuͤhl die ſchoͤnſte Dichtung erhalten hat. So erzaͤhlt Dionyſius auch die Ge- ſchichte von Lucretias Tode ganz verſchieden und weit ſchlechter. Eine merkwuͤrdigere Vergleichung gewaͤhrt Ovids feine aber ganz herzloſe Erzaͤhlung (Fast. II. v. 685—852.), eine Erzaͤhlung welche faſt noch mehr als irgend ein an- drer Theil ſeiner Gedichte ihr Verhaͤltniß zur modernen Litteratur und unſer Urtheil uͤber ihn entſcheidet, mit der herrlichen des Livius, welche das erſte Buch, das Meiſter- werk ſeiner ganzen Geſchichte, kroͤnt.

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Zitationshilfe: Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811/341>, abgerufen am 25.11.2024.