"ein Mensch seinen Nebenmenschen mit kaltem Blute "anfallen und berauben könnte.'
,Ach mein lieber Bruder, die arme menschliche Na- "tur ist ganz verderbt. Wenn wir nicht durch die "Gnade ergriffen werden, so sind wir in grundlosem "unerforschlichem tiefem Verderbnisse.'
,Ey, mein Freund, von den Lastern einiger Böse- "wichter kann man nicht auf die Natur der Menschen "überhaupt schließen. Wir sind von Natur nicht ge- "neigt, wie die wilden Thiere, uns anzufallen, sondern "in Gesellschaft zu leben, und uns zu unterstützen.'
,Ach wir armen Menschen! wie könnten wir uns "unterstützen, wenn uns die Gnade nicht unterstützte, "wie könnten wir etwas gutes wirken, wenn es die "alleinwirkende Gnade nicht wirkte.'
,Freylich! wir haben alles durch die göttliche Gnade. "Aber die Gnade wirkt nicht wie der Keil auf den "Klotz. Gott hat die Kräfte zum Guten in uns selbst "gelegt. Er hat uns Verstand und Willen, Nei- "gungen und Leidenschaften gegeben. Er will, daß "wir thätig seyn sollen, so viel gutes zu thun, als "uns möglich ist. Er hat Würde und Güte in die "menschliche Natur gelegt.'
,O welch ein Selbstbetrug, mein lieber Bruder! "rief der Fremde mit einem tiefen Seufzer aus: Wenn
"wir
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”ein Menſch ſeinen Nebenmenſchen mit kaltem Blute ”anfallen und berauben koͤnnte.‛
‚Ach mein lieber Bruder, die arme menſchliche Na- ”tur iſt ganz verderbt. Wenn wir nicht durch die ”Gnade ergriffen werden, ſo ſind wir in grundloſem ”unerforſchlichem tiefem Verderbniſſe.‛
‚Ey, mein Freund, von den Laſtern einiger Boͤſe- ”wichter kann man nicht auf die Natur der Menſchen ”uͤberhaupt ſchließen. Wir ſind von Natur nicht ge- ”neigt, wie die wilden Thiere, uns anzufallen, ſondern ”in Geſellſchaft zu leben, und uns zu unterſtuͤtzen.‛
‚Ach wir armen Menſchen! wie koͤnnten wir uns ”unterſtuͤtzen, wenn uns die Gnade nicht unterſtuͤtzte, ”wie koͤnnten wir etwas gutes wirken, wenn es die ”alleinwirkende Gnade nicht wirkte.‛
‚Freylich! wir haben alles durch die goͤttliche Gnade. ”Aber die Gnade wirkt nicht wie der Keil auf den ”Klotz. Gott hat die Kraͤfte zum Guten in uns ſelbſt ”gelegt. Er hat uns Verſtand und Willen, Nei- ”gungen und Leidenſchaften gegeben. Er will, daß ”wir thaͤtig ſeyn ſollen, ſo viel gutes zu thun, als ”uns moͤglich iſt. Er hat Wuͤrde und Guͤte in die ”menſchliche Natur gelegt.‛
‚O welch ein Selbſtbetrug, mein lieber Bruder! ”rief der Fremde mit einem tiefen Seufzer aus: Wenn
”wir
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”ein Menſch ſeinen Nebenmenſchen mit kaltem Blute
”anfallen und berauben koͤnnte.‛
‚Ach mein lieber Bruder, die arme menſchliche Na-
”tur iſt ganz verderbt. Wenn wir nicht durch die
”Gnade ergriffen werden, ſo ſind wir in grundloſem
”unerforſchlichem tiefem Verderbniſſe.‛
‚Ey, mein Freund, von den Laſtern einiger Boͤſe-
”wichter kann man nicht auf die Natur der Menſchen
”uͤberhaupt ſchließen. Wir ſind von Natur nicht ge-
”neigt, wie die wilden Thiere, uns anzufallen, ſondern
”in Geſellſchaft zu leben, und uns zu unterſtuͤtzen.‛
‚Ach wir armen Menſchen! wie koͤnnten wir uns
”unterſtuͤtzen, wenn uns die Gnade nicht unterſtuͤtzte,
”wie koͤnnten wir etwas gutes wirken, wenn es die
”alleinwirkende Gnade nicht wirkte.‛
‚Freylich! wir haben alles durch die goͤttliche Gnade.
”Aber die Gnade wirkt nicht wie der Keil auf den
”Klotz. Gott hat die Kraͤfte zum Guten in uns ſelbſt
”gelegt. Er hat uns Verſtand und Willen, Nei-
”gungen und Leidenſchaften gegeben. Er will, daß
”wir thaͤtig ſeyn ſollen, ſo viel gutes zu thun, als
”uns moͤglich iſt. Er hat Wuͤrde und Guͤte in die
”menſchliche Natur gelegt.‛
‚O welch ein Selbſtbetrug, mein lieber Bruder!
”rief der Fremde mit einem tiefen Seufzer aus: Wenn
”wir
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Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 2. Berlin u. a., 1775, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker02_1775/9>, abgerufen am 05.07.2024.
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