Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811.

Bild:
<< vorherige Seite

nossen hat, durchlebt werden mußten. Widernatürlich
zusammengepreßt wären die eigenthümlichen und natur-
gemäßen Formen im Keim entstellt und zerstört worden:
Rom hätte Revolutionen erlebt die nur vernichten, aus
denen nur als aus einer Gährung ein fremdartiges Neues
entstehen kann. Glück war es ebenfalls und Weisheit zu-
gleich daß die Constitution des Servius seinem tyranni-
schen Nachfolger theils schon zu mächtig war als daß
er sie bis in die Form zu vernichten hätte wagen kön-
nen: theils den allgemeinen Zwecken des Staats, der
Macht und Größe zu günstig als daß ein kluger Fürst,
wie es Tarquinius unläugbar war, hätte wünschen kön-
nen sie mit schwächenden Einrichtungen wieder zu ver-
tauschen.

Es ist ein überraschendes Glück daß eine Nachricht
über die ursprüngliche Einrichtung der Tribus des Königs
Servius, welche durch die Verfälschung der folgenden
Geschichte den Späteren unverständlich und unglaublich
geworden ist, aber alle Züge der Wahrheit hat, wenn
man über jene Verfälschung nicht blind seyn will, sich in
zwey verschiedenen, genau harmonirenden Zeugnissen er-
halten hat.

Livius meldet nur von den vier Tribus, worin Ser-
vius das Volk der Stadt eintheilte, ohne der ländlichen
zu gedenken, von denen durch die Aelteren Zahlen angege-
ben wurden, deren Widerstreit mit den Angaben aus der
Zeit der Republik denen er im Fortgang seines Werks
folgte ihm unauflößlich geschienen haben muß. Schon
Cato, wenn Sigonius den höchst verderbten Text des Dio-

noſſen hat, durchlebt werden mußten. Widernatuͤrlich
zuſammengepreßt waͤren die eigenthuͤmlichen und natur-
gemaͤßen Formen im Keim entſtellt und zerſtoͤrt worden:
Rom haͤtte Revolutionen erlebt die nur vernichten, aus
denen nur als aus einer Gaͤhrung ein fremdartiges Neues
entſtehen kann. Gluͤck war es ebenfalls und Weisheit zu-
gleich daß die Conſtitution des Servius ſeinem tyranni-
ſchen Nachfolger theils ſchon zu maͤchtig war als daß
er ſie bis in die Form zu vernichten haͤtte wagen koͤn-
nen: theils den allgemeinen Zwecken des Staats, der
Macht und Groͤße zu guͤnſtig als daß ein kluger Fuͤrſt,
wie es Tarquinius unlaͤugbar war, haͤtte wuͤnſchen koͤn-
nen ſie mit ſchwaͤchenden Einrichtungen wieder zu ver-
tauſchen.

Es iſt ein uͤberraſchendes Gluͤck daß eine Nachricht
uͤber die urſpruͤngliche Einrichtung der Tribus des Koͤnigs
Servius, welche durch die Verfaͤlſchung der folgenden
Geſchichte den Spaͤteren unverſtaͤndlich und unglaublich
geworden iſt, aber alle Zuͤge der Wahrheit hat, wenn
man uͤber jene Verfaͤlſchung nicht blind ſeyn will, ſich in
zwey verſchiedenen, genau harmonirenden Zeugniſſen er-
halten hat.

Livius meldet nur von den vier Tribus, worin Ser-
vius das Volk der Stadt eintheilte, ohne der laͤndlichen
zu gedenken, von denen durch die Aelteren Zahlen angege-
ben wurden, deren Widerſtreit mit den Angaben aus der
Zeit der Republik denen er im Fortgang ſeines Werks
folgte ihm unaufloͤßlich geſchienen haben muß. Schon
Cato, wenn Sigonius den hoͤchſt verderbten Text des Dio-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0276" n="254"/>
no&#x017F;&#x017F;en hat, durchlebt werden mußten. Widernatu&#x0364;rlich<lb/>
zu&#x017F;ammengepreßt wa&#x0364;ren die eigenthu&#x0364;mlichen und natur-<lb/>
gema&#x0364;ßen Formen im Keim ent&#x017F;tellt und zer&#x017F;to&#x0364;rt worden:<lb/>
Rom ha&#x0364;tte Revolutionen erlebt die nur vernichten, aus<lb/>
denen nur als aus einer Ga&#x0364;hrung ein fremdartiges Neues<lb/>
ent&#x017F;tehen kann. Glu&#x0364;ck war es ebenfalls und Weisheit zu-<lb/>
gleich daß die Con&#x017F;titution des Servius &#x017F;einem tyranni-<lb/>
&#x017F;chen Nachfolger theils &#x017F;chon zu ma&#x0364;chtig war als daß<lb/>
er &#x017F;ie bis in die Form zu vernichten ha&#x0364;tte wagen ko&#x0364;n-<lb/>
nen: theils den allgemeinen Zwecken des Staats, der<lb/>
Macht und Gro&#x0364;ße zu gu&#x0364;n&#x017F;tig als daß ein kluger Fu&#x0364;r&#x017F;t,<lb/>
wie es Tarquinius unla&#x0364;ugbar war, ha&#x0364;tte wu&#x0364;n&#x017F;chen ko&#x0364;n-<lb/>
nen &#x017F;ie mit &#x017F;chwa&#x0364;chenden Einrichtungen wieder zu ver-<lb/>
tau&#x017F;chen.</p><lb/>
          <p>Es i&#x017F;t ein u&#x0364;berra&#x017F;chendes Glu&#x0364;ck daß eine Nachricht<lb/>
u&#x0364;ber die ur&#x017F;pru&#x0364;ngliche Einrichtung der Tribus des Ko&#x0364;nigs<lb/>
Servius, welche durch die Verfa&#x0364;l&#x017F;chung der folgenden<lb/>
Ge&#x017F;chichte den Spa&#x0364;teren unver&#x017F;ta&#x0364;ndlich und unglaublich<lb/>
geworden i&#x017F;t, aber alle Zu&#x0364;ge der Wahrheit hat, wenn<lb/>
man u&#x0364;ber jene Verfa&#x0364;l&#x017F;chung nicht blind &#x017F;eyn will, &#x017F;ich in<lb/>
zwey ver&#x017F;chiedenen, genau harmonirenden Zeugni&#x017F;&#x017F;en er-<lb/>
halten hat.</p><lb/>
          <p>Livius meldet nur von den vier Tribus, worin Ser-<lb/>
vius das Volk der Stadt eintheilte, ohne der la&#x0364;ndlichen<lb/>
zu gedenken, von denen durch die Aelteren Zahlen angege-<lb/>
ben wurden, deren Wider&#x017F;treit mit den Angaben aus der<lb/>
Zeit der Republik denen er im Fortgang &#x017F;eines Werks<lb/>
folgte ihm unauflo&#x0364;ßlich ge&#x017F;chienen haben muß. Schon<lb/>
Cato, wenn Sigonius den ho&#x0364;ch&#x017F;t verderbten Text des Dio-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[254/0276] noſſen hat, durchlebt werden mußten. Widernatuͤrlich zuſammengepreßt waͤren die eigenthuͤmlichen und natur- gemaͤßen Formen im Keim entſtellt und zerſtoͤrt worden: Rom haͤtte Revolutionen erlebt die nur vernichten, aus denen nur als aus einer Gaͤhrung ein fremdartiges Neues entſtehen kann. Gluͤck war es ebenfalls und Weisheit zu- gleich daß die Conſtitution des Servius ſeinem tyranni- ſchen Nachfolger theils ſchon zu maͤchtig war als daß er ſie bis in die Form zu vernichten haͤtte wagen koͤn- nen: theils den allgemeinen Zwecken des Staats, der Macht und Groͤße zu guͤnſtig als daß ein kluger Fuͤrſt, wie es Tarquinius unlaͤugbar war, haͤtte wuͤnſchen koͤn- nen ſie mit ſchwaͤchenden Einrichtungen wieder zu ver- tauſchen. Es iſt ein uͤberraſchendes Gluͤck daß eine Nachricht uͤber die urſpruͤngliche Einrichtung der Tribus des Koͤnigs Servius, welche durch die Verfaͤlſchung der folgenden Geſchichte den Spaͤteren unverſtaͤndlich und unglaublich geworden iſt, aber alle Zuͤge der Wahrheit hat, wenn man uͤber jene Verfaͤlſchung nicht blind ſeyn will, ſich in zwey verſchiedenen, genau harmonirenden Zeugniſſen er- halten hat. Livius meldet nur von den vier Tribus, worin Ser- vius das Volk der Stadt eintheilte, ohne der laͤndlichen zu gedenken, von denen durch die Aelteren Zahlen angege- ben wurden, deren Widerſtreit mit den Angaben aus der Zeit der Republik denen er im Fortgang ſeines Werks folgte ihm unaufloͤßlich geſchienen haben muß. Schon Cato, wenn Sigonius den hoͤchſt verderbten Text des Dio-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811/276
Zitationshilfe: Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811/276>, abgerufen am 22.11.2024.