tes Volk zu nennen. Der griechische Ursprung der Sibyl- lengedichte wird endlich aus den Antworten klar, welche die Republik aus ihnen empfing. Sie gebieten stets die Verehrung griechischer Gottheiten, und nach griechi- schem Ritus opfern war gleichbedeutend mit auf Ge- bot der Sibyllinischen Bücher Opfer bringen.
Schwer übrigens ist es zu begreifen wie man bey einem bestimmten Fall eine Antwort in diesen Büchern suchte. Die einzige denkbare Art des Verfahrens scheint zu seyn daß die Vorsteher thaten wie die Morgenländer wenn sie den Koran oder Hafis befragen, wie die alten Christen die Bibel als Orakel befragten: durch Aufschla- gen, oder Aufrollen, nach vorhergehendem Gebet, mit Beachtung der ersten in das Auge fallenden Stelle.
Ganz verschieden von den Sibyllinischen waren die Schicksalsbücher (libri fatales) welche Menschenopfer ge- boten. Auf ihr Geheiß wurden mehr als einmal in ge- fahrvollen Kriegen ein Gallier und eine Gallierin, ein Grieche und eine Griechin auf dem Viehmarkt zu Rom le- bendig begraben. Dies war vermuthlich ein Versuch das Schicksal zu täuschen, wenn es beschlossen hätte daß eine dieser Nationen, der Erbfeinde der Etrusker, ihr Land einnehmen sollte, wie das Orakel zu Brundusium dadurch erfüllt ward daß man die erschlagnen Arpanischen Abge- ordneten in der Stadt begrub 79), und die Sage der Pränestiner durch die Verhaftung ihrer Deputirten im Aerarium zu Rom. Denn daß die Schicksalsbücher, de- nen Rom bey der Vollbringung dieser Gräuel gehorchte,
79) Justinus XII. c. 2.
tes Volk zu nennen. Der griechiſche Urſprung der Sibyl- lengedichte wird endlich aus den Antworten klar, welche die Republik aus ihnen empfing. Sie gebieten ſtets die Verehrung griechiſcher Gottheiten, und nach griechi- ſchem Ritus opfern war gleichbedeutend mit auf Ge- bot der Sibylliniſchen Buͤcher Opfer bringen.
Schwer uͤbrigens iſt es zu begreifen wie man bey einem beſtimmten Fall eine Antwort in dieſen Buͤchern ſuchte. Die einzige denkbare Art des Verfahrens ſcheint zu ſeyn daß die Vorſteher thaten wie die Morgenlaͤnder wenn ſie den Koran oder Hafis befragen, wie die alten Chriſten die Bibel als Orakel befragten: durch Aufſchla- gen, oder Aufrollen, nach vorhergehendem Gebet, mit Beachtung der erſten in das Auge fallenden Stelle.
Ganz verſchieden von den Sibylliniſchen waren die Schickſalsbuͤcher (libri fatales) welche Menſchenopfer ge- boten. Auf ihr Geheiß wurden mehr als einmal in ge- fahrvollen Kriegen ein Gallier und eine Gallierin, ein Grieche und eine Griechin auf dem Viehmarkt zu Rom le- bendig begraben. Dies war vermuthlich ein Verſuch das Schickſal zu taͤuſchen, wenn es beſchloſſen haͤtte daß eine dieſer Nationen, der Erbfeinde der Etrusker, ihr Land einnehmen ſollte, wie das Orakel zu Brunduſium dadurch erfuͤllt ward daß man die erſchlagnen Arpaniſchen Abge- ordneten in der Stadt begrub 79), und die Sage der Praͤneſtiner durch die Verhaftung ihrer Deputirten im Aerarium zu Rom. Denn daß die Schickſalsbuͤcher, de- nen Rom bey der Vollbringung dieſer Graͤuel gehorchte,
79) Juſtinus XII. c. 2.
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tes Volk zu nennen. Der griechiſche Urſprung der Sibyl-
lengedichte wird endlich aus den Antworten klar, welche
die Republik aus ihnen empfing. Sie gebieten ſtets die
Verehrung griechiſcher Gottheiten, und nach griechi-
ſchem Ritus opfern war gleichbedeutend mit auf Ge-
bot der Sibylliniſchen Buͤcher Opfer bringen.
Schwer uͤbrigens iſt es zu begreifen wie man bey
einem beſtimmten Fall eine Antwort in dieſen Buͤchern
ſuchte. Die einzige denkbare Art des Verfahrens ſcheint
zu ſeyn daß die Vorſteher thaten wie die Morgenlaͤnder
wenn ſie den Koran oder Hafis befragen, wie die alten
Chriſten die Bibel als Orakel befragten: durch Aufſchla-
gen, oder Aufrollen, nach vorhergehendem Gebet, mit
Beachtung der erſten in das Auge fallenden Stelle.
Ganz verſchieden von den Sibylliniſchen waren die
Schickſalsbuͤcher (libri fatales) welche Menſchenopfer ge-
boten. Auf ihr Geheiß wurden mehr als einmal in ge-
fahrvollen Kriegen ein Gallier und eine Gallierin, ein
Grieche und eine Griechin auf dem Viehmarkt zu Rom le-
bendig begraben. Dies war vermuthlich ein Verſuch das
Schickſal zu taͤuſchen, wenn es beſchloſſen haͤtte daß eine
dieſer Nationen, der Erbfeinde der Etrusker, ihr Land
einnehmen ſollte, wie das Orakel zu Brunduſium dadurch
erfuͤllt ward daß man die erſchlagnen Arpaniſchen Abge-
ordneten in der Stadt begrub 79), und die Sage der
Praͤneſtiner durch die Verhaftung ihrer Deputirten im
Aerarium zu Rom. Denn daß die Schickſalsbuͤcher, de-
nen Rom bey der Vollbringung dieſer Graͤuel gehorchte,
79) Juſtinus XII. c. 2.
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Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811, S. 312. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811/334>, abgerufen am 22.11.2024.
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