Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 1. Berlin u. a., 1773."und unsere ganze Familie unglücklich zu machen. "Der Tod fürs Vaterland ist der Vorwand unsers "Unglücks; wollte Gott, ich könnte ihn sterben diesen "Tod! Doch ich würde achten, daß ich fürs Vater- "land gestorben wäre, wenn unser Unglück von einer "empsindsamen Seele nacherzählt, unsere Geistlichen "warnen, könte, wegen Verschiedenheit der Lehre "nicht die bittere Feindschafft aufeinander zu werfen, "die die eigentliche Ursach unsers Unglücks ist. Mei- "ne Absicht war gut. Mich und unsere Feinde richte "der allmächtige Gott, der das innerste der Herzen "kennet. Lebe wohl, meine liebe Tochter, lebe so, "wie dich deine Aeltern gelehret haben, tugendhaft und "unsträflich. Gott gebe, daß du deinen Bruder noch "einmahl glücklich wieder sehest. Jsts möglich, so un- "terstütze deinen alten Vater, so lange er lebt. Gott "sey dein Erhalter! Seiner Vorsorge empfele ich dich, "denn leider von Menschen bist du verlaßen! Umar- "me mich! -- Hier entrannen zwo Thränen ihren sich brechenden Augen, deren jedes nicht mehr Feuch- tigkeit in sich zu halten schien, als nur eine einzige Thräne. Mariane küßte sie auf, und drükte ihren Mund auf den Mund ihrer Mutter, deren Haupt in diesem Augenblick sanft auf ihre linke Schulter sank, und die matten Hände glitten ab, die sie eben um
„und unſere ganze Familie ungluͤcklich zu machen. „Der Tod fuͤrs Vaterland iſt der Vorwand unſers „Ungluͤcks; wollte Gott, ich koͤnnte ihn ſterben dieſen „Tod! Doch ich wuͤrde achten, daß ich fuͤrs Vater- „land geſtorben waͤre, wenn unſer Ungluͤck von einer „empſindſamen Seele nacherzaͤhlt, unſere Geiſtlichen „warnen, koͤnte, wegen Verſchiedenheit der Lehre „nicht die bittere Feindſchafft aufeinander zu werfen, „die die eigentliche Urſach unſers Ungluͤcks iſt. Mei- „ne Abſicht war gut. Mich und unſere Feinde richte „der allmaͤchtige Gott, der das innerſte der Herzen „kennet. Lebe wohl, meine liebe Tochter, lebe ſo, „wie dich deine Aeltern gelehret haben, tugendhaft und „unſtraͤflich. Gott gebe, daß du deinen Bruder noch „einmahl gluͤcklich wieder ſeheſt. Jſts moͤglich, ſo un- „terſtuͤtze deinen alten Vater, ſo lange er lebt. Gott „ſey dein Erhalter! Seiner Vorſorge empfele ich dich, „denn leider von Menſchen biſt du verlaßen! Umar- „me mich! — Hier entrannen zwo Thraͤnen ihren ſich brechenden Augen, deren jedes nicht mehr Feuch- tigkeit in ſich zu halten ſchien, als nur eine einzige Thraͤne. Mariane kuͤßte ſie auf, und druͤkte ihren Mund auf den Mund ihrer Mutter, deren Haupt in dieſem Augenblick ſanft auf ihre linke Schulter ſank, und die matten Haͤnde glitten ab, die ſie eben um
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0088" n="66"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> „und unſere ganze Familie ungluͤcklich zu machen.<lb/> „<hi rendition="#fr">Der Tod fuͤrs Vaterland</hi> iſt der Vorwand unſers<lb/> „Ungluͤcks; wollte Gott, ich koͤnnte ihn ſterben dieſen<lb/> „Tod! Doch ich wuͤrde achten, daß ich fuͤrs Vater-<lb/> „land geſtorben waͤre, wenn unſer Ungluͤck von einer<lb/> „empſindſamen Seele nacherzaͤhlt, unſere Geiſtlichen<lb/> „warnen, koͤnte, wegen Verſchiedenheit der Lehre<lb/> „nicht die bittere Feindſchafft aufeinander zu werfen,<lb/> „die die eigentliche Urſach unſers Ungluͤcks iſt. Mei-<lb/> „ne Abſicht war gut. Mich und unſere Feinde richte<lb/> „der allmaͤchtige Gott, der das innerſte der Herzen<lb/> „kennet. Lebe wohl, meine liebe Tochter, lebe ſo,<lb/> „wie dich deine Aeltern gelehret haben, tugendhaft und<lb/> „unſtraͤflich. Gott gebe, daß du deinen Bruder noch<lb/> „einmahl gluͤcklich wieder ſeheſt. Jſts moͤglich, ſo un-<lb/> „terſtuͤtze deinen alten Vater, ſo lange er lebt. Gott<lb/> „ſey dein Erhalter! Seiner Vorſorge empfele ich dich,<lb/> „denn leider von Menſchen biſt du verlaßen! Umar-<lb/> „me mich! — Hier entrannen zwo Thraͤnen ihren<lb/> ſich brechenden Augen, deren jedes nicht mehr Feuch-<lb/> tigkeit in ſich zu halten ſchien, als nur eine einzige<lb/> Thraͤne. <hi rendition="#fr">Mariane</hi> kuͤßte ſie auf, und druͤkte ihren<lb/> Mund auf den Mund ihrer Mutter, deren Haupt<lb/> in dieſem Augenblick ſanft auf ihre linke Schulter<lb/> ſank, und die matten Haͤnde glitten ab, die ſie eben<lb/> <fw place="bottom" type="catch">um</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [66/0088]
„und unſere ganze Familie ungluͤcklich zu machen.
„Der Tod fuͤrs Vaterland iſt der Vorwand unſers
„Ungluͤcks; wollte Gott, ich koͤnnte ihn ſterben dieſen
„Tod! Doch ich wuͤrde achten, daß ich fuͤrs Vater-
„land geſtorben waͤre, wenn unſer Ungluͤck von einer
„empſindſamen Seele nacherzaͤhlt, unſere Geiſtlichen
„warnen, koͤnte, wegen Verſchiedenheit der Lehre
„nicht die bittere Feindſchafft aufeinander zu werfen,
„die die eigentliche Urſach unſers Ungluͤcks iſt. Mei-
„ne Abſicht war gut. Mich und unſere Feinde richte
„der allmaͤchtige Gott, der das innerſte der Herzen
„kennet. Lebe wohl, meine liebe Tochter, lebe ſo,
„wie dich deine Aeltern gelehret haben, tugendhaft und
„unſtraͤflich. Gott gebe, daß du deinen Bruder noch
„einmahl gluͤcklich wieder ſeheſt. Jſts moͤglich, ſo un-
„terſtuͤtze deinen alten Vater, ſo lange er lebt. Gott
„ſey dein Erhalter! Seiner Vorſorge empfele ich dich,
„denn leider von Menſchen biſt du verlaßen! Umar-
„me mich! — Hier entrannen zwo Thraͤnen ihren
ſich brechenden Augen, deren jedes nicht mehr Feuch-
tigkeit in ſich zu halten ſchien, als nur eine einzige
Thraͤne. Mariane kuͤßte ſie auf, und druͤkte ihren
Mund auf den Mund ihrer Mutter, deren Haupt
in dieſem Augenblick ſanft auf ihre linke Schulter
ſank, und die matten Haͤnde glitten ab, die ſie eben
um
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker01_1773 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker01_1773/88 |
Zitationshilfe: | Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 1. Berlin u. a., 1773, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker01_1773/88>, abgerufen am 22.07.2024. |