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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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Sinne, bei Strafe ewiger Verwerfung, unmittelbar dahinter steht.
Diese Forderung freilich muss den Konflikt, insofern er über-
haupt ernst genommen wird, bis zum kaum Erträglichen ver-
schärfen und droht dann die seelische Entwicklung ganz
aus dem Geleise zu bringen. Die Aufrichtigkeit wird
dadurch untergraben, indem eine für ewig bindende Entscheidung
vor erlangter Reife erzwungen und die ganze Skala der Ge-
mütserschütterungen von tiefster Zerknirschung bis zur über-
schwänglichsten Erhebung der jugendlich biegsamen Seele
zugemutet, ja aufgedrängt wird. Und wiederum muss die
offenbare Unnatur und schliesslich Unwahrheit solcher Zu-
mutung den, der sich in eigentlich gesunder Reaktion dagegen
wehrt, dann fast unvermeidlich dahin bringen, sich des ganzen
Ernstes der Frage lieber zu entschlagen, oder mit ein paar
leichten Rührungen und noch weniger ernsten Gelübden sich
äusserlich mit ihm abzufinden, um dann entweder die öde Heuchelei
lebenslang fortzusetzen, wie es doch leider recht viele fertig
bringen, oder bald, von Ekel über sich selbst und über dies
ganze Spiel erfasst, der Religion ganz und auf immer den
Rücken zu wenden. Es muss wohl überaus schwer sein für den
Religiösen, sich darein zu finden, dass das, was ihm als sein
Heiligstes bewusst ist, einem Andern verständlich sein kann,
ohne zugleich überzeugend zu sein; sonst wäre es gerade
vom Standpunkt der Religion selbst
schier unbegreiflich,
dass man diese Art, Religion als notwendig anzunehmende
Ueberzeugung und nicht bloss Gegenstand gemütlicher Aneig-
nung dem Kinde von 12--14 Jahren mit allen Mitteln psycho-
logischen Zwanges aufzudrängen, ja ganz eigentlich zu sugge-
rieren, noch immer nicht bloss nicht bedenklich findet, sondern
für hochnötig, wohl gar für die einzige Rettung der gesunkenen
Menschheit hält, so dass ein aufrichtiger Kampf dagegen schon
als Friedensbruch, als Aufforderung zum geistigen Umsturz
empfunden wird. Allein wenigstens die Pädagogik hat schon
längst gegen solches Verfahren unerschrocken ihre Stimme er-
hoben, und sie muss es unermüdlich immer von neuem thun.
Es fordert nichts weiter als Ehrlichkeit gegenüber der
thatsächlichen Lage
, auzuerkennen, dass religiöses Ver-

Sinne, bei Strafe ewiger Verwerfung, unmittelbar dahinter steht.
Diese Forderung freilich muss den Konflikt, insofern er über-
haupt ernst genommen wird, bis zum kaum Erträglichen ver-
schärfen und droht dann die seelische Entwicklung ganz
aus dem Geleise zu bringen. Die Aufrichtigkeit wird
dadurch untergraben, indem eine für ewig bindende Entscheidung
vor erlangter Reife erzwungen und die ganze Skala der Ge-
mütserschütterungen von tiefster Zerknirschung bis zur über-
schwänglichsten Erhebung der jugendlich biegsamen Seele
zugemutet, ja aufgedrängt wird. Und wiederum muss die
offenbare Unnatur und schliesslich Unwahrheit solcher Zu-
mutung den, der sich in eigentlich gesunder Reaktion dagegen
wehrt, dann fast unvermeidlich dahin bringen, sich des ganzen
Ernstes der Frage lieber zu entschlagen, oder mit ein paar
leichten Rührungen und noch weniger ernsten Gelübden sich
äusserlich mit ihm abzufinden, um dann entweder die öde Heuchelei
lebenslang fortzusetzen, wie es doch leider recht viele fertig
bringen, oder bald, von Ekel über sich selbst und über dies
ganze Spiel erfasst, der Religion ganz und auf immer den
Rücken zu wenden. Es muss wohl überaus schwer sein für den
Religiösen, sich darein zu finden, dass das, was ihm als sein
Heiligstes bewusst ist, einem Andern verständlich sein kann,
ohne zugleich überzeugend zu sein; sonst wäre es gerade
vom Standpunkt der Religion selbst
schier unbegreiflich,
dass man diese Art, Religion als notwendig anzunehmende
Ueberzeugung und nicht bloss Gegenstand gemütlicher Aneig-
nung dem Kinde von 12—14 Jahren mit allen Mitteln psycho-
logischen Zwanges aufzudrängen, ja ganz eigentlich zu sugge-
rieren, noch immer nicht bloss nicht bedenklich findet, sondern
für hochnötig, wohl gar für die einzige Rettung der gesunkenen
Menschheit hält, so dass ein aufrichtiger Kampf dagegen schon
als Friedensbruch, als Aufforderung zum geistigen Umsturz
empfunden wird. Allein wenigstens die Pädagogik hat schon
längst gegen solches Verfahren unerschrocken ihre Stimme er-
hoben, und sie muss es unermüdlich immer von neuem thun.
Es fordert nichts weiter als Ehrlichkeit gegenüber der
thatsächlichen Lage
, auzuerkennen, dass religiöses Ver-

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[348/0364] Sinne, bei Strafe ewiger Verwerfung, unmittelbar dahinter steht. Diese Forderung freilich muss den Konflikt, insofern er über- haupt ernst genommen wird, bis zum kaum Erträglichen ver- schärfen und droht dann die seelische Entwicklung ganz aus dem Geleise zu bringen. Die Aufrichtigkeit wird dadurch untergraben, indem eine für ewig bindende Entscheidung vor erlangter Reife erzwungen und die ganze Skala der Ge- mütserschütterungen von tiefster Zerknirschung bis zur über- schwänglichsten Erhebung der jugendlich biegsamen Seele zugemutet, ja aufgedrängt wird. Und wiederum muss die offenbare Unnatur und schliesslich Unwahrheit solcher Zu- mutung den, der sich in eigentlich gesunder Reaktion dagegen wehrt, dann fast unvermeidlich dahin bringen, sich des ganzen Ernstes der Frage lieber zu entschlagen, oder mit ein paar leichten Rührungen und noch weniger ernsten Gelübden sich äusserlich mit ihm abzufinden, um dann entweder die öde Heuchelei lebenslang fortzusetzen, wie es doch leider recht viele fertig bringen, oder bald, von Ekel über sich selbst und über dies ganze Spiel erfasst, der Religion ganz und auf immer den Rücken zu wenden. Es muss wohl überaus schwer sein für den Religiösen, sich darein zu finden, dass das, was ihm als sein Heiligstes bewusst ist, einem Andern verständlich sein kann, ohne zugleich überzeugend zu sein; sonst wäre es gerade vom Standpunkt der Religion selbst schier unbegreiflich, dass man diese Art, Religion als notwendig anzunehmende Ueberzeugung und nicht bloss Gegenstand gemütlicher Aneig- nung dem Kinde von 12—14 Jahren mit allen Mitteln psycho- logischen Zwanges aufzudrängen, ja ganz eigentlich zu sugge- rieren, noch immer nicht bloss nicht bedenklich findet, sondern für hochnötig, wohl gar für die einzige Rettung der gesunkenen Menschheit hält, so dass ein aufrichtiger Kampf dagegen schon als Friedensbruch, als Aufforderung zum geistigen Umsturz empfunden wird. Allein wenigstens die Pädagogik hat schon längst gegen solches Verfahren unerschrocken ihre Stimme er- hoben, und sie muss es unermüdlich immer von neuem thun. Es fordert nichts weiter als Ehrlichkeit gegenüber der thatsächlichen Lage, auzuerkennen, dass religiöses Ver-

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 348. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/364>, abgerufen am 02.05.2024.