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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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ständnis möglich ist ohne religiöse Ueberzeugung; dass das
erstere von jedem normal Gebildeten erwartet und in einigem
Maasse auch verlangt werden kann, das letztere nicht. Daraus
ergiebt sich die Forderung eines "undogmatischen" Religions-
unterrichts jedenfalls für die öffentliche und allgemeine Er-
ziehung, neben welcher, so lange die patria potestas im bis-
herigen Sinne in der Erziehung gilt, eine, sei es ganz private
oder korporative religiöse Erziehung im Sinne der einzelnen
Bekenntnisse allerdings nicht ausgeschlossen werden kann. Auf
dem Boden des Verständnisses ist Gemeinsamkeit möglich und
wird immer möglich bleiben, auf dem Boden der Ueberzeugung
ist sie zur Zeit ausgeschlossen; das allein müsste in unserm
Sinne entscheiden, da die Gemeinsamkeit eine zu wesentliche
Bedingung nationaler Erziehung ist, um je wieder aufgegeben
werden zu können, selbst wenn dadurch (was ich nicht zugebe)
eine erträglichere Lösung der religiösen Frage ermöglicht würde*).

Dass auch das Tiefste der Religion, die Erlösungslehre,
dem nicht religiös Ueberzeugten dennoch verständlich sein
kann, dafür genügt es, sich auf die Wirkungen der gewaltigen
künstlerischen Darstellungen, etwa der Matthäuspassion oder
der H-moll-Messe Bachs zu berufen. Das ist aus den tiefsten
Tiefen des religiösen Gemüts geschöpft, wie wohl nicht leicht
einer wird leugnen wollen, und doch ergreift es den nicht
religiös Ueberzeugten mit nicht geringerer Gewalt; jede innerste
Regung des Gemüts, die da zu so überzeugender Aussprache
kommt, durch ihre Vermittlung aber schliesslich auch die ge-
dankliche Fassung, wird ihm verständlich. Der Schluss liegt
doch nahe genug: also muss wohl gerade dieser tiefste Gehalt
der Religion rein menschlich, und er muss unabhängig sein von
einer dogmatischen oder überhaupt irgend welcher Ueberzeu-
gung, die auf eine andre Wirklichkeit als die des innersten
Gemütslebens des Menschen selbst sich bezöge. Wollte man
sich doch entschliessen auf diesen unerschütterlichen Grund

*) Dies entscheidet auch gegen Dörpfeld's "Familienprinzip", dessen ernste
Schwierigkeiten übrigens der ehrliche Mann selber mehr hervorgekehrt als
verdeckt hat. Vgl. die Abhandlung "Dörpfelds Fundamentstück" (Deutsche
Schule, II. Jahrg. S. 9--26).

ständnis möglich ist ohne religiöse Ueberzeugung; dass das
erstere von jedem normal Gebildeten erwartet und in einigem
Maasse auch verlangt werden kann, das letztere nicht. Daraus
ergiebt sich die Forderung eines „undogmatischen“ Religions-
unterrichts jedenfalls für die öffentliche und allgemeine Er-
ziehung, neben welcher, so lange die patria potestas im bis-
herigen Sinne in der Erziehung gilt, eine, sei es ganz private
oder korporative religiöse Erziehung im Sinne der einzelnen
Bekenntnisse allerdings nicht ausgeschlossen werden kann. Auf
dem Boden des Verständnisses ist Gemeinsamkeit möglich und
wird immer möglich bleiben, auf dem Boden der Ueberzeugung
ist sie zur Zeit ausgeschlossen; das allein müsste in unserm
Sinne entscheiden, da die Gemeinsamkeit eine zu wesentliche
Bedingung nationaler Erziehung ist, um je wieder aufgegeben
werden zu können, selbst wenn dadurch (was ich nicht zugebe)
eine erträglichere Lösung der religiösen Frage ermöglicht würde*).

Dass auch das Tiefste der Religion, die Erlösungslehre,
dem nicht religiös Ueberzeugten dennoch verständlich sein
kann, dafür genügt es, sich auf die Wirkungen der gewaltigen
künstlerischen Darstellungen, etwa der Matthäuspassion oder
der H-moll-Messe Bachs zu berufen. Das ist aus den tiefsten
Tiefen des religiösen Gemüts geschöpft, wie wohl nicht leicht
einer wird leugnen wollen, und doch ergreift es den nicht
religiös Ueberzeugten mit nicht geringerer Gewalt; jede innerste
Regung des Gemüts, die da zu so überzeugender Aussprache
kommt, durch ihre Vermittlung aber schliesslich auch die ge-
dankliche Fassung, wird ihm verständlich. Der Schluss liegt
doch nahe genug: also muss wohl gerade dieser tiefste Gehalt
der Religion rein menschlich, und er muss unabhängig sein von
einer dogmatischen oder überhaupt irgend welcher Ueberzeu-
gung, die auf eine andre Wirklichkeit als die des innersten
Gemütslebens des Menschen selbst sich bezöge. Wollte man
sich doch entschliessen auf diesen unerschütterlichen Grund

*) Dies entscheidet auch gegen Dörpfeld’s „Familienprinzip“, dessen ernste
Schwierigkeiten übrigens der ehrliche Mann selber mehr hervorgekehrt als
verdeckt hat. Vgl. die Abhandlung „Dörpfelds Fundamentstück“ (Deutsche
Schule, II. Jahrg. S. 9—26).
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[349/0365] ständnis möglich ist ohne religiöse Ueberzeugung; dass das erstere von jedem normal Gebildeten erwartet und in einigem Maasse auch verlangt werden kann, das letztere nicht. Daraus ergiebt sich die Forderung eines „undogmatischen“ Religions- unterrichts jedenfalls für die öffentliche und allgemeine Er- ziehung, neben welcher, so lange die patria potestas im bis- herigen Sinne in der Erziehung gilt, eine, sei es ganz private oder korporative religiöse Erziehung im Sinne der einzelnen Bekenntnisse allerdings nicht ausgeschlossen werden kann. Auf dem Boden des Verständnisses ist Gemeinsamkeit möglich und wird immer möglich bleiben, auf dem Boden der Ueberzeugung ist sie zur Zeit ausgeschlossen; das allein müsste in unserm Sinne entscheiden, da die Gemeinsamkeit eine zu wesentliche Bedingung nationaler Erziehung ist, um je wieder aufgegeben werden zu können, selbst wenn dadurch (was ich nicht zugebe) eine erträglichere Lösung der religiösen Frage ermöglicht würde *). Dass auch das Tiefste der Religion, die Erlösungslehre, dem nicht religiös Ueberzeugten dennoch verständlich sein kann, dafür genügt es, sich auf die Wirkungen der gewaltigen künstlerischen Darstellungen, etwa der Matthäuspassion oder der H-moll-Messe Bachs zu berufen. Das ist aus den tiefsten Tiefen des religiösen Gemüts geschöpft, wie wohl nicht leicht einer wird leugnen wollen, und doch ergreift es den nicht religiös Ueberzeugten mit nicht geringerer Gewalt; jede innerste Regung des Gemüts, die da zu so überzeugender Aussprache kommt, durch ihre Vermittlung aber schliesslich auch die ge- dankliche Fassung, wird ihm verständlich. Der Schluss liegt doch nahe genug: also muss wohl gerade dieser tiefste Gehalt der Religion rein menschlich, und er muss unabhängig sein von einer dogmatischen oder überhaupt irgend welcher Ueberzeu- gung, die auf eine andre Wirklichkeit als die des innersten Gemütslebens des Menschen selbst sich bezöge. Wollte man sich doch entschliessen auf diesen unerschütterlichen Grund *) Dies entscheidet auch gegen Dörpfeld’s „Familienprinzip“, dessen ernste Schwierigkeiten übrigens der ehrliche Mann selber mehr hervorgekehrt als verdeckt hat. Vgl. die Abhandlung „Dörpfelds Fundamentstück“ (Deutsche Schule, II. Jahrg. S. 9—26).

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 349. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/365>, abgerufen am 02.05.2024.