können, in der reinen Wiedergabe der Thatsachen sogar ihre ganze Aufgabe zu sehen, wenn nicht schon Wissenschaft dazu gehörte, haltbare Thatsachen zu gewinnen? Und dasselbe er- weist sich in der ursprünglichen Bildung unserer alltäglichsten Wahrnehmungen, d. i. primitiven Urteile über Thatsachen. Auch diese kommen, wie durch die grossen sinnesphysiologischen Forschungen des letzten Jahrhunderts mehr und mehr auch im besonderen bekannt geworden ist, nicht zu stande ohne ein dem naturwissenschaftlichen Experimentieren analoges Verfahren, welches durchweg schon unter der Leitung des Grundprinzips gesetzmässiger Uebereinstimmung, unter der Leitung des Ursach- gesetzes steht. Nachdem sie so zu stande gekommen und durch lange Uebung befestigt sind, erscheinen die Thatsachen der Wahrnehmung freilich wie fertig gegeben. Wir brauchen jetzt nur die Augen aufzuschlagen, so steht sogleich eine Welt von Thatsachen wie aus dem Nichts gezaubert vor uns. Und doch ging unser Wahrnehmen aus von einem Stande, da wir nicht einen Punkt fixieren, nicht eine Linie verfolgen konnten; wo war da diese ganze Welt von Thatsachen? Hat die Antwort Sinn: diese Thatsachen alle seien damals schon unsrer Wahr- nehmung gegeben gewesen, nur noch nicht zu Begriff gebracht? Wenn man nicht unter Wahrnehmung etwa Nervenprozesse versteht, wenn darin irgend etwas von Bewusstsein, von Er- kenntnis gedacht wird, so ist das eine gedankenlose Rede.
Aber etwas, wird man sagen, musste doch gegeben sein, wenn es zur Erkenntnis irgendwelcher Thatsache je kommen sollte. -- Das sagt verständlicherweise nur: die Erkenntnis (Erfahrung) musste von irgend einem Punkte beginnen, um von da aus schrittweis weiter zu kommen. Die bereits ge- wonnene Erkenntnis ist für die erst zu gewinnende, als Vor- aussetzung zu dieser, gegeben; ein vor aller Erkenntnis der Erkenntnis Gegebenes hat dagegen keinen verständlichen Sinn.
Mit allem Recht verlangt man die Bewahrheitung jedes allgemeinen Satzes der Erkenntnis an den Thatsachen; was wird denn aus dieser Bewahrheitung, wenn die Thatsachen nichts unabhängig von der Erkenntnis Gegebenes sind? -- Wir antworten: es wird daraus die Bewährung der ver-
können, in der reinen Wiedergabe der Thatsachen sogar ihre ganze Aufgabe zu sehen, wenn nicht schon Wissenschaft dazu gehörte, haltbare Thatsachen zu gewinnen? Und dasselbe er- weist sich in der ursprünglichen Bildung unserer alltäglichsten Wahrnehmungen, d. i. primitiven Urteile über Thatsachen. Auch diese kommen, wie durch die grossen sinnesphysiologischen Forschungen des letzten Jahrhunderts mehr und mehr auch im besonderen bekannt geworden ist, nicht zu stande ohne ein dem naturwissenschaftlichen Experimentieren analoges Verfahren, welches durchweg schon unter der Leitung des Grundprinzips gesetzmässiger Uebereinstimmung, unter der Leitung des Ursach- gesetzes steht. Nachdem sie so zu stande gekommen und durch lange Uebung befestigt sind, erscheinen die Thatsachen der Wahrnehmung freilich wie fertig gegeben. Wir brauchen jetzt nur die Augen aufzuschlagen, so steht sogleich eine Welt von Thatsachen wie aus dem Nichts gezaubert vor uns. Und doch ging unser Wahrnehmen aus von einem Stande, da wir nicht einen Punkt fixieren, nicht eine Linie verfolgen konnten; wo war da diese ganze Welt von Thatsachen? Hat die Antwort Sinn: diese Thatsachen alle seien damals schon unsrer Wahr- nehmung gegeben gewesen, nur noch nicht zu Begriff gebracht? Wenn man nicht unter Wahrnehmung etwa Nervenprozesse versteht, wenn darin irgend etwas von Bewusstsein, von Er- kenntnis gedacht wird, so ist das eine gedankenlose Rede.
Aber etwas, wird man sagen, musste doch gegeben sein, wenn es zur Erkenntnis irgendwelcher Thatsache je kommen sollte. — Das sagt verständlicherweise nur: die Erkenntnis (Erfahrung) musste von irgend einem Punkte beginnen, um von da aus schrittweis weiter zu kommen. Die bereits ge- wonnene Erkenntnis ist für die erst zu gewinnende, als Vor- aussetzung zu dieser, gegeben; ein vor aller Erkenntnis der Erkenntnis Gegebenes hat dagegen keinen verständlichen Sinn.
Mit allem Recht verlangt man die Bewahrheitung jedes allgemeinen Satzes der Erkenntnis an den Thatsachen; was wird denn aus dieser Bewahrheitung, wenn die Thatsachen nichts unabhängig von der Erkenntnis Gegebenes sind? — Wir antworten: es wird daraus die Bewährung der ver-
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können, in der reinen Wiedergabe der Thatsachen sogar ihre
ganze Aufgabe zu sehen, wenn nicht schon Wissenschaft dazu
gehörte, haltbare Thatsachen zu gewinnen? Und dasselbe er-
weist sich in der ursprünglichen Bildung unserer alltäglichsten
Wahrnehmungen, d. i. primitiven Urteile über Thatsachen.
Auch diese kommen, wie durch die grossen sinnesphysiologischen
Forschungen des letzten Jahrhunderts mehr und mehr auch im
besonderen bekannt geworden ist, nicht zu stande ohne ein dem
naturwissenschaftlichen Experimentieren analoges Verfahren,
welches durchweg schon unter der Leitung des Grundprinzips
gesetzmässiger Uebereinstimmung, unter der Leitung des Ursach-
gesetzes steht. Nachdem sie so zu stande gekommen und durch
lange Uebung befestigt sind, erscheinen die Thatsachen der
Wahrnehmung freilich wie fertig gegeben. Wir brauchen jetzt
nur die Augen aufzuschlagen, so steht sogleich eine Welt von
Thatsachen wie aus dem Nichts gezaubert vor uns. Und doch
ging unser Wahrnehmen aus von einem Stande, da wir nicht
einen Punkt fixieren, nicht eine Linie verfolgen konnten; wo
war da diese ganze Welt von Thatsachen? Hat die Antwort
Sinn: diese Thatsachen alle seien damals schon unsrer Wahr-
nehmung gegeben gewesen, nur noch nicht zu Begriff gebracht?
Wenn man nicht unter Wahrnehmung etwa Nervenprozesse
versteht, wenn darin irgend etwas von Bewusstsein, von Er-
kenntnis gedacht wird, so ist das eine gedankenlose Rede.
Aber etwas, wird man sagen, musste doch gegeben sein,
wenn es zur Erkenntnis irgendwelcher Thatsache je kommen
sollte. — Das sagt verständlicherweise nur: die Erkenntnis
(Erfahrung) musste von irgend einem Punkte beginnen, um
von da aus schrittweis weiter zu kommen. Die bereits ge-
wonnene Erkenntnis ist für die erst zu gewinnende, als Vor-
aussetzung zu dieser, gegeben; ein vor aller Erkenntnis der
Erkenntnis Gegebenes hat dagegen keinen verständlichen Sinn.
Mit allem Recht verlangt man die Bewahrheitung jedes
allgemeinen Satzes der Erkenntnis an den Thatsachen; was
wird denn aus dieser Bewahrheitung, wenn die Thatsachen
nichts unabhängig von der Erkenntnis Gegebenes sind?
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/44>, abgerufen am 25.11.2024.
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