Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 3. Berlin u. a., 1776.

Bild:
<< vorherige Seite



dem Falle des kleinen Stroms, der über glatte Kie-
sel herabrieselte, und indem er sich ausbreitete, den
grünenden Wiesengrund, zu Entsprossung neuer Blu-
men befeuchtete.

Mit diesen anmuthsreichen Phantasien verband sie
auch Betrachtungen über ihren gegenwärtigen Zu-
stand. Sie sahe ein, es sey ihr unmöglich, noch
einen Winter in diesem Hause zuzubringen, gleich-
wohl sahe sie auch kein Mittel, wie sie auf eine an-
ständige Art, ihre Lage verändern könnte. Sie
schien sich einzeln, von aller Welt verlaßen zu seyn,
besonders, nachdem sie auf einen Brief an Hierony-
mus
schon seit ein paar Monaten keine Antwort er-
halten hatte, vermuthlich weil er nicht zu handen ge-
kommen war. Da nunmehr ihre Liebe zu Säuglingen
sich ihrer ganzen Seele bemächtigte, und sich das
Verlangen, auch von seinen Gesinnungen gegen sie
unterrichtet zu seyn, in ihre innersten Gedanken ein-
flocht; so entschloß sie sich endlich, nach vielein ver-
geblichen Zaudern, ihm, nach Wesel, wohin sie
wußte, daß er mit Rambolden hatte reisen sollen,
ihren Aufenthalt zu melden.

Der Entwurf dieses Briefs kostete verschiedene
Tage, denn sie hatte sich fest vorgenommen, alle
Merkmale der Liebe daraus wegzuwischen, und blos

als



dem Falle des kleinen Stroms, der uͤber glatte Kie-
ſel herabrieſelte, und indem er ſich ausbreitete, den
gruͤnenden Wieſengrund, zu Entſproſſung neuer Blu-
men befeuchtete.

Mit dieſen anmuthsreichen Phantaſien verband ſie
auch Betrachtungen uͤber ihren gegenwaͤrtigen Zu-
ſtand. Sie ſahe ein, es ſey ihr unmoͤglich, noch
einen Winter in dieſem Hauſe zuzubringen, gleich-
wohl ſahe ſie auch kein Mittel, wie ſie auf eine an-
ſtaͤndige Art, ihre Lage veraͤndern koͤnnte. Sie
ſchien ſich einzeln, von aller Welt verlaßen zu ſeyn,
beſonders, nachdem ſie auf einen Brief an Hierony-
mus
ſchon ſeit ein paar Monaten keine Antwort er-
halten hatte, vermuthlich weil er nicht zu handen ge-
kommen war. Da nunmehr ihre Liebe zu Saͤuglingen
ſich ihrer ganzen Seele bemaͤchtigte, und ſich das
Verlangen, auch von ſeinen Geſinnungen gegen ſie
unterrichtet zu ſeyn, in ihre innerſten Gedanken ein-
flocht; ſo entſchloß ſie ſich endlich, nach vielein ver-
geblichen Zaudern, ihm, nach Weſel, wohin ſie
wußte, daß er mit Rambolden hatte reiſen ſollen,
ihren Aufenthalt zu melden.

Der Entwurf dieſes Briefs koſtete verſchiedene
Tage, denn ſie hatte ſich feſt vorgenommen, alle
Merkmale der Liebe daraus wegzuwiſchen, und blos

als
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0119" n="109[108]"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
dem Falle des kleinen Stroms, der u&#x0364;ber glatte Kie-<lb/>
&#x017F;el herabrie&#x017F;elte, und indem er &#x017F;ich ausbreitete, den<lb/>
gru&#x0364;nenden Wie&#x017F;engrund, zu Ent&#x017F;pro&#x017F;&#x017F;ung neuer Blu-<lb/>
men befeuchtete.</p><lb/>
          <p>Mit die&#x017F;en anmuthsreichen Phanta&#x017F;ien verband &#x017F;ie<lb/>
auch Betrachtungen u&#x0364;ber ihren gegenwa&#x0364;rtigen Zu-<lb/>
&#x017F;tand. Sie &#x017F;ahe ein, es &#x017F;ey ihr unmo&#x0364;glich, noch<lb/>
einen Winter in die&#x017F;em Hau&#x017F;e zuzubringen, gleich-<lb/>
wohl &#x017F;ahe &#x017F;ie auch kein Mittel, wie &#x017F;ie auf eine an-<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;ndige Art, ihre Lage vera&#x0364;ndern ko&#x0364;nnte. Sie<lb/>
&#x017F;chien &#x017F;ich einzeln, von aller Welt verlaßen zu &#x017F;eyn,<lb/>
be&#x017F;onders, nachdem &#x017F;ie auf einen Brief an <hi rendition="#fr">Hierony-<lb/>
mus</hi> &#x017F;chon &#x017F;eit ein paar Monaten keine Antwort er-<lb/>
halten hatte, vermuthlich weil er nicht zu handen ge-<lb/>
kommen war. Da nunmehr ihre Liebe zu <hi rendition="#fr">Sa&#x0364;uglingen</hi><lb/>
&#x017F;ich ihrer ganzen Seele bema&#x0364;chtigte, und &#x017F;ich das<lb/>
Verlangen, auch von &#x017F;einen Ge&#x017F;innungen gegen &#x017F;ie<lb/>
unterrichtet zu &#x017F;eyn, in ihre inner&#x017F;ten Gedanken ein-<lb/>
flocht; &#x017F;o ent&#x017F;chloß &#x017F;ie &#x017F;ich endlich, nach vielein ver-<lb/>
geblichen Zaudern, ihm, nach We&#x017F;el, wohin &#x017F;ie<lb/>
wußte, daß er mit <hi rendition="#fr">Rambolden</hi> hatte rei&#x017F;en &#x017F;ollen,<lb/>
ihren Aufenthalt zu melden.</p><lb/>
          <p>Der Entwurf die&#x017F;es Briefs ko&#x017F;tete ver&#x017F;chiedene<lb/>
Tage, denn &#x017F;ie hatte &#x017F;ich fe&#x017F;t vorgenommen, alle<lb/>
Merkmale der Liebe daraus wegzuwi&#x017F;chen, und blos<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">als</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[109[108]/0119] dem Falle des kleinen Stroms, der uͤber glatte Kie- ſel herabrieſelte, und indem er ſich ausbreitete, den gruͤnenden Wieſengrund, zu Entſproſſung neuer Blu- men befeuchtete. Mit dieſen anmuthsreichen Phantaſien verband ſie auch Betrachtungen uͤber ihren gegenwaͤrtigen Zu- ſtand. Sie ſahe ein, es ſey ihr unmoͤglich, noch einen Winter in dieſem Hauſe zuzubringen, gleich- wohl ſahe ſie auch kein Mittel, wie ſie auf eine an- ſtaͤndige Art, ihre Lage veraͤndern koͤnnte. Sie ſchien ſich einzeln, von aller Welt verlaßen zu ſeyn, beſonders, nachdem ſie auf einen Brief an Hierony- mus ſchon ſeit ein paar Monaten keine Antwort er- halten hatte, vermuthlich weil er nicht zu handen ge- kommen war. Da nunmehr ihre Liebe zu Saͤuglingen ſich ihrer ganzen Seele bemaͤchtigte, und ſich das Verlangen, auch von ſeinen Geſinnungen gegen ſie unterrichtet zu ſeyn, in ihre innerſten Gedanken ein- flocht; ſo entſchloß ſie ſich endlich, nach vielein ver- geblichen Zaudern, ihm, nach Weſel, wohin ſie wußte, daß er mit Rambolden hatte reiſen ſollen, ihren Aufenthalt zu melden. Der Entwurf dieſes Briefs koſtete verſchiedene Tage, denn ſie hatte ſich feſt vorgenommen, alle Merkmale der Liebe daraus wegzuwiſchen, und blos als

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker03_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker03_1776/119
Zitationshilfe: Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 3. Berlin u. a., 1776, S. 109[108]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker03_1776/119>, abgerufen am 24.11.2024.